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Begleitung traumatisierter Frauen während der Geburt
Oft ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, dass eine Frau aufgrund eines früheren Erlebens traumatisiert ist. Weil ein früheres Trauma weitreichende Folgen haben kann, sollten Hebammen die Möglichkeiten kennen, diese Frauen gut und sicher durch die Geburt zu leiten.
Bei einem Trauma handelt es sich um ein einschneidendes, die Existenz eines Menschen bedrohendes Ereignis. Ob etwas als Trauma erinnert wird oder nicht, ist ein subjektives Erleben. Entscheidend ist, ob und welche Strategien der Person zur Bewältigung zur Verfügung stehen und dass diese genutzt werden können. Wer sich in einem solchen Moment als hilflos und ohnmächtig empfindet, sieht keine Handlungsmöglichkeiten. Dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass das Geschehen als Trauma erinnert wird. Ein weiteres Kriterium entsprechend dieser Definition ist das, was infolge des Ereignisses passiert: Die veränderte Sicht der Person auf sich selbst und auf die Welt. Viele Betroffene beschreiben das sehr passend mit dem Satz: „Danach war nichts mehr so wie vorher!“
Ursachen
Die Ursachen für Traumata sind vielfältig:
- Sexualisierte oder körperliche Gewalt: Jede dritte Frau hat seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche Gewalt erfahren, jede fünfte Frau körperliche und/oder sexualisierte Gewalt innerhalb einer Partnerschaft.
- 5% der Frauen sind seit dem 15. Lebensjahr vergewaltigt worden und jede dritte Frau hat in der Kindheit körperliche und/oder sexualisierte Gewalt erfahren.
- Schwere Erkrankungen, Unfälle, medizinische Eingriffe
- Traumatische Geburtserlebnisse: Sowohl die Geburt als auch notwendige Interventionen oder die Betreuung der Hebammen und Geburtshelfenden können hier verursachend sein. Schätzungen gehen davon aus, dass 1,5 – 6% der Mütter postpartal Symptome einer PTBS entwickeln.
- Kindesvernachlässigung und -misshandlung
- Kriege, Vertreibung, Folter
- Weibliche genitale Verstümmelung (FGM)
- Verlust einer Bezugsperson, insbesondere eines Elternteils im Kindesalter
- Miterleben von Gewalt als Zeugin (Kind, Partnerin, Angehörige von helfenden/pflegenden Berufen)
- Naturkatastrophen
- Konfrontation mit Traumafolgen als Helferin (stellvertretendes Trauma)
In der 1993 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten „Erklärung über die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“ wird insbesondere ¬geschlechtsspezifische Gewalt definiert. Demnach ist Gewalt gegen Frauen „jede gegen Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit gerichtete Gewalthandlung, durch die Frauen körperlicher, sexueller oder psychologischer Schaden oder Leid zugefügt wird oder werden kann, einschließlich der Androhung derartiger Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsberaubung, sowohl im öffentlichen als auch im privaten ¬Bereich“.
Anzeichen erkennen
Wie lässt sich erkennen, ob eine Gebärende an Traumafolgen leidet? Eine Möglichkeit besteht darin, im Rahmen der Anamnese nach belastenden Ereignissen zu fragen.
Gewalt als häufige Ursache von Traumata hat deutliche Auswirkungen auf die Frauengesundheit, auf das Erleben von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft. Dennoch werden Frauen nicht regelmäßig danach ¬gefragt. Dabei zeigen Untersuchungen, dass Frauen durchaus darauf angesprochen werden möchten: Nicht-Betroffene fühlen sich dadurch nicht beeinträchtigt, ¬Betroffene hätten andernfalls vielleicht nicht den Mut, das Erlebte von sich aus zu thematisieren. Es ist also nicht die Frage ob, sondern wie und wann nach Gewalterfahrungen gefragt wird.
Vielleicht ergibt sich nicht im ersten Gespräch eine Möglichkeit dazu, vielleicht bietet sich erst ein späterer Termin dafür an. In einem vertraulichen Setting, bei einem Gespräch auf Augenhöhe – und das ist wörtlich zu verstehen – könnte die Hebamme zum Beispiel folgendermaßen ins Thema einsteigen:
„Wir wissen, dass viele Frauen Gewalt erlebt haben und dass dies Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann. Ist Ihnen schon einmal etwas gegen Ihren Willen angetan worden? Oder sind Sie schon einmal gezwungen worden, etwas zu tun, was Sie nicht wollten?“
Selbst, wenn sie diese Frage nicht beantwortet, spürt die betroffene Frau, dass es möglich ist, von ihren Erfahrungen zu berichten: Statt Tabuisierung ist Offenheit möglich. Wenn sie die Frage positiv beantwortet, gibt dies eine Grundlage für weitere Unterstützung. Eine weitere mögliche Frage ist, ob die Frau Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten kennt, ob es sich um ein aktuelles oder früheres Erleben handelt. Und es kann erfragt werden, ob es etwas gibt, auf das im Rahmen der Hebammenarbeit ¬besonders geachtet werden sollte. Nicht selten können Frauen mitteilen, was für sie hilfreich ist oder was auf sie verschlimmernd wirkt.
Neben den im offenen Gespräch erfragten Informationen können weitere Anzeichen auf Belastungen hindeuten:
- fortlaufende emotionale Probleme wie Stress, Angst oder Depression
- schädigende Verhaltensweisen wie Missbrauch von Alkohol oder Drogen
- Gedanken, Pläne oder Taten von Selbstverletzung oder (versuchtem) Suizid
- Verletzungen, die sich wiederholen oder nicht überzeugend erklärt sind
- wiederholtes Auftreten sexuell übertragbarer Infektionen
- ungewollte Schwangerschaften
Einige psychische Erkrankungen werden im Zusammenhang mit Gewalt und Trauma gesehen, z.B. das Auftreten von (postpartalen) Depressionen, die Borderline Persönlichkeitsstörung oder Ess- und Angststörungen. Infolge von Traumata können selbstschädigende Verhaltensweisen beobachtet werden wie Alkohol-, Medikamenten-, Nikotin- oder Drogenkonsum. Auch Selbstverletzungen sind möglich, z.B. Schnittverletzungen.
Unterstützung durch Hebammen
Jede Frau sollte so unterstützt werden, als hätte sie traumatische Erlebnisse gemacht. Denn es kann niemals sicher gesagt werden, welche Erfahrungen jemand in der Vergangenheit überlebt hat, auch nicht durch gezieltes Nachfragen. Andererseits profitiert jede Gebärende von einer traumasensiblen Arbeitsweise.
Traumasensibel meint in diesem Sinne nicht eine spezielle Methode oder Technik. Zunächst einmal ist darunter ein Verständnis für die Folgen von verletzenden Erfahrungen und die Fähigkeit zu verstehen, diese Auswirkungen auf den Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft zu übertragen. Ziel der Hebamme sollte es sein, der Gebärenden zu fördernden Gegenerfahrungen zu verhelfen – Unterstützung statt Gewalt, Selbstwirksamkeit statt Ohnmacht und Hilflosigkeit, Selbstbestimmung, Stabilität und Autonomie statt Kontrollverlust.
Unterstützung für Hebammen
Die Begleitung von traumatisierten Menschen ist eine wichtige, aber anstrengende Tätigkeit, die hohe Anforderungen an Hebammen stellt. Diese Arbeit kann sehr bereichernd sein, aber sie birgt auch Risiken. Es gibt eine „natürliche, vorhersehbare, behandelbar und verhinderbare unerwünschte Folge der Arbeit mit leidenden Menschen“. So kann es passieren, dass Symptome auftauchen, die denen einer PTBS entsprechen. Um gesund zu bleiben, ist es notwendig, dass Hebammen lernen, für sich selbst genauso Sorge zu tragen wie für ihre Patientinnen. Dafür brauchen sie entsprechende Arbeits- und Rahmenbedingungen. Die Möglichkeit zu Fortbildung, kollegialer Beratung und Supervision sind unabdingbar, genauso wie ein Dienstplan, der Pausen, einen pünktlichen Feierabend und eine vernünftige Freizeitgestaltung zulässt.
Hebammen sind achtsam ihren Patientinnen gegenüber, die gleiche achtsame Wahrnehmung sollten sie für sich pflegen. Es kann passieren, dass sie selbst merken, wie sie den Kontakt zum Hier und Jetzt verlieren. Dann wird es auch ihnen helfen, sich mit allen Sinnen zu reorientieren, den Boden unter den Füßen zu spüren, Geräusche wahrzunehmen und sich visuelle Reize bewusst zu machen.
Hebammen müssen lernen, sich abzugrenzen, um langfristig für ihre Patientinnen eine empathische Unterstützung bieten zu können. Ihre Aufgabe ist die fachliche Unterstützung als Hebamme, die sensibel für Auswirkungen und Dynamiken von Traumata ist. Nicht mehr und nicht weniger. Für jegliche weitere Unterstützung gibt es Fachberatungsstellen, an die Frauen weitervermittelt werden können.
Lesen Sie hier den gesamten Beitrag: Begleitung traumatisierter Frauen während der Geburt
Aus der Zeitschrift Die Hebamme 03/2017

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