- Interview
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- Silja Schwenke
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- 16.09.2013
Das Summen der Montagswürmer - Tuğsal Moğul über sein neues Stück
Tuğsal Moğul ist Arzt, Schauspieler und Regisseur in einem. Der Sohn türkischer Einwanderer hat sich darauf spezialisiert, die Medizinerwelt möglichst real auf die Theaterbühne zu verlegen und für jeden zugänglich zu machen. Im Interview stellt er sein neuestes Werk "Das Summen der Montagswürmer" vor und erzählt, warum er selber nie einen Arzt spielen durfte.
> Herr Moğul, verraten Sie uns, was „Montagswürmer“ sind, oder müssen wir dazu in Ihr Stück gehen?
Tuğsal Moğul: Nein, das kann ich verraten: Der Titel leitet sich von einer chirurgischen Studie aus dem Jahr 1987/88 ab. Der Autor stellte damals fest, dass die fehlindizierten Appendektomien in seiner Klink überzufällig häufig auf Montage fielen, und dass dabei vor allem Mädchen und junge Frauen aus südländischen Familien auf dem OP-Tisch lagen. Dahinter vermutete er eher psychosoziale Konflikte: Am Wochenende wollten die Mädchen ausgehen, ihre Freunde, ihren Freund treffen. Die Eltern waren dagegen – Samstag und Sonntag waren in diesen Familien die Hauptkampftage, und heftige Bauchschmerzen manchmal am Montag die Folge.
> Dass diese Montagswürmer „summen“, bezieht sich wahrscheinlich auf die Musik und die Lieder, die Sie die Schauspieler singen lassen. Warum stellen Sie für ein Stück, das im Krankenhaus spielt, einen Flügel auf die Bühne?
Mittlerweile steht in etlichen Krankenhäusern ein Flügel im Foyer. Wahrscheinlich möchten die Marketing-Abteilungen so zusätzlich die Attraktivität der Kliniken erhöhen, ich weiß es nicht. Bei uns in Münster spielt jeden Sonntag ein Student. Die Patienten kommen dann in Bademänteln, mit Verbänden und Infusionsständern, setzen sich hin und hören Klassik. Ein tolles Bild. Es hat sich mir so eingeprägt, dass ich es unbedingt im Stück verwenden wollte.
> Und was sagt Ihre Klinikleitung dazu?
Nichts, da kamen noch nie Einwände. In meinen Stücken geht es auch nicht um meine oder eine bestimmte Klinik, die Situation ähnelt sich ja überall in Deutschland. Und da ich den Spagat zwischen Medizin und Schauspielerei nun schon seit fünfzehn Jahren mache, akzeptieren meine Vorgesetzten meine Arbeitsweise. Früher habe ich aufgepasst, dass ich nicht beides miteinander vermische. Bevor ich Theater Operation 2008 gegründet habe, habe ich so etwas wie ein Doppelleben geführt: In der Klinik war ich nur Arzt, konzentriert auf die anästhesiologische Kliniktätigkeit. Dann habe ich drei Monate unbezahlten Urlaub genommen und war nur Schauspieler, in Tschechows „Drei Schwestern“ zum Beispiel.
> Haben Sie ab und zu auch einen Arzt gespielt?
Nie. Als Schauspieler mit Migrationshintergrund waren meine Rollen klar festgelegt. Ich spielte entweder Verbrecher oder wurde von Neo-Nazis verprügelt.
> Wie bitte? Sie hatten doch Fachwissen und in der Klinik bestimmt viele ärztliche Kollegen mit dem gleichen Hintergrund…
Na klar. In den Krankenhäusern sind Mitarbeiter mit Migrationshintergrund fast in der Mehrheit. Im Theater bekam ich auch vereinzelt andere Rollen, aber im Fernsehen musste ich wirklich hauptsächlich Klischees erfüllen. Einmal bekam ich ein Angebot als Schauspieler in einer Krankenhaus-Serie aufzutreten – ich sollte einen Patienten spielen, der nur gebrochen Deutsch spricht und mit einer Döner-Vergiftung in die Notaufnahme kommt. Ich habe die Rolle abgelehnt. Ich denke, das ändert sich gerade langsam, aber damals… Sascha Hehn, das war ein Arzt. Ich nicht.
> Und irgendwann hat es Ihnen gereicht, und Sie haben angefangen, eigene Stücke zu schreiben.
Nein, nein, die Idee, als Regisseur zu arbeiten, kam viel früher, schon während meiner AiP-Zeit in Berlin-Schöneberg. Ich habe immer gedacht, dass jemand all diese Geschichten erzählen muss, die man in der Klinik erlebt. Selbst wenn sie keiner glaubt. Solche Anekdoten habe ich aufgeschrieben und in einer Schublade gesammelt. Als ich nach Münster ging, habe ich mir zum Abschied von den Kollegen gewünscht, dass jeder mir eine Geschichte schenkt, egal ob tragisch, schön oder komisch. Aus diesen Blättern aus der Schublade sind die Ideen zu meinen Stücken entstanden.
> Hat Ihnen gefallen, was Ihnen die Kollegen geschenkt haben?
Ja, sehr. Da kamen ganz einfache Geschichten, die trotzdem aus einem Film stammen könnten. Zum Beispiel von der Frau, die nach einem Verkehrsunfall mit einer Schürfwunde in die Rettungsstelle kam. Sie war auf dem Weg zu einer neuen Stelle, der erste Arbeitstag. Jetzt war das Auto kaputt, sie konnte die Stelle nicht antreten, und mein Kollege machte auch noch sicherheitshalber vor dem Röntgen einen Schwangerschaftstest. Der war positiv. Sie hat nur noch den Kopf geschüttelt – was für ein Tag! Oder, eine andere Schwangerschaft: Eine türkische Frau musste zum Not-Kaiserschnitt aufgenommen werden. Die Hebamme rief dem Ehemann noch zu, ziehen Sie sich schnell um und kommen Sie mit in den OP. Der aufgeregte Mann sprach schlecht Deutsch und war noch nie im OP. Er hat wohl was falsch verstanden. Sie hatten das Kind gerade herausgeholt, da ging die Tür auf – und im Saal stand ein splitterfasernackter Türke. Oder die legendären cholerischen Anfälle von Chirurgen. Da gab es einen, der aus dem OP die Pathologie anrief und sich ärgerte, dass die Telefonschnur so unbequem kurz war. Da hat er mal eben das ganze Telefon aus der Wand gerissen…
> Sie schicken alle Schauspieler, die bei Ihnen mitspielen wollen, zum Praktikum ins Krankenhaus. Haben die bei solchen Geschichten da überhaupt Lust zu?
Ob sie ausnahmslos begeistert sind, weiß ich nicht. Mir ist wichtig, dass sie die Arbeit im OP mal erlebt haben, wenn sie davon auf der Bühne erzählen. Auch wenn es nur für einen Tag war. Sie sollen mitbekommen, wie die Chirurgen kommen und sich waschen, was sie nebenbei erzählen… Ohnmächtig ist bisher niemand geworden. Das medizinische Personal findet es in der Regel spannend, einmal Schauspieler dabei zu haben. Und die Schauspieler finden es spannend, einmal im OP zu sein. Menschen, die nicht direkt mit der Medizin zu tun haben, auch Schauspieler, pflegen ja manchmal Vorbehalte gegenüber der Schulmedizin. Niemand hätte Zeit, die Ärzte wären arrogant… Nach dem Praktikum relativieren sie ihre Meinung oft, weil sie sehen, wie viel Arbeit da ist, und warum die Zeit fehlt.
> Im Stück spielen zwei Darsteller die erste türkische Einwanderer-Generation: ein männlicher Patient, der kein Deutsch kann, und eine weibliche Reinigungskraft, die in der Klinik inoffiziell als Dolmetscherin arbeitet. Wie realistisch sind diese Figuren?
Dass Reinigungskräfte zum Übersetzen geholt werden, habe ich im Krankenhaus oft erlebt. Aber ich kenne auch viele türkische Frauen aus dieser Generation, die kaum Deutsch sprechen. Hier ist es eben mal ein Mann. Das ist in dem Falle sehr real – der Schauspieler kann kein Deutsch, obwohl er seit 1985 hier lebt. Seine deutsche Frau hat für ihn Türkisch gelernt, die Kinder sprechen ebenfalls Türkisch mit ihm. Er war vorher in Schweden, spricht Englisch und Schwedisch. Er hatte dann keine Lust mehr, noch eine vierte Sprache zu lernen.
Foto: R. Sampson
> Umgekehrt hat die junge Betriebswirtschaftlerin, die im Stück versucht, den Klinikkonzern in den schwarzen Zahlen zu halten, Türkisch schon wieder verlernt.
Ja, es heißt zwar manchmal, dass die dritte Generation schlechter Deutsch spricht als die zweite. Aber das gilt eher, wenn die schulische Laufbahn nicht so erfolgreich war. In Familien, die integriert sind und schon in der dritten Generation in Deutschland leben, gibt es viele, die kein Wort Türkisch mehr können. Auch in der zweiten Generation, zu der ja ich gehöre.
> Ist die Geschichte der Chirurgin, die auf der Bühne etwa so alt ist wie Sie, ein Stück weit auch Ihre eigene Geschichte?
Nur zum Teil. Wegen der Schauspielerei habe ich meine Arztkarriere nicht so ehrgeizig und verbissen verfolgt, wie sie es tut. Aber auch bei mir war es so, dass meine Eltern alles gegeben haben, damit ich schaffe, wozu sie keine Möglichkeit hatten. Sie haben sich sehr über mein Medizinstudium gefreut. Vielleicht habe ich deshalb noch nicht ganz mit dem Arztdasein aufgehört, obwohl ich es immer bestreite. Sie haben mich aber jederzeit in meinen Entscheidungen unterstützt. Auch als ich das Schauspielstudium begonnen habe.
> Der Alltag der drei Frauen im Krankenhaus wird durcheinander gewirbelt, als der alte türkische Mann dort eintrifft. Wäre alles anders, wenn er Deutsch könnte?
Ja. Wenn jemand eine Sprache nicht beherrscht, entstehen Lücken in der Kommunikation. Gerade mit dem Arbeitsstress im Hintergrund kochen so schnell Konflikte hoch. Ich habe oft gesehen, dass es ohne Sprache nicht funktioniert. Ohne Sprache erschwerte Heilung.
Lebenslauf Tuğsal Moğul:
Der Anästhesist, Schauspieler und Regisseur Tuğsal Moğul kam 1969 in Neubeckum, Westfalen, als Sohn türkischer Einwanderer zur Welt. Nach zwei erfolgreich abgeschlossen Studiengängen, Medizin und Schauspiel in Hannover, arbeitete er parallel als Schauspieler und Arzt. 2008 gründete er das Theater-Ensemble „Theater Operation“. In seinem ersten Stück, „Halbstarke Halbgötter“, erzählen vier Ärzte, die auf der Bühne am EKG hängen, von ihrem Alltag. Das Stück war bundesweit 60 Mal ausverkauft. In der zweiten Produktion, „SOMNIA“ lässt Tuğsal Moğul komatöse Intensiv-Patienten zu Wort kommen, in „Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt“ recherchiert er die Geschichten von Hochstaplern. Sein viertes Stück, „Die deutsche Ayşe“, handelt vom Leben dreier Türkinnen der ersten Einwanderer-Generation. Neben seinen Theater-Produktionen arbeitet Tuğsal Moğul als Teilzeit-Anästhesist in einem Lehrkrankenhaus in Münster.
Mehr Informationen zu dem Stück findest du hier: