- Bericht
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- David Santer
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- 11.03.2010
Das Adipositas-Paradoxon
Bei gesunden Menschen erhöht Übergewicht die Anfälligkeit für Krankheiten, die das Leben verkürzen. Bei einigen chronischen Erkrankungen dagegen scheinen ein paar Pfunde zu viel auf der Waage die Überlebenschancen eher zu verbessern. In der Fachzeitschrift "DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift" geht ein Experte den Ursachen für dieses Adipositas-Paradoxon nach, von dem in Deutschland sieben Millionen Menschen betroffen sind.
Für manche Fälle kann der Epidemiologe Dr. Thomas Dorner von der Universität Graz auf Studien verweisen, in denen Übergewichtige länger lebten als Patienten mit Normalgewicht. Vorteilhaft ist ein leichtes Übergewicht für Menschen mit einer Pumpschwäche des Herzens, der sogenannten Herzinsuffizienz, oder für jene mit verengten Herzkranzgefäßen. Auch Hochbetagte leben länger, wenn sie im Krankheitsfall etwas zuzusetzen haben. Das gleiche trifft auf Dialyse-Patienten mit einem Body-Mass-Index (BMI) über 25 kg/m2 zu, der allgemein als Grenze zum Übergewicht gilt. Weitere Erkrankungen, die Übergewichtige besser zu verkraften scheinen, sind chronisch obstruktive Lungenerkrankungen (COPD) und Gelenkrheuma.
Zumeist handelt es sich um sogenannte Beobachtungsstudien: Eine möglichst große Gruppe wird am Anfang untersucht und nach Krankheiten und Lebensgewohnheiten befragt. Viele Jahre später recherchieren die Forscher, welche Eigenschaften sich günstig auf Krankheiten oder Überleben auswirken. Solche Studien haben Fallstricke. Thomas Dorner nennt einige Beispiele. So könnten einige Teilnehmer nur deshalb normalgewichtig sein, weil die Krankheit zum Gewichtsverlust geführt hat. In der Studie würden dann Ursache und Wirkung verwechselt. Epidemiologen sprechen von einer "Reverse Causation". Vorstellbar ist dies bei Lungenerkrankungen wie COPD, die langfristig zu einer Auszehrung führen. Eine andere Verzerrung ergibt sich aus kompetitiven Risikofaktoren: Übergewicht kann vor Knochenbrüchen schützen, eine häufige Todesursache im Alter. Dies könnte langfristige Risiken des Übergewichts für herz- oder nierenkranke Menschen überdecken. Viele ärztliche Fachgesellschaften empfehlen Menschen mit Herzschwäche oder Dialyse-Patienten deshalb weiterhin, ein Normalgewicht anzustreben.
Es gibt aber auch Argumente, die für eine Schutzwirkung der Adipositas bei bestimmten Krankheiten sprechen. Thomas Dorner: Chronische Entzündungen können den Appetit unterdrücken und zu einem vermehrten Abbau der Muskulatur führen. Betroffen sind vor allem Hochbetagte. Generell profitieren chronisch Kranke davon, wenn für den Krankheitsfall Energiereserven angelegt sind, schreibt der Experte: Ihnen zur Gewichtsabnahme zu raten, wäre nicht sinnvoll.
Das Fettgewebe könnte die Patienten auch schützen, weil sich dort Gifte ablagern oder sogar abgebaut werden. Blutfette sind laut Thomas Dorner in der Lage, Schadstoffe von Krankheitserregern abzufangen und auf diese Weise die Infektabwehr zu unterstützen. Ärzten rät der Experte, den Body-Mass-Index bei Kranken niemals zum einzigen Entscheidungskriterium für die Empfehlung von Diäten zu machen, solange deren Wert nicht eindeutig durch weitere Studien geklärt sei. Schließlich sollten beim Gewichtsmanagement von Hochbetagten und chronisch Kranken stets die Auswirkungen auf die Lebensqualität berücksichtigt werden, findet der Epidemiologe.
T. E. Dorner, A. Rieder:
Das Adipositasparadoxon oder Reverse Epidemiologie: Hohes Körpergewicht als protektiver Faktor bei bestimmten chronischen Bedingungen?
DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift 2010; 135(9): S. 413-418