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  • Melanie Hüttemann
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  • 08.06.2011
  • Mann auf Bank - Foto: hikrcn/fotolia.com

    Von Ärztinnen und Ärzten wird viel gefordert - die psychische Gesundheit kann dabei auf der Strecke bleiben.

     

Suizidalität bei Medizinerinnen und Medizinern

Seit Monaten steht der Ärztestreik in der Diskussion. Es geht um Arbeitszeiten, um Geld und nicht zuletzt um das Wohl der Patienten. Nur das Wichtigste bleibt vollkommen unberücksichtigt: die seelische Gesundheit der eigentlichen Betroffenen, nämlich der Ärzte. Mag sein, dass Ärzte mehr verdienen, als der akademische Durchschnitt, doch was ist alles Geld der Welt wert, wenn die Mediziner aufgrund der immensen Arbeitsbelastung psychisch krank werden, sich im schlimmsten Fall sogar das Leben nehmen?

Grundlage dieses Beitrags

Prof. Reimer von der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Uni Gießen untersuchte in einer Metastudie die Suizidalität unter Ärztinnen und Ärzten und kam zu Ergebnissen, die zum Nachdenken und Umdenken anregen. Die Studie wurde in der Zeitschrift Psychiatrische Praxis aus dem Georg Thieme Verlag (Psychiat Prax 2005; 32: 381-385) veröffentlicht.

 

Kalte Zahlen

Medizinerinnen und Mediziner weisen empirisch belegt eine höhere Suizidrate auf als die Allgemeinbevölkerung auf. Die Selbsttötungsraten sind nach den Ergebnissen von 14 internationalen Studien 1,3-3,4-fach höher, die für Medizinerinnen sogar 2,5-5,7-fach höher als bei vergleichbaren Nichtmedizinerinnen. Die Geschlechterverteilung bei den Ärztinnen und Ärzten ist interessanterweise "ausgewogen", während sich in der Allgemeinbevölkerung Männer 2,5 mal häufiger suizidieren als Frauen.

In einer norwegischen Studie gab ein Viertel der Medizinerinnen und Mediziner an, manchmal oder häufig das Gefühl zu haben, das Leben sei nicht mehr lebenswert. Jeder Zehnte der Befragten hatte sogar ernsthafte Suizidabsichten. Eine deutsche Studie erbrachte noch erschreckendere Ergebnisse: Die Hälfte der Medizinerinnen und Mediziner gab an, in ihrem Leben bereits Suizidabsichten gehabt zu haben, zwei Drittel halten es für möglich, dass sie sich in Zukunft suizidieren.

 

Die am häufigsten betroffene Fachrichtung

Am häufigsten bringen sich Psychiater und Anästhesisten um. Die Metastudie lässt keine Aussage darüber zu, warum gerade diese beiden Berufsgruppen so häufig Suizid begehen. Eine Spekulation wäre, dass Anästhesisten die meisten Erfahrungen mit potentiell todbringenden Pharmaka haben und diese für sie auch am ehesten verfügbar sind. Bei Psychiatern sind gleich zwei Variationen denkbar. Ist die ständige Konfrontation mit Suizidalität die Ursache? Könnte die hohe Suizidrate darauf zurück zu führen sein, dass gerade Menschen, die eine hohe Sensibilität aufweisen, den Beruf des Psychiaters ergreifen? Es sei betont, das ist reine Spekulation und basiert nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.

 

Über die Ursachen

Depressive Störungen und Substanzabusus sind die häufigste Ursachen für einen Suizid. Verschiedene Studien mit psychiatrischen Interviews oder Depressivitätsskalen ergeben, dass Medizinerinnen und Mediziner signifikant häufiger als die Allgemeinbevölkerung eine depressive Symptomatik zeigen (23-31% der Medizinerinnen und Mediziner im ersten Jahr ihrer Assistenzarztzeit zeigen eine depressive Symptomatik gegenüber 15% der gleichaltrigen Allgemeinbevölkerung), wobei Medizinerinnen besonders depressionsgefährdet sind. Dafür wird die extrem hohe Arbeitsbelastung im Arztberuf und die Müdigkeit aufgrund von Überstunden und Schlafmangel verantwortlich gemacht. Bezüglich des Substanzabusus' ist beachtenswert, dass 10-15% der Mediziner im Laufe Ihres Lebens mit Alkohol und anderen Drogen Probleme haben.

 

Mögliche berufsbedingte Einflüsse

Ärzte stehen unter einem enormen Stress: unzählige Überstunden und die ständige Konfrontation mit Leiden und Tod, der erhöhte Stresslevel und eine Burnout-Symptomatik bringen Ärzte an den Rand der Belastungsfähigkeit. Ärzte erleben eine Verantwortlichkeit für Leben und Tod, bei gleichzeitigem Bewusstsein der Grenzen ärztlichen Handelns. Die meisten Ärzte erleben in dieser Situation keine Unterstützung, sie werden auf diese Verantwortung weder vorbereitet, noch werden sie dabei psychologisch unterstützt. In keiner Berufsgruppe findet man eine solche Verantwortung bei einer gleichzeitig derart vernachlässigten Unterstützung von außen, beklagen die Autoren.

Ärztinnen und Ärzte nehmen häufig keine Hilfe in Anspruch, obwohl Ihnen natürlich der Zugang zu professioneller Hilfe offen steht. Sie müssen einerseits befürchten, dass der behandelnde Arzt sie eher als Kollege denn als Patienten ansieht, was einer adäquaten Therapie möglicherweise im Wege steht, andererseits steht in einigen Fällen die Approbation auf dem Spiel. Ärztinnen und Ärzte, die einen Kollegen konsultieren und ihm von Major-Depressionen mit Suizidalität und Substanz-Abusus berichten, stehen möglicherweise am vorläufigen Ende ihrer beruflichen Karriere.

 

Was kann man tun?

Beispielhaft ist ein Projekt der Justus-Liebig-Universität Gießen, bei dem bereits Medizinstudenten auf die Stressoren und Bewältigungsmöglichkeiten sowie Vorbeugemaßahmen im Arztberuf vorbereitet werden. Alle Medizinstudenten lernen im Rahmen des Pflichtpraktikums der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie, mit welchen Arbeitsbelastungen sie später konfrontiert werden. Gleichzeitig werden Informationen zu Lebensqualität und Präventionsmöglichkeiten gegeben. So, hofft man, wird eine "ausreichende emotionale Vorbereitung auf den späteren Berufsalltag gewährleistet".

Die Sekundärprophylaxe sieht vor, dass Ärzte psychologisch unterstützt werden und an regelmäßigen Supervisionen teilnehmen. Außerdem muss Ihnen eine gesunde Lebensführung in Ihrem Tagesablauf, in Form von Entspannung, ausreichender Bewegung, Ernährung und Schlafgewohnheiten nahe gebracht werden.

 

Fazit

Ihrer eigenen seelischen Gesundheit zu Liebe sollten sich Ärzte nicht uneingeschränkt für ihre Patienten und ihren Arbeitgeber aufopfern - die Arbeit darf nicht der einzige Lebensinhalt und Lebenssinn sein. Es ist von immenser Wichtigkeit, dass Ärzte trotz ihrer anstrengenden und zeitintensiven Arbeit Freundschaften und Partnerschaften nicht vernachlässigen. Notwendig ist, so das Fazit der Metastudie eine "Distanz und klare Grenzziehung".

Die Autoren formulieren auch, was von Arbeitgeberseite konkret notwendig ist: eine Umsetzung der EU-Richtlinie zur Arbeitzeit, nicht zuletzt, weil die Lebensqualität von Ärztinnen und Ärzten mit 55 und weniger Arbeitsstunden deutlich höher eingestuft werde als die von Ärzten mit 70 und mehr Überstunden.

 

Leserkommentar

Die Zahlen sind wirklich erschreckend! Von D. Durst*

Da fängt man an, sich zu fragen, ob es der Job dann tatsächlich noch wert ist, wenn fast ein Drittel aller Assistenzarztanfänger depressiv wird. Ich habe an einer Klinik angefangen, in der mir bereits innerhalb des ersten Monats beim Frühstückskaffee der Klatsch und Tratsch der letzten Jahre erzählt wurde - inklusive Todesursachen von ehemaligen Mitarbeitern. Allein 3 Ärzte und mind. eine Krankenschwester in den letzten 10 oder 15 Jahren sind durch Suizid ums Leben gekommen, wenn ich richtig gezählt habe. Aber niemand erzählte warum sie es taten.

Distanz und klare Grenzziehung fordert der Artikel. Ich glaube, das ist etwas sehr Wichtiges. Aber ich merke, dass es bei Schwestern und Vorgesetzten nicht unbedingt gern gesehen ist. Das wird leicht als zu wenig Engagement fehlgedeutet und die Assistenzärzte so unter Druck gesetzt oder gleich gegeneinander ausgespielt ("der bleibt aber immer länger, egal ob noch was zu tun ist oder nicht...").

Als kürzlich ein Patient den Satz fallen ließ "... für Ärzte ist es doch normal, dass man 24 Stunden am Tag für die Patienten da ist, egal ob Tag oder Nacht ist, das gehört eben dazu und das erwartet man als Patient auch!" fand ich es zwar nett, dass der Einsatz der "Person Arzt" so hoch bewertet wird. Aber traurig fand ich, dass man lediglich als Beruf (Dienstleister) wahrgenommen wird, das Menschliche dahinter aber völlig ignoriert wird. Was Frauen vor 30 oder 40 Jahren forderten - als gleichwertiger Mensch wahrgenommen zu werden - und was dann zur Emanzipation wurde, das sollte vielleicht auch mal in punkto Arztberuf anfangen: als gleichwertiger Mensch/Beruf wahrgenommen werden mit entsprechendem Einkommen, einem Recht auf einen Feierabend, der nicht nur auf dem Papier existiert, Freizeitausgleich und Fortbildung und dem Recht auf Selbstverwirklichung auch im Privatleben mit einer Familie. Und dem Recht, bei einem inzwischen hochgesetzten Renteneintrittsalter auch noch etwas vom Rentnerdasein zu haben und nicht gleich mit 68 ein Wrack zu sein.

* Name geändert, der Absender des Kommentars ist der Redaktion bekannt

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