Das neue Denkmodell in der Physiotherapie
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Ein Studienergebnis und viele neue Fragen: Patienten mit einer schmerzhaften Schulterpathologie haben oft deutliche Defizite in der Gleichgewichtsfähigkeit. Das hat Physiotherapeut Tobias Baierle in seiner Studie bestätigt. In physiopraxis spricht er über die möglichen Ursachen dieses Defizits, darüber, wie er mit den Patienten trainiert und warum er jetzt mit Kritik an Studien deutlich vorsichtiger ist als früher.
Tobias, wie bist du auf die Idee gekommen, mit Patienten mit Schulterbeschwerden verstärkt das Gleichgewicht zu trainieren?
Vor ein paar Jahren war ich in England und habe bei der Physiotherapeutin Anju Jaggi hospitiert, einer international anerkannten Schulterexpertin. Sie arbeitete mit ihren Patienten sehr viel auf dem Trampolin und machte Gleichgewichtsübungen. Das hat mich überrascht, denn zu dieser Zeit habe ich mit solchen Patienten immer schwerpunktmäßig an der Skapula und dem Glenohumeralgelenk gearbeitet. In der internationalen Literatur steht schon lange, dass für eine gute Schulterfunktion auch die Rumpfstabilität gewährleistet sein muss und dass Rumpf, Beine, Schulterblatt und Arm gut zusammenspielen müssen. Klar: Ein Großteil der Kraftübertragung für die Schulter und damit für den Arm kommt ja aus dem restlichen Körper. Ich hatte bis dahin aber noch nie einen Therapeuten kennengelernt, der dieses Wissen um die Wichtigkeit der Gesamtstabilität dermaßen konsequent in seiner Therapie umgesetzt hat. Anju hat bei vielen ihrer Patienten die Schulter gar nicht angefasst, sondern überwiegend Gleichgewichtstraining gemacht.
Hast du daraufhin deine Therapie verändert?
Nach der Hospitation habe ich verstärkt auf die Gleichgewichtsfähigkeit meiner Schulterpatienten geachtet. Sehr viele hatten da tatsächlich ein Problem, konnten also beispielsweise keinen Einbeinstand. Ich behandelte mal einen Tennisprofi, der war in der Top Ten der Weltrangliste. Er hatte eine instabile Schulter – und konnte nicht stabil auf einem Bein stehen. Das war beeindruckend.
Wie beeinflusst Gleichgewichtstraining die Beschwerden der Patienten?
Bei vielen Patienten werden die Schulterfunktion und die Schmerzen durch Gleichgewichtstraining sehr schnell besser. Vielleicht werden die Schmerzen aber auch besser, weil gleichzeitig die restlichen Funktionen besser werden. Denn ich korrigiere bei den Übungen ja auch den Arm, beispielsweise in mehr Außenrotation. Man verbessert dadurch also nicht nur das Gleichgewicht, sondern immer den gesamten Bewegungsablauf.
Kommen wir zu deiner Masterarbeit: Wie kamst du auf das Thema?
In allen Büchern steht, dass für eine gute Schulterfunktion alles wichtig ist – Gleichgewicht, Propriozeption, Rumpfkoordination und so weiter. Aber es gab nirgendwo eine Studie, die bewiesen hat, dass Patienten mit Schulterproblemen tatsächlich eine schlechtere Rumpfstabilität oder ein schlechteres Gleichgewicht haben. Natürlich war theoretisch logisch, dass es so sein muss, aber in der Physiotherapie ist ja vieles scheinbar klar und logisch, ohne dass es jemals jemand beweisen konnte.
Was war die größte Schwierigkeit bei deiner Studie?
Die größte Schwierigkeit ist gleichzeitig die Stärke meiner Studie: 40 Patienten zu finden, die ausschließlich eine über vier Monate anhaltende, schmerzhafte Schulterpathologie haben und ansonsten gesund sind. Dafür musste ich insgesamt 740 Patienten mit Schulterbeschwerden screenen. Außerdem war es sehr schwer, genügend Probanden für eine alters- und geschlechtsentsprechende Kontrollgruppe zu finden, die überhaupt keine Probleme haben.
Was genau ist nun schuld an dem Gleichgewichtsdefizit?
Zu Beginn der Studie dachte ich, es ist sonnenklar, dass die Schmerzen der Grund dafür sind. Das hat mir von meinen Studienbetreuern viel Kritik eingebracht, denn die sagten: „Da ist gar nichts klar. Selbst bei Rückenschmerzen, wo es unzählige Studien gibt, ist noch nicht eindeutig belegt, dass der Schmerz am Gleichgewichtsdefizit schuld ist.“ Nach meiner Studie kann ich nun tatsächlich „nur“ sagen: Ja, Patienten mit einer schmerzhaften Schulterpathologie haben ein schlechteres Gleichgewicht als Gesunde. Ich kann nicht eindeutig sagen, warum.
Was hätte es gebraucht, damit der Zusammenhang Schmerz und Gleichgewichtsdefizit „belegt“ gewesen wäre?
Es hätte etwa einen Hinweis darauf geben müssen, dass eine höhere Schmerzintensität größere Gleichgewichtsstörungen verursacht. Das war aber nicht der Fall. Allerdings könnte das an den Subgruppen gelegen haben: Im Verhältnis war die Patientengruppe mit einer Schmerzintensität zwischen 7 und 11 auf einer 15-Punkte-VAS deutlich größer als die Subgruppe mit Schmerzen zwischen 12 und 15. Wäre das Verhältnis ausgeglichener, hätte man möglicherweise einen Zusammenhang ableiten können. Aber das ist nur Theorie.
Sind noch andere Ursachen denkbar?
Ja: Aufmerksamkeitsdefizite, die sich durch chronische Schmerzen entwickeln können, oder Fallangst könnten ebenfalls zu Gleichgewichtsproblemen führen.
Was ist die Konsequenz aus deinem Ergebnis?
Dass man in der Untersuchung zumindest mal schauen sollte, ob der Patient ein Gleichgewichtsproblem hat. Und wenn er eines hat, sollte man mit ihm Gleichgewichtstraining in Kombination mit Schulterübungen machen.
Was müsste man nun als Nächstes untersuchen?
Ob das Gleichgewicht der Patienten besser wird, wenn sie keine schmerzhafte Schultererkrankung mehr haben.
Hat sich dein Blick auf Studien geändert, nachdem du deine eigene gemacht hast?
Ich war früher einer von denen, die „mal schnell“ über eine Studie lesen und dann nur sagen, was daran alles nicht gut ist. Jetzt weiß ich: So eine Studie im Rahmen einer Masterarbeit durchzuführen und sie danach in eine Form für ein international angesehenes Peer-Review-Journal zu bringen, ist ein Riesenhaufen harter Arbeit, die zudem nur bei der Ideenfindung am Anfang Spaß macht. Später ist es einfach nur noch Arbeit. Das wissen viele nicht. Ich bin nun sicherlich vorsichtiger, wenn ich Studien kritisiere.
Das Gespräch führte Joachim Schwarz.