Journal of Prehospital Emergency Medicine
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Der Fall
Der Notarzt wird vormittags unter dem Stichwort „Plötzliche Bewusstlosigkeit“ in eine größere Wohnung gerufen. Die bereits anwesenden Rettungsassistenten präsentieren eine auf ihrem Bett liegende bewusstlose 63-jährige Frau. Die gemessenen Vitalparameter: Blutdruck (100/50), Herzfrequenz (74/min) und die pulsoxymetrische Sättigung (98 %) ohne Sauerstoffzufuhr normal.
Auf Schmerzreiz gäbe es diskrete Schmerzmimik im Gesicht, Öffnen der Augen und seitenentsprechende Abwehr des Schmerzreizes mit den Armen. Verbale Äußerungen wurden nicht vernommen.
Der Ehemann der Patienten berichtet auf die Fragen des Notarztes, seine Frau hätte vor etwa einer Stunde geklagt, sie fühle sich „komisch“ und schlapp, wenig später sei sie sehr schläfrig und dann schließlich nicht mehr ansprechbar geworden. Daraufhin habe er den Rettungsdienst alarmiert. Bei der körperlichen Untersuchung kann der Notarzt keine pathologischen Befunde außer der Bewusstseinstrübung erheben. Nach Legen eines Zugangs, Gabe von Vollelektrolytlösung und der fraktionierten Gabe von Naloxon, das jedoch keinen Effekt hat, wird die Frau auf die Trage umgelagert. Dabei erbricht sie einmalig mit nachfolgend heftigem Husten. Die völlig unveränderte Sättigung und ein unveränderter Auskultationsbefund machen eine Aspiration eher unwahrscheinlich, sodass auf eine Intubation verzichtet wird. Anschließend wird die Patientin in die Intensivstation einer nahegelegenen Klinik transportiert.
Dort findet sich in einer venösen Blutgasanalyse ein leicht erhöhtes pCO2 von 49 mmHg, alle anderen Laborbefunde und die Vitalparameter sind normal. Unter dem Verdacht einer Vergiftung wird ein „Tox-Screening“ veranlasst und bei fehlenden Fokalzeichen ein cCT zunächst zurückgestellt. Etwa 90 Minuten nach Aufnahme wird die Patientin deutlich wacher und beantwortet einfache Fragen mit Kopfschütteln bzw. Kopfnicken. Verbale Äußerungen auf türkisch werden nicht verstanden. Etwa 4 Stunden nach Aufnahme kann die inzwischen wache Patientin mit Übersetzung ihrer Tochter berichten, dass sie sich möglicherweise beim Austeilen der Medikamente für verschiedene Familienmitglieder „vertan“ habe. Ihre Tochter müsse morgens Clozapin und Fluvoxamin einnehmen, sie selbst hingegen nähme Vitamin D3 und L-Thyroxin.
Die kurz nach diesen Ausführungen eintreffenden Ergebnisse der toxikologischen Analytik bestätigen diese Vermutung: Clozapin im Blut der Patientin 161 ng/ml (mittlere therapeutische Konzentration bei regelmäßiger Einnahme), alle weiteren untersuchten Noxen waren ohne pathologisches Ergebnis.
Das psychiatrische Konsil am Tag nach Aufnahme ergibt, dass die Patientin die „Stütze“ der Familie sei und keine psychiatrischen Auffälligkeiten zu erkennen sind. Mit der Empfehlung der Organisation einer ambulanten Hauspflege, die beim Vorbereiten der Medikamente Hilfe leisten könne, wird die Patientin wieder nach Hause entlassen.
Ursachen
Clozapin, ein trizyklisches Dibenzodiazepinderivat, wird in der Behandlung der Schizophrenie eingesetzt. Wegen der im Vergleich zu klassischen Neuroleptika (z. B. Haloperidol) geringeren extrapyramidalen und anticholinergen Nebenwirkungen wird es als atypisches Neuroleptikum bezeichnet. Die blockierenden Effekte auf Dopaminrezeptoren sind nur gering, auf α-adrenerge, anticholinerge und antihistaminerge Rezeptoren wirkt es hingegen stark.
Da Clozapin selten zu Granulozytopenie und Agranulozytose führen kann, ist seine Verordnung an regelmäßige Blutbildkontrollen gebunden.
Nach oraler Aufnahme wird es zu 90 – 95 % resorbiert, das Konzentrationsmaximum wird nach etwa 2 Stunden erreicht. Das Verteilungsvolumen beträgt 1,6 l/kg und die Substanz ist zu 95 % an Plasmaproteine gebunden.
Unter Mitwirkung von Cytochrom P450 (1A2, 2C19, 2D6, 3A4) wird der Benzodiazepinring des Clozapin demethyliert und hydroxyliert, danach erfolgt die Konjugation an Glukuronsäure und an Sulfat. Da die CYP1A2-Expression durch polyzyklische Kohlenwasserstoffe im Tabakrauch gesteigert wird, kann die Beendigung des Rauchens zu einer verminderten CYP1A2-Aktivität und damit zur geringeren Metabolisierung von Clozapin (ergo verstärkte Wirkungen) führen. Auch Fluvoxamin (CYP1A2-Hemmer), Erythromycin (CYP3A4-Hemmer), Ciprofloxacin (CYP1A2-Hemmer), Risperidon (CYP2D6-Substrat) und Coffein (CYP1A2-Substrat) können die Plasmakonzentration von Clozapin erhöhen.
Die biphasisch verlaufende Elimination (Niere, Faeces) der zuvor fast vollständig metabolisierten Muttersubstanz zeigt eine terminale Eliminationshalbwertszeit von ca. 12 Stunden (6 – 26 Stunden). Nach repetitiver Einnahme verlängert sich die Eliminationshalbwertszeit auf etwa 14 Stunden.
Leitsymptome
Clozapin bewirkt Blutdruckabfall, Tachykardie, Schläfrigkeit, Schwindel, selten Kreislaufkollaps, Herzstillstand und/oder Atemstillstand. Anticholinerge Effekte wie Harnretention, Obstipation und Veränderung der Pupillomotorik wurden berichtet. Bei nicht vorbehandelten Erwachsenen führte die einmalige Einnahme einer Dosis von nur 400 mg Clozapin zu lebensbedrohlichen komatösen Zuständen und in einem Fall zum Tod. Bei Kleinkindern wurde nach einmaligen (akzidentellen) Dosen von 50 – 200 mg starke Sedierung und Koma beobachtet.
Therapie
Kann der Notarzt keine eindeutige Ursache der Bewusstseinstrübung feststellen, sind symptomatische Maßnahmen, abhängig von der Schwere der Vitalgefährdung angezeigt.
Besonderheiten
Die rasche Entwicklung der Bewusstseinsänderung im vorliegenden Fall hatte den Notarzt zwar an eine Vergiftung denken lassen. Die Symptomatik passte jedoch nicht zu den von der Patientin regelmäßig eingenommenen Medikamenten (L-Thyroxin, Vitamin D3). An eine Medikamentenverwechslung hatte er nicht gedacht. Dies wurde letztlich erst durch die Vermutung der Patientin und durch die toxikologische Analyse evident. Wie in dem geschilderten Fall, können auch Fehldosierungen oder die unabsichtliche Einnahme von Substanzen zu durchaus vital bedrohlichen Krankheitszuständen führen.
Priv.-Doz. Dr. Frank Martens
Aus: Der Notarzt 6/14