• Charly Gaul

     

Interview: Telemedizin verbessert die Versorgung von Schmerzpatienten

Telemedizinische Angebote können wertvolle Unterstützung bei der häufig sehr zeitaufwändigen Behandlung von Schmerzpatienten bieten. Dr. Charly Gaul, ärztlicher Leiter der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein, erklärt die Vorteile von Patienten-Coaching und begleitenden Apps.

Deutschland sind mehr als sechs Millionen Menschen durch chronische Schmerzen stark beeinträchtigt.* Jede Patientin und jeder Patient hat ein individuelles Beschwerdebild, das eng mit der eigenen Lebensgeschichte verknüpft ist. Eine Behandlung ist häufig umso wirksamer, je gezielter sie auf den konkreten Patienten abgestimmt ist. Erster Ansprechpartner für Betroffene, ist in der Regel der Hausarzt oder die Hausärztin.

Wertvolle Unterstützung bei der in vielen Fällen sehr zeitaufwändigen Begleitung der Patienten bieten telemedizinische Angebote, wie beispielsweise das Programm „Chronischer Kopfschmerz & Migräne“ der IKK Classic. Davon profitieren Patienten und ihre behandelnden Ärzte gleichermaßen. Wir haben Dr. Charly Gaul, ärztlicher Leiter der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein, nach den besonderen Herausforderungen bei der Behandlung von Schmerzpatienten gefragt.

Herr Dr. Gaul, vor welchen Herausforderungen stehen Hausärztinnen und -ärzte bei der Behandlung chronischer Schmerzerkrankungen?

Gaul: Der Umgang mit Schmerzpatienten erfordert ein hohes Maß an Empathie und oft auch Durchhaltevermögen und Beharrlichkeit. Manchmal ist die Diagnose einfach und dem Patienten schon mit einer Schmerzmedikation geholfen. In vielen Fällen reicht das jedoch nicht aus; insbesondere, wenn sich der Schmerz bereits chronifiziert hat. Das Finden einer, für den Patienten individuell ausgewählten Akuttherapie und Prophylaxe, kann mehrere Termine erfordern. Dazu kommt die psychische Belastung der Schmerzpatienten. Ob der Schmerz Ausdruck psychischer Belastungen ist oder der Schmerz zunehmend auch auf die Psyche schlägt – beides ist oft untrennbar miteinander verbunden und muss bei der Diagnose und Behandlung berücksichtigt werden. Dazu braucht es auch psychologisches Wissen und Geschick. Zuhören und Verständnis zeigen – auch für die psychischen Belastungen – ist hier daher in besonderem Maße gefragt. Hierfür im eng getakteten Praxisalltag die Zeit und zu finden und in besonderem Maße auch für Zwischentöne aufmerksam zu sein, fällt nicht immer leicht.

Wie stellt sich das Ihrer Erfahrung nach aus der Sicht der Patientinnen und Patienten dar?

Gaul: Der Leidensdruck ist bei Schmerzpatienten besonders hoch – auch, weil sich viele mit ihrem Leiden nicht angemessen wahr- und ernstgenommen fühlen. Von ihrem Arzt wünschen sie sich ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, Empathie und individueller Begleitung – die ihnen jedoch im eng getakteten Medizinbetrieb oft nicht zuteilwird oder werden kann. Darunter leiden übrigens auch oft die Hausärzte selbst. Sie sehen, dass der Patient Zuwendung und auch mentale Unterstützung braucht und wissen um die Limitationen, weil sie ihm diese häufig nicht in größerem Maße geben können, etwa weil das Wartezimmer voll ist. 

Der Besuch beim Arzt ist immer ein punktuelles Ereignis. Zwischen den Terminen liegen oft mehrere Wochen. Was bedeutet das für den Patienten, aber auch für die Bewertung der Situation durch den Arzt?

Gaul: Zwischen den Terminen liegt tatsächlich oft viel Zeit. Für den Arzt ist es zur Beurteilung der Erkrankung und des Therapieerfolgs wertvoll, wenn er einen Eindruck bekommt, wie häufig der Schmerz auftritt, welche Formen er annimmt, wie die Begleitumstände sind und welche Maßnahmen sich eventuell als lindernd erweisen. Dabei hilft beispielsweise ein Schmerztagebuch. Das bildet jedoch nur einen Teil des Erlebens und Empfindens ab. Im Termin wird dann oft doch nur auf die gerade aktuelle Situation fokussiert. Wie es dem Patienten zwischen den Terminen (er)geht, bleibt oft weitgehend im Dunkeln. Viele Patienten wünschen sich eine wesentlich engmaschigere Begleitung. In einer akuten Schmerzsituation ist die Aussicht, den nächsten Termin in sechs Wochen zu haben, wenig hilfreich.

Wie wirkt sich eine engmaschigere Betreuung auf den Behandlungserfolg aus?

Gaul: Der Arzt kann den Krankheitsverlauf wesentlich besser monitoren und die Behandlung entsprechen feinjustieren. Der Patient wird mehr wahr- und damit ernstgenommen. Das erhöht seine Compliance und hilft ihm dabei, die vom Arzt empfohlen Maßnahmen beispielsweise zur Anpassung des Lebensstils, zu Entspannungsverfahren, Sport und Ernährung bis zur regelmäßigen Einnahme von Medikamenten konsequent umzusetzen und damit Selbstwirksamkeit zu erlernen. 

Gemeinsam mit der IKK classic und Thieme TeleCare bieten Sie ein telemedizinisches Programm für chronische Kopfschmerzpatienten an? Welche Überlegungen stecken dahinter?

Gaul: Der Hausarzt wird in der Regel kaum eine intensivere Begleitung seiner Schmerzpatienten anbieten können. Wir haben uns also gefragt, wie wir Patienten die Unterstützung bieten können, die sie brauchen und sich wünschen, um ihre Beschwerden spürbar zu lindern oder mit ihrer Schmerzerkrankung gut umgehen zu können. Das entlastet nicht nur den Patienten, sondern perspektivisch auch das Budget der Krankenkassen.

Welche Rolle spielt dabei der Hausarzt? 

Gaul: Der Hausarzt bleibt die erste Anlaufstelle und zentraler Ansprechpartner für Diagnostik, Medikation und Therapie. Ein gutes Arzt-Patientenverhältnis ist dabei essenziell! Für die engmaschige Betreuung des Patienten bekommt der Hausarzt im Rahmen des Programms Support von psychologisch geschulten Gesundheits-Coaches. 

Was genau ist die Rolle der Gesundheits-Coaches. Welche Bedeutung kommt diesen zu?

Gaul: „Was habe ich? Was bedeutet das für mich? Wie gehe ich damit um? Was ist ein realistisches Therapieziel?“ – Für diese Fragen kann sich der Arzt nicht immer ausreichend Zeit nehmen. Der Coach unterstützt an dieser Stelle. Er steht mit dem Patienten in einem sehr intensiven Austausch und ergänzt die Leistung des Hausarztes. Der Coach telefoniert regelmäßig mit dem Patienten, hört ihm zu und schenkt ihm Aufmerksamkeit. Er berät und motiviert ihn, bespricht (Teil)erfolge und Rückschläge mit ihm und steht im akuten Bedarfsfall als Ansprechpartner auch kurzfristig zur Verfügung. Es sind also vor allen Dingen die psychologischen und edukativen Aspekte der Behandlung, die in der Interaktion zwischen Coach und Patient im Vordergrund stehen. 

Außerdem steht den Patienten im Rahmen des Programms die Thieme Coach App zur Verfügung. Wie kann diese zum Erfolg der Schmerzbehandlung beitragen?

Gaul: Die App unterstützt mit hilfreichen Informationen zur Schmerzerkrankung, gibt konkreten Tipps für den Alltag, zu Akutmaßnahmen und Prophylaxe. Ein digitales Schmerztagebuch hilft dabei, den Schmerzverlauf zu beobachten, ihn mit bestimmten Ereignissen in Beziehung zu setzen und auch konkrete Maßnahmen und deren unmittelbare Wirksamkeit zu dokumentieren. Der Coach hat, wenn es der Patient wünscht, Zugriff auf dieses Tagebuch. So kann er auf bestimmte Ereignisse eingehen und gegebenenfalls auf Aspekte hinweisen, die auf jeden Fall noch einmal mit dem Hausarzt besprochen werden sollten. Die Idee ist, dass der derart begleitete Schmerzpatient mehr und mehr ein Gespür dafür bekommt, worauf er selbstwirksam Einfluss nehmen kann, was ihm wirklich hilft, was ihm guttut und was er meiden sollte. Der Patient muss selbst zum Experten für seine Erkrankung werden und seine Fähigkeit zur Selbstwirksamkeit ausbauen. Dabei helfen ihm der Gesundheits-Coach und die Thieme Coach App.

Wo sehen Sie Grenzen einer telemedizinischen Behandlung? Wann ist der direkte, physische Kontakt zwischen Arzt und Patient unabdingbar?

Gaul: Eine wirksame Telemedizin setzt meines Erachtens die persönliche Begegnung voraus. Gerade bei Schmerzerkrankungen mit psychischer Komponente muss der Arzt seinen Patienten in Gänze wahrnehmen und erleben. Denn Medizin ist eben nicht nur Wissenschaft, die sich mehr und mehr auf KI und Algorithmen stützt. Die ärztliche Kunst basiert immer auch auf Erfahrung und Gespür. Das In-Augenschein-nehmen, das Erleben der Mimik und Gestik, des Sprechens und Artikulierens ist ganz wesentlich, um die Situation des Patienten einschätzen zu können. Einer Behandlung sollte daher immer eine persönliche Begegnung vorausgehen. Auf einer soliden Anamnese und einem guten Arzt-Patienten-Verhältnis aufsetzend, kann Telemedizin dann ihre Wirkung entfalten.

Gibt es etwas, das Sie Hausärzten, die chronische Kopfschmerzpatienten behandeln, mit auf den Weg geben möchten?

Gaul: Investieren Sie großzügig Zeit in die Anamnese – mit allen physiologischen und psychologischen Aspekten. Hören Sie ihrem Patienten zu, finden Sie heraus, was sein Problem ist, welches Ziel er anstrebt und gehen Sie konkret darauf ein. Wenn Sie das Problem wirklich verstanden haben, können Sie daran im weiteren Verlauf immer wieder anknüpfen. Damit bilden Sie Vertrauen und schaffen eine gute Basis für die weitere Behandlung. 

 

Das Interview führte Carola Schindler,
Thieme Communications

Dr. Charly Gaul ist ärztlicher Leiter der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein. Der Neurologe und Facharzt für Psychiatrie hat gemeinsam mit Thieme TeleCare ein Kopfschmerzprogramm entwickelt, mit dem die IKK Classic Versicherte mit chronischen Kopfschmerzerkrankungen gezielt unterstützt. Als Experte für Diagnostik und Schmerztherapie schult er die Gesundheits-Coaches von Thieme TeleCare und steht ihnen im konkreten Bedarfsfall beratend zur Seite. Hausärzte haben die Möglichkeit, von seiner Expertise in besonderen Einzelfällen zu profitieren. Zudem hat er bei der Zusammenstellung der für Schmerzpatienten relevanten Inhalte in der Thieme Coach App beraten.
 

*https://schmerzkongress2020.de/presse/

Veröffentlicht wurde das Interview auf: kma-online 

 

Juli 2021

 

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