- Bericht
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- Dominik Schultes
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- 02.10.2014
Erfahrungen aus der Pflege
Dominik Schultes hat ein prägnantes Erlebnis in der Pflege erlebt. Hier erzählt er dir deine Geschichte.
Es war eigentlich eine ganz normale Semesterferienwoche. Ich hatte meine Famulaturen abgeschlossen und hatte mir einige Schichten in den letzten beiden Ferienwochen besorgt, um noch ein bisschen Geld neben herzu verdienen. Ich war komplett auf meiner “Lieblingsstation” eingeteilt, auf der ich damals noch vor dem Studium mein erstes Pflegepraktikum gemacht habe und seitdem dort als studentische Aushilfe arbeite. Die Atmosphäre im Team ist das was mich immer wieder dorthin verschlägt, zusammen mit dem Bewusstsein, dass die Pfleger mich genauso lange kennen, wie ich sie und genau wissen was ich kann - und was nicht.
Bei der Übergabe morgens wurde mir wie immer wenn ich einige Wochen nicht auf Station war ein bisschen persönlicher Hintergrund über die Patienten gegeben die entweder schon lange bei uns waren, oder das vermutlich noch bleiben werden. Dabei fiel auch der Name von Herrn H. Er war Mitte sechzig, sah aber weit älter aus. Er hatte ein ausgeprägtes Tumorleiden und war extrem kachektisch. Er war wegen einem elektiven chirurgischen Eingriff bei uns, man wollte die Gelegenheit aber Gleichzeitig nutzen, um mit einer hochkalorischen parenteralen Ernährung eine Gewichtszunahme zu erzielen. Aber irgendwie klappte es nicht. Die Schwester mit der ich Dienst hatte, erzählte mir noch, dass Herr H. bereits einen gewissen Ruf hatte, er sei sehr ruppig und kurz angebunden und wenn er mal klingelte, kämen meist einsilbige Befehle wie “Schmerzmittel!” oder “Bettpfanne!”. Ich dachte mir dabei erstmal nichts, es war bei weitem nicht der erste unhöfliche Patient den ich gesehen hatte und das ging auch alles immer irgendwie.
Durch einen glücklichen Zufall war auf der Station gerade untypischerweise sehr wenig Betrieb, sodass ich mir für die Pflege bei ihm sehr viel mehr Zeit nehmen konnte, als das sonst möglich gewesen wäre. Ich kann nicht genau sagen warum, aber ich hatte bereits nach dem ersten Kontakt mit Herrn H. das Bedürfnis ihm helfen zu wollen. So versuchte ich immer wieder ein Gespräch anzufangen, beim Medikamente bringen oder beim Vorbereiten des Essens, das er natürlich nicht anrührte. Beim Essen war es dann auch, dass ich das erste mal etwas aus ihm herausbekam. Ich fragte ihn relativ beiläufig warum er denn nie etwas esse, und er meinte dass er keinen Hunger habe, er bekomme ja über den Katheter jetzt schon seit ein paar Monaten immer die “großen, weißen Beutel”. Auf meine Frage ob ihm der Geschmack nicht fehle, konnte er nicht wirklich antworten, nur ein kurzes “das Zeug hier schmeckt ja eh nicht”. Ich hab dann mit ihm erstmal die Bestellung für sein Essen neu gemacht, die er wohl bei Aufnahme aus Desinteresse gar nicht ausgefüllt hatte. Und siehe da, am nächsten Tag konnte er auf einmal essen. Es ging natürlich langsam, aber man sah ihm an, wie viel ihm so ein scheinbar normaler Akt bedeutete. Er wurde merklich offener, erzählte von seiner Karriere als Pferdewirt im Umland von Hamburg, wo auch seine Wohnung noch war und dass ihn seine Tochter, auf deren Drängen er überhaupt erst hier in NRW in Behandlung gegangen ist ihn erst viermal in den zwei Monaten besucht hätte. Er hatte auch noch zwei Kinder im Norden, die aber aus beruflichen Gründen nicht vorbeikommen konnten.
In der nächsten Woche entschloss ich mich das gewonnene Momentum und die immer noch sehr ruhige Station auszunutzen um, Herrn H. eine Freude zu machen. Also sprach ich mit ihm darüber, nach der guten Erfahrung mit dem Essen, welches Ziel er sich als nächstes setzen möchte, um langsam wieder einen Haucht Normalität in sein Leben zu bringen. Die Antwort ließ mich dann erstmal etwas sprachlos zurück: “Ich würde so unglaublich gerne eine Zigarette rauchen!” Dazu muss gesagt werden, dass Herr H. seit über einem halben Jahr bettlägerig gewesen war und die Kombination aus extremem Muskelschwund und starken Schmerzen ihn komplett immobilisiert hatten. Ich habe dann erstmal mit der Stationsleitung besprochen, die mir im Hinblick auf meine inzwischen schon recht große Erfahrung in der Pflege grünes Licht gab. Ich solle nur vorsichtig sein. Also ging es an die Planung: Herr H. sollte mit meiner und der Hilfe eines zweiten Pflegers in den Rollstuhl gesetzt und dann die fünf Stockwerke nach unten vor die Eingangshalle geschoben werden, um dort eine Rauchen zu können. Als es dann losging, griff mich Herr H. am Arm und schaute mich an: “Ich will das doch nicht, lassen wir es sein.” Ich fragte ihn warum? “Ich hab Angst dass ich es nicht schaffe, mir geht es grad zum ersten Mal ein bisschen Besser und wenn ich mir jetzt Hoffnungen mache und es nicht klappt, fall ich in ein Loch wo ich nicht mehr rauskomme.” Ich dachte recht lange nach und meinte dann: “Nicht klappen kann es doch schon gar nicht mehr, Sie sitzen hier im Bett und reden mit mir, das gab's doch schon ewig nicht mehr. Und wenn wir Sie nur in den Rollstuhl bekommen, Ist doch such das schon ein Riesenschritt.” Mit etwas gutem Zu reden, war er dann doch einverstanden und wir machten weiter. Alles ging nur extrem langsam, da eigentlich jede Bewegung Schmerzen verursachte, aber mit vielen Paulsen und in viele Decken eingehüllt standen wir dann draußen in der Februarsonne und ich habe Herr H. zum ersten Mal Lächeln und entspannen gesehen.
Am nächsten Tag war dann mein letzter Dienst vor Semesterbeginn und ich verabschiedete mich von Herrn H. und wünschte ihm alles Gute. Als ich ein paar Monate später mal wieder auf Station war, sah ich in seiner Akte, dass er eine Woche nachdem wir uns verabschiedet haben in ein Krankenhaus bei Hamburg verlegt worden war.