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Kannst du grad mal ... – Maier-Kolumne

Kaum ist man Physio, kennt man jede Menge Leute. Und alle haben nach Feierabend eine schmerzende Stelle, einen verspannten Muskel oder nur mal schnell eine Frage zu Arthrosepräparaten. Unsere Kolumnistin hat die Nase voll und bucht eine Auszeit von „Kannst-du-grad-mal-Anfragen“.

Mein Tag war voll. Er war geprägt von Menschen mit großen Schmerzen, mit gewichtigen Männern, berührungsempfindlichen Frauen und zwei Akutpatienten, die ich dienstleistungsbeflissen noch drangehängt habe. Ich sehne mich nach einer Badewanne, gesundem Essen und Schlaf. Kaum bin ich zu Hause, steht der befreundete Nachbar mit gequältem Gesichtsausdruck und krummer Haltung vor der Tür. „Mein Rücken. Kannst du grad mal …“ Er hat Tränen in den Augen. Und ich weiß: Mit der Wanne wird es heute nichts.

Ich bin nicht per se herzlos, aber die Kannst-du-mal-Nummer ist der Genickbruch meines privaten Alltags. In Bruchteilen von Sekunden spiele ich sämtliche Strategien durch, die mich elegant entlasten könnten. Mit der Gewissheit: Elegant gibt es nicht. „Du hast es doch das letzte Mal auch hingekriegt!“, heult der Nachbar. Konsequenzenanalyse: Kann ich auf die Nachbarn in nächster Zeit als sozialen Kontakt verzichten? Wir haben zusammen einen Urlaub gebucht. Schlecht! Zehn Minuten später verschwinden meine Hände in seinem Bindegewebe, während ich meiner Tochter über den Sofatisch hinweg die binomischen Formeln erkläre. Sie ist halbnackte Menschen bei den Hausaufgaben gewöhnt.

Danach kommt Nachbars Frau mit einer Flasche Wein. Als Dank. Sie trinkt dann selbst gleich ein Glas und erzählt von ihrer kranken Mutter. „Kannst du nicht mal bei ihr vorbeischauen?“, fragt sie. „Nur schauen.“ Herr und Frau Nachbar setzen sich fest und fragen nach Arthrosepräparaten. Als meine Tochter am Kühlschrank den Käse ohne Brot in den Mund stopft, beende ich den Nachbarschaftsabend. Für gesundes Essen ist es jetzt wohl zu spät.

Endlich Wochenende! Ich helfe einer befreundeten Mutter beim Kindergeburtstag. „Du bist doch Physiotherapeutin“, ruft eine andere hocherfreut. „Kannst du dir grad mal schnell die Füße von Lars-Ole anschauen?“ „Ich habe Wochenende!“, sage ich. Knallhart. Sie lacht und hat die Schuhe des Kindes schon aus: „Du kannst auch sitzen bleiben, nur kurz schauen!“ Eine Dritte ruft „Physiotherapeutin!“ und zeigt auf ihren Nacken. Konsequenzenanalyse: Kann ich stolz und abgrenzend darauf verweisen, dass ich mein mickriges Geld mit diesen Leistungen verdiene? Ich sehe mich geteert und gefedert auf dem Dorfplatz stehen. Während die Kinder sich gegenseitig die Kuchengabeln ins Auge rammen, habe ich – natürlich nur ganz schnell mal – die Augen an einem Kinderfuß und die Hände am Nacken einer Mutter hängen.

Es ist toll, einen Beruf gelernt zu haben, den scheinbar jeder braucht. Die Terminpläne sind voll, und im Gegensatz zum Finanzbeamten freuen sich die Menschen, mich zu sehen. So weit die gute Nachricht. Aber wenn man Feierabend haben will, sollte man seinen Freunden aus dem Weg gehen. Deshalb habe ich nun eine literarische Schreibwoche für Roman- und Lyrikbegeisterte gebucht – mit Wildfremden. Bei der Begrüßungsrunde habe ich gesagt, dass ich zum Broterwerb Pinguine füttere. Scheinbar ist das allgemeine Interesse an Pinguinen begrenzt. Alle sitzen vor ihren PCs und reiben sich die Nacken und Rücken. Ich halte meine juckenden Finger still.

„Mist!“, ruft einer. „Mein Computer stürzt schon wieder ab!“ Alle schauen zu Thilo, dem Computerfachmann. „Könntest du grad mal …“ Ich jauchze innerlich. Thilo sitzt reaktionslos vor seinem Bildschirm. „Nur mal schnell schauen!“, bettelt der mit dem abgestürzten PC. „Nö!“, sagt Thilo, und sein Ton duldet keine weitere Frage. „So macht man sich aber keine Freunde …“, raune ich ihm zu. „Freunde sind sowieso doof. Denen muss man nur umziehen helfen oder für umsonst die Software installieren“, sagt er emotionslos. Ich schaue bewundernd in seine leeren Augen. In meinem nächsten Leben werde ich auch Soziopath!

Aus der Zeitschrift physiopraxis 7-8/2016

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