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Gemeinsam aktiv werden
Kinästhetik kann Patienten in ihrer Bewegungswahrnehmung unterstützen und somit in ihrer Bewegung fördern, was auch den Arbeitsalltag von Pflegenden erleichtern kann. Im ersten Teil unserer neuen Serie über Kinästhetik steht das Aktivierungsritual zur Bewegungsanbahnung im Mittelpunkt.
Wenn wir in Kinästhetikkursen fragen, welche Vorerfahrungen oder Kenntnisse über die Methode bei den Teilnehmern bestehen, werden als Antwort häufig Begriffe wie „rückenschonende Arbeit“ oder „Handgriffe bei Transfers“ genannt. Tatsächlich sind Pflegende in Kinästhetikkursen häufig auf der Suche nach Möglichkeiten, sich die oft schwere und anstrengende Arbeit mit Patienten zu erleichtern – und sollten diese im besten Fall auch finden. Darin das primäre Ziel von Kinästhetik zu sehen oder es gar als solches an Pflegende zu verkaufen, wäre jedoch zu kurz gedacht und würde den vielfältigen Möglichkeiten der Methode nicht Rechnung tragen. Wir möchten in unserer Arbeit dazu beitragen, Pflegenden ein Verständnis von Bewegung zu vermitteln, das nicht nur darauf abzielt, eigene Gesundheit zu erhalten. Vielmehr soll es vorrangig auch um die Frage gehen, wie Patienten (ob Kinder oder Erwachsene) in ihrer Bewegung unterstützt und gefördert werden können.
Was ist Kinästhetik?
Kinästhetik als methodisches Konzept wurde Mitte der 1970er-Jahre von den US-Amerikanern Frank Hatch und Lenny Maietta entwickelt, indem sie ihre Erkenntnisse aus der Verhaltenskybernetik, der humanistischen Psychologie, der Säuglingsforschung sowie unterschiedlicher bewegungs- und körpertherapeutischer Ansätze miteinander verknüpften. Kinästhetik wird als die Lehre von der Bewegungswahrnehmung, genauer: der Bewegung und der wiederum aus der Bewegung entstehenden (Selbst-)Wahrnehmung beschrieben und fand seit Mitte der 1980er-Jahre Einzug in verschiedene Bereiche der Gesundheitsberufe.
Eine Grundannahme von Kinästhetik ist, dass der Mensch Gesundheit aus seiner Fähigkeit entwickelt, sich zu bewegen und seine Bewegungsfähigkeiten basierend auf Erfahrungen stetig zu verfeinern und anzupassen (Social Tracking). Als ein vorrangiges Ziel möchte Kinästhetik helfen, diese sensomotorischen Fähigkeiten stetig zu verbessern, die die Grundlage unserer (Selbst-)Wahrnehmung, unserer Fähigkeit zur Interaktion sowie unserer Kognition und Emotion bilden und somit den Prozess lebenslangen Lernens aufrechterhalten.
Ausgehend von Annahmen der Verhaltenskybernetik über Social Tracking als Prinzip des Führens und Folgens in sozialen Systemen und der Körperpädagogik, dass sensomotorische Fähigkeiten im Bewegungs- und Handlungsdialog gezielt unterstützt und entwickelt werden können, möchte Kinästhetik die Interaktion zwischen Pflegekraft und Patient ins Gleichgewicht bringen.
Unterschiedliche Anforderungen
Jeder Mensch macht bereits vorgeburtliche Bewegungserfahrungen im Mutterleib, die im Fruchtwasser als Bewegungsumgebung leichtfallen. Nach der Geburt muss das neugeborene Kind seine Bewegung ohne dieses tragende Medium allein im Schwerkraftfeld organisieren, was ungleich schwerer fällt, da es mehr Anstrengung erfordert. Daher brauchen Frühgeborene, Neugeborene und Säuglinge die Unterstützung von Erwachsenen. Um genau diese Form bewegungsfördernden Handlings leisten zu können, sollten Pflegende im Infant Handling geschult sein. Die Herausforderung in der Arbeit mit diesen kleinsten Patienten liegt also nicht in deren bloßem Eigengewicht. Bewegungsmuster anzubieten, die dem Verlauf der physiologischen Bewegungsentwicklung entsprechen und diese unterstützen, sollte hier im Vordergrund stehen. Diese Bewegungsmuster sind beim Kind bis zum 2. Lebensjahr andere als bei älteren Kindern oder Erwachsenen.
Bei Letzteren ist die Bewegungsinteraktion zwischen Patienten und Pflegenden oft geprägt von einseitiger Überlastung. Einerseits zulasten der Pflegenden, die in ihrem Bestreben zu helfen mehr Last auf sich nehmen als nötig, indem sie heben und tragen. Andererseits zulasten des Patienten, der dadurch behindert wird, selbst adäquate Bewegungsmuster (wieder) zu erlernen und seine Körpergewichte selbst zu organisieren. Erfolgt der Kontakt in unterstützender und förderlicher Weise, kann der Patient sich in seiner Umgebung als selbstwirksam erleben. Körperliche Funktionen werden aufrechterhalten (beispielsweise Atmung, Verdauung, Herz-/Kreislauffunktion) und über das regulatorische Moment von Bewegung letztlich die Teilnahme- und Teilhabefähigkeit erhöht.
Die Reduzierung der körperlichen Belastung kann die Beziehung von Pflegekraft und Patient erheblich unterstützen. Weiß die Pflegekraft um die zugrundeliegenden Bewegungsmuster und hat sich die Fähigkeit zur Ablauforganisation als methodische Kompetenz aneignen können, wird sie auch in „schweren Fällen“ (also unabhängig vom Gewicht, bei Patienten mit starken Bewegungseinschränkungen) handlungsfähig sein und sich als kompetent empfinden können. Im besten Fall wird sie den Begriff der „Mobilisation“ neu verstehen. Weg von der Hilfsmittelmobilität hin zur Körpermobilität, die eine tatsächliche Aktivierung des Menschen bedeutet.
Es geht also um die Suche nach Bewegungsökonomie. Pflegende können in Kinästhetikkursen lernen, sich ihrer eigenen Bewegung bewusst zu werden, ihre Anpassungsfähigkeit und damit auch ihre Interaktionsfähigkeit zu verbessern. Dabei sollen sie Körperkontakt in angemessener Weise herstellen, gezielte Bewegungsimpulse geben und sie achtsam wahrnehmen können und dabei Umgebungsfaktoren beachten, die sich auf das Interaktionsgeschehen auswirken. Durch ein kraftökonomisches Wechselspiel von Anspannung und Entspannung, Be- und Entlastung, Einbeziehen des gesamten Körpers in Bewegungsmuster, die seiner Form und seinen funktionalen Möglichkeiten entsprechen, kommt es zu einer erleichterten Bewegungskontrolle bei den Interaktionspartnern. Der Bewegungsablauf kann in ein gemeinsames Gleichgewicht kommen.
Als Arbeitsgruppe, die sich mit Kinästhetik bei Erwachsenen sowie im Infant Handling befasst, steht bei uns gemäß den Qualitätsansprüchen der Deutschen Gesellschaft für Kinästhetik und Kommunikation e. V. der Patient, ob klein oder groß, im Fokus des Geschehens. Wir möchten mit diesem und nachfolgenden Artikeln zeigen, wie Bewegungsgrundlagen, die in Kursen erlernt werden, gleichermaßen bei Erwachsenen und Kindern zum praktischen Einsatz kommen. Dabei möchten wir verdeutlichen, dass immer eine individuelle Umsetzung während der Bewegungsinteraktion erfolgt, die nicht mit dem Anwenden pauschaler Handgriffe zu vergleichen oder zu erreichen ist. Wichtiger als das Erlernen rein methodischer Handling-Kompetenzen ist also, ein grundlegendes Verständnis von Bewegung zu bekommen, das dann kreativ umgesetzt wird. Im Vordergrund steht so immer der Spaß an gemeinsamer Bewegung.
Lesen Sie hier den gesamten Beitrag: Gemeinsam aktiv werden
Aus der Zeitschrift JuKiP 02/2016

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