Tollwut (Lyssa, Rage, rabies)

Autor: P.F. Suter

Definition

Tollwut ist eine meist tödlich verlaufende, anzeigepflichtige, epizootische, v. a. durch Bisse übertragene, virale Polioenzephalomyelitis von Warmblütern einschließlich des Menschen. Es handelt sich um eine der am längsten bekannten, durch Tiere, v. a. Hunde und Wildtiere, verbreiteten Anthropozoonosen. Weltweit kommen mehrere antigene Varianten des Tollwutvirus vor. Die tierartliche Empfindlichkeit variiert stark und ist z. B. bei Füchsen, Dachsen und Kaninchen größer als für Hunde oder Menschen. Seit der Einführung der Hundeimpfungen ist das Raubwild (v. a. der Fuchs) zum Hauptreservoir geworden (silvatische Wut).

Seit 1978 wurden in den europäischen Ländern, in denen Tollwut auftrat, die Füchse mit einer oralen Tollwut-Vakzine geimpft, was zu einem deutlichen Rückgang der Wild-Tollwut geführt hat. Deutschland, die Schweiz, Österreich und Frankreich gelten als Tollwut-frei (Jahresbericht der Schweizerischen Tollwutzentrale 2008). Bei den Tollwut-Fällen, die aus diesen Ländern in den letzten Jahren gemeldet wurden, handelte es sich um eingeschleppte Fälle von importierten Hunden aus außereuropäischen Ländern. Allerdings ist seit den 2004 für die EU geänderten Einfuhrbedingungen für Hunde und Katzen das Risiko der Tollwut-Einschleppung gering geworden.

Ätiologie und Pathogenese

Das Tollwut-Virus ist ein behülltes, einsträngiges RNA-Virus und gehört zum Genus Lyssavirus (griechisch „lyssa“ = Wahnsinn) und zur Familie der Rhabdoviren. Es ist weltweit verbreitet mit Ausnahme von Neuseeland, der Antarktis, Großbritannien, Irland, Skandinavien, Australien, Japan und einigen Inseln. Außerhalb des Organismus ist das Tollwut-Virus relativ unstabil und wird durch Wärme, UV-Strahlung und andere physikalische oder chemische Einwirkung (Seife, Desinfektionsmittel) rasch inaktiviert. Der Erreger bleibt jedoch in Kadavern vor allem bei kalter Witterung mehrere Monate überlebensfähig. Zur Desinfektion sollen die seuchenpolizeilich vorgeschriebenen Mittel verwendet werden. Sowohl saure Desinfektionsmittel als auch Seife, Natronlauge, Phenole, Halogene und Formalin sind gut wirksam. Die Ausscheidung erfolgt hauptsächlich mit dem Speichel und kann bereits einige Tage vor dem Auftreten von klinischen Symptomen festgestellt werden.

Das Virus gelangt in den Körper durch eine Bisswunde oder durch den Eintritt über Schleimhäute, von wo aus es in die Muskulatur gelangt. Nach einer ersten lokalen Virusvermehrung dringt das Virus über Muskelendplatten und neurotendinale Spindeln in die Nervenfasern ein. Von dort aus wandert es mit der interaxonalen Flüssigkeit in Richtung Rückenmark oder Gehirn. Ausnahmsweise kann das Virus via Blut das Gehirn erreichen. Vor allem im Gehirn erfolgt eine rasche Virusvermehrung und Ausbreitung von Zelle zu Zelle, gefolgt von einer generellen zentrifugalen Ausbreitung via Nerven in alle Organe, besonders aber in Speicheldrüsen und Augen. Aerogene Infektionen bei Menschen und Hunden nach dem Aufenthalt in von Tollwut-infizierten Fledermäusen bewohnten Höhlen sind möglich, ebenso wie die orale Infektion durch die Aufnahme von Fleisch Tollwut-infizierter Füchse, dürften jedoch eher selten sein.

Die Inkubationszeit beträgt 2–24 Wo., kann aber in Einzelfällen 6–12 Mo. dauern. Die Virusausscheidung kann außer im Speichel infizierter Tiere in kleinen Mengen auch via Harn, Fäzes und Ausatmungsluft erfolgen. Wie bereits erwähnt, beginnt sie meist schon 1–5 Tg. vor dem Auftreten neurologischer Symptome und dauert bis zum Tod, der i. d. R. nach wenigen Tg. bis Wochen nach dem Beginn von Symptomen eintritt.

Symptome

Sie sind Ausdruck der neuralen Schädigungen der peripheren motorischen Neurone (Lähmungen) und des zentralen limbischen Systems (Verhaltensstörungen). Die klassische Auffassung, dass Tollwut immer tödlich und in 3 Phasen unaufhaltsam progressiv verlaufe, ist nur bedingt richtig. Atypische Verlaufsformen sind relativ häufig, daher sollte bei jedem ungeimpften oder unvollständig geimpften Tier, das unklare neurologische Symptome zeigt oder ohne ersichtlichen Grund speichelt, Tollwut als Differentialdiagnose mit in Betracht gezogen werden. Vor der klinischen Untersuchung sollten zum Schutz entsprechende Vorsichtsmaßnahmen, wie das Tragen von Handschuhen (s. auch amtliche Vorschriften, Tollwutverordnung), eingeleitet werden.

Klassischer Dreiphasenverlauf

  1. Prodromalstadium (Dauer h bis einige Tg.): Wesens- und Verhaltensänderungen von überfreundlich bis abweisend, ängstlich, unruhig; Hunde weichen aus, bellen oder beißen unmotiviert und suchen vermehrt dunkle Plätze auf; Automutilationen an der Bissstelle und Schnappen nach imaginären Fliegen sind ebenfalls beschrieben; Fieber möglich.
  2. Exzitationsstadium („rasende Wut“; Dauer 1–7 Tg.): Gekennzeichnet durch leichte Erregbarkeit, Aggressivität, Drangwandern oder Desorientiertheit, Steigerung der Unruhe und Launenhaftigkeit, Anorexie, Zerbeißen von Gegenständen, langgezogenes Bellen, Raserei und Entweichen, stures Herumirren und Angreifen von anderen Hunden; Muskeltremor, Schluckstörungen, starkes Speicheln, Inkoordination und spastische, im Verlauf auch schlaffe Lähmung.
  3. Paralyse- oder Depressionsstadium (Dauer bis zum Tod 3–4 Tg.): Unruhe geht zunehmend in Erschöpfung und Lähmungszustände über (Bulbärparalyse, Kehlkopflähmung, Rumpf- und Gliedmaßenparalyse), Koma, Tod. „Stille Wut“: Ohne vorangehendes Exzitationsstadium kommt es zu Lähmungen. Diese Form (Dauer ca. 2–4 Tg.) ist zu einem häufigen, in gewissen Gebieten sogar zum dominierenden Tollwutverlauf geworden. Typische Symptome sind ausdrucksloser, stupider Blick, Teilnahmslosigkeit, Speicheln, Unterkieferlähmung, heisere Stimme, Unmöglichkeit der Futteraufnahme und Eindruck, dass Hund einen Fremdkörper im Schlund habe, Nickhautvorfall, ungleiche Pupillengröße, Schielen, schließlich Rumpf- und Gliedmaßenlähmungen und Tod. Chronische oder mildere Verläufe („Atypische Wut“) sind ebenfalls beschrieben.

Differentialdiagnosen

Richten sich nach dem Stadium, in dem der Patient vorgestellt wird. Abschluckstörung infolge mechanischer Obstruktion im Pharynx- oder Schlundbereich oder durch andere Ursachen bedingte Ausfälle von Hirnnerven wie des N. glossopharyngicus, N. vagus, N. recurrens und/oder N. trigeminus (Unterkieferlähmung). Granulomatöse Meningoenzephalitis (GME), Enzephalitiden durch andere Infektionen (Staupe, Aujeszky- Krankheit oder Toxoplasmose/Neosporose). Vergiftungen (Organophosphat, Blei, Strychnin), organische Hirnveränderungen wie Neoplasien, Hepatoenzephalopathie und nicht organisch bedingte Wesensveränderungen bei Verhaltensstörungen.

Diagnosesicherung

Wie die Diagnose bestätigt werden muss, ist gesetzlich vorgeschrieben und erfolgt i. d. R. am toten Tier, meist durch die Kombination verschiedener Techniken wie Immunfluoreszenz- Nachweis des Erregers in Gehirnschnitten und/ oder PCR-Nachweis. Zurzeit gibt es keinen Test, der es erlaubt, Tollwut am lebenden Tier sicher auszuschließen. Im Verdachtsfall sollten zunächst andere Differentialdiagnosen ausgeschlossen werden, jedoch unter Einhaltung der seuchenpolizeilich vorgeschriebenen Vorsichtsmaßnahmen.

Therapie, zu ergreifende Maßnahmen

Therapieversuche an Hunden sind gesetzlich verboten. Maßnahmen, die bei Tollwut-Verdacht zu ergreifen sind, sind in der Tollwut-Verordnung des jeweiligen Landes genau beschrieben. Der Amtstierarzt bzw. das Veterinäramt, die in jedem Verdachtsfall informiert werden müssen, entscheiden über das weitere Vorgehen. Verdächtige Tiere, auch tote, dürfen ohne amtstierärztliche Genehmigung nicht vom Standortentfernt werden.

Prophylaxe

Eine einmalige Impfung im Alter von 3 Mo. gilt als Grundimmunisierung. Seit Kurzem ist in den deutschsprachigen sowie in einigen EU-Ländern eine Wiederholungsimpfung im 3-Jahres-Abstand vorgeschrieben. Bei der Aus- bzw. Einfuhr von Hunden sind die Bestimmungendes jeweiligen Landes zu beachten. Tiere, bei denen Tollwut-Verdacht besteht, dürfen nur mit einer amtstierärztlichen Sondergenehmigung geimpft werden; fehlt eine solche, ist die Impfung verboten.

Bedeutung für den Menschen

Hatte ein Mensch, der nicht Tollwut-geimpft war, Kontakt zu einem tollwütigen oder tollwutverdächtigen Tier, wird eine sofortige postexpositionelle Impfung kombiniert mit der Verabreichung von humanen Tollwut-Immunglobulinen angeordnet, um einen Ausbruch der Krankheit zu verhindern.

Bekämpfung: Tollwut gilt in Deutschland und der Schweiz als auszurottende Seuche (s. Tierseuchengesetzgebung).

P.F. Suter, B. Kohn, G. SchwarzPraktikum der Hundeklinik ISBN: 978-3-8304-1125-3, 11. Aufl., überarb. 2011, S. 365-366

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