- Reportage
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- Julia Rojahn
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- 02.03.2017
Als Anfänger auf der Intensivstation
Jan ist noch nicht einmal seit einem Jahr Arzt – und arbeitet schon seit sechs Monaten auf der Intensivstation. Leben zu retten ist dort bei Weitem nicht seine einzige Aufgabe.
Intensivstation als Einstieg in die Weiterbildung
Jan hat sich mit Absicht auf diese Stelle beworben: Die internistische Uniklinik hat einen guten Ruf, und dass die Assistenzärzte sehr früh auf die Intensivstation rotieren müssen, hat ihn gereizt. „Die meisten sind hier nur wenige Monate auf den Normalstationen, bevor es für ein ganzes Jahr auf die Intensiv geht“, erzählt er. Erst danach darf man allein für Dienste auf anderen Stationen eingeteilt werden. „Das ist quasi eine Spezialität des Hauses“, so Jan. „Vielleicht, weil wir hier auch schwer kranke Patienten noch auf den Peripherstationen versorgen und dort durchaus mal einen ZVK legen oder eine Pleurapunktion machen müssen. Da ist die Intensiv-Erfahrung sehr nützlich.“
Spannend, aber extrem fordernd
Prinzipiell wusste Jan, was ihn erwartet: Zwei Assistenzärzte der Inneren betreuen jeweils zusammen die 11 Betten der Intensivstation, wochentags im 3-Schicht- und am Wochenende im 2-Schicht-System, ein Oberarzt im Hintergrund. Die Arbeit gefällt Jan: „ Schnelle Entscheidungen zu treffen, liegt mir“, meint er. „Ich kann in brenzligen Situationen einigermaßen ruhig und gelassen bleiben und versuche, auch unter Zeitdruck möglichst strukturiert zu handeln und das akute Problem zu lösen.“ Trotzdem: Die langen und unregelmäßigen Dienste sind eine Belastung und machen das Privatleben schwierig. Häufig ist er auch nachts die ganze Zeit auf den Beinen. Denn seine Patienten sind wirklich sehr krank: Schwerpunkt der Klinik ist Gastroenterologie und Hepatologie, die meisten Patienten kommen mit Sepsis oder den Endstadien von Leberzirrhose, Karzinomen oder Pneumonien. Viele sind nicht mehr ansprechbar und werden beatmet.
Routinen und Standards
Gegen die Last der Verantwortung helfen Routinen: „Meist geht es ja vor allem darum, den Kreislauf zu stabilisieren“, so Marteck. „Und bei einer Sepsis ist ganz klar: Der Patient braucht Volumen und eine adäquate Antibiotikatherapie, dann sucht man den Fokus. Beim hämorrhagischen Schock mache ich das und das bzw. rufe da und da an. Ob der Patient vorher eine Pneumonie oder Leberzirrhose hatte, ist akut nebensächlich.“ In solchen Standards sieht der Arzt aber auch eine Gefahr: „Manchmal merke ich, dass ich in Automatismen gerate und ein Programm abspule, ohne noch einmal über Differenzialdiagnosen nachzudenken.“ Sein eigener Anspruch, sich fachlich auf dem neuesten Stand zu halten und immer besser zu werden, bleibt so manchmal auf der Strecke. „Im Nachhinein denke ich dann, dieses oder jenes hätte ich besser machen können“, erzählt er. „Das bisschen extra Medizin, das über den Standard hinausgeht und den Gesamtverlauf optimal gestaltet: Wie läuft die Ernährung? Wann haben wir den letzten Keim gefunden? Stimmt die Sedierungstiefe? Das würde ich gern öfter umsetzen.“
Intensive Medizin – intensive Gespräche
Trotz aller Kenntnisse und Ressourcen der Uniklinik: Oft genug kann Jan nur noch das Sterben seiner Patienten begleiten. Und sich um die Angehörigen kümmern: „Das ist ein enorm großer Teil unserer Arbeit – und viel intensiver als auf den Normalstationen.“ Offizielle Besuchszeit ist 15–17 Uhr, in diesen zwei Stunden versuchen die Ärzte, auch wirklich für Gespräche zur Verfügung zu stehen. Wenn die Angehörigen von weit weg kommen oder berufstätig sind, machen sie aber Ausnahmen. Mit manchen „seiner“ Angehörigen spricht Jan täglich, und inzwischen weiß er ganz gut, wie achtsam und konzentriert man auch dabei sein muss. „Schon das Bild einer Intensivstation ist ja für viele erschreckend. Die ganzen Schläuche und Kanülen, brummende Maschinen, ständig piepst irgendwas – für uns ist das normal, aber nicht für jemanden, der zum ersten Mal hier ist und seinen Angehörigen da liegen sieht.“
Es kommt auf jedes Wort an
Der erste Impuls ist, der Familie gut zuzureden und Zuversicht zu verbreiten. Trotzdem achtet Jan inzwischen sehr darauf, im Gespräch keine falschen Hoffnungen zu wecken: „Schon zu Beginn sage ich ehrlich, dass die Patienten nicht hier wären, wenn sie nicht schwer krank wären. Es kann immer zu einer akuten Verschlechterung kommen, auf die man so gut es geht vorbereitet sein sollte.“ Ist das nicht unnötig grausam? „Nein, im Gegenteil“, meint der Arzt. „Patienten und Angehörige filtern sehr stark. Wenn ich nur einmal ein Wort wie ,stabil' oder ,Fortschritt' in den Mund nehme, erinnert sich z. B. der Ehemann nachher: Der Arzt hat gesagt, meine Frau ist stabiler. Dass ich aber nur von einem Laborwert oder Kreislaufparameter gesprochen habe, der die letzten 12 Stunden stabil war, ist gar nicht angekommen. Das würde uns an seiner Stelle genauso gehen.“ Wenn es später doch zu einer Verschlechterung oder Komplikation kommt, heißt es: „Aber Sie haben doch gesagt, es wird alles gut?!“ Das Vertrauen ist dann erst einmal weg. „Daher male ich lieber etwas schwärzer“, sagt Jan. „Hoffnung gibt es trotzdem immer, und wenn es tatsächlich gut ausgeht, ist nachher auch keiner böse, dass der Arzt immer so pessimistisch war.“
Sterben wird zur Normalität
Belasten ihn manche Schicksale auch nach Dienstende? „Nein, ich kann zum Glück ganz gut abschalten“, meint er. „Und die Patienten sind so schwer krank, dass es oft nicht überraschend ist, wenn sie versterben. Auch wenn es sarkastisch klingen mag: Man bekommt selbst hier eine gewisse Routine.“ Er versucht auch, im Sinne der Patienten zu denken. „Bei vielen kann man schon sagen, dass es letztendlich in Ordnung ist, wenn sie gehen“, sagt er. „Obwohl die Angehörigen natürlich oft sehr trauern.“
Genauso schwierig, wie den Tod zu ertragen, ist es manchmal, eine Entscheidung über die weitere Behandlung zu treffen. „Wenn die Patienten länger auf der Station liegen und einigermaßen stabil sind, muss das Team irgendwann den Mut haben zu fragen: Wo wollen wir mit dem Patienten hin? Was ist in der letzten Woche passiert? Hat das Antibiotikum angeschlagen, oder was können wir ihm sonst anbieten?“ Kommt eine Tracheotomie infrage? Eine Crush-Extubation? Und wenn die Spontanatmung dann nicht einsetzt – Maskenbeatmung oder Reintubieren? Ist evtl. die Verlegung in eine Intensiv-Reha-Klinik angezeigt, die teilweise auch Beatmungsbetten haben?
Hin und wieder erleben Jan und seine Kollegen tatsächlich eine überraschende Genesung. „Das ist ganz wichtig für uns, sonst würden wir das Ganze hier wohl nicht machen.“ Häufig sind das etwas jüngere Patienten oder solche, die kurz vorher noch relativ gesund waren. „Die bringen einfach mehr Ressourcen mit und können auch zwei oder drei schwere Verläufe wegstecken.“
Therapielimitierung
Viel häufiger muss er aber mit Patienten und Angehörigen darüber sprechen, was zu tun ist, wenn der Zustand sich verschlechtert. „Darüber haben sie sich erschreckend oft noch keine Gedanken gemacht“, sagt er. In den Arztbriefen, die seine Patienten mitbringen, füllen die Vorerkrankungen und Diagnosen oft ganze Seiten. „Eigentlich ist doch klar: Irgendwann wird sich eine der Grunderkrankungen akut verschlechtern, und es wäre viel besser, man überlegt vorher mal in Ruhe, was dann sein soll! Aber das wird völlig ausgeblendet.“ Als Mensch kann er die Familien allerdings auch verstehen: „Wer spricht schon gern über den Tod?“
Trotzdem würde es ihm und seinen Kollegen helfen, wenn diese Fragen nicht zum ersten Mal auf der Intensivstation angesprochen werden müssten. Wenn Patientenverfügungen und Vollmachten rechtzeitig vorlägen und ausreichend detailliert wären. Denn falls dann eine akute Pneumonie oder Sepsis kommt oder ein Organ versagt und die Ärzte die Angehörigen fragen: „Möchten Sie, dass wir alles machen?“, können die sich oft nicht zu einem Therapieverzicht durchringen. „In der Akutsituation werden die meisten immer sagen: Natürlich alles machen“, meint Jan. „Es ist ihnen aber evtl. nicht klar, was es heißt, einen multimorbiden, hochbetagten Patienten an die Dialyse zu nehmen oder zu intubieren. Ganz egal, ob wir ihn retten oder nicht – er wird nie mehr so sein wie vorher!“ Und wenn keine ganz klare Verfügung vorliegt oder die Angehörigen sich unsicher sind, sei es auch für die Ärzte leichter, alles zu versuchen. „Wenn es dann nicht klappt, haben wir zumindest alles gegeben."
Dass ein Patient nachher sagt: „Hätten Sie mich doch lieber sterben lassen“, ist dem jungen Arzt noch nicht passiert. „Aber wir wissen oft auch gar nicht, was aus den Patienten wird“, sagt er. „Viele verlassen unsere Station ja sehr früh in die Reha. Sie sind dann zwar bei Bewusstsein, aber oft noch so geschwächt, dass sie sich kaum ausdrücken können. Was sie später über unsere Bemühungen denken, wissen wir nicht.“
Was tun bei Uneinigkeit?
Natürlich gibt es auch Fälle, in denen die Einschätzung der Ärzte und die der Angehörigen deutlich auseinander gehen. „Dann muss man sich fragen: Wie gleichberechtigt sind die Gesprächspartner?“, erzählt Jan. „Sehen wir uns als reiner Dienstleister, der einfach den Wünschen der Auftraggeber folgt – oder begegnet man sich auf Augenhöhe und versucht, eine gemeinsame Lösung zu finden?“ Oft gelingt dies, und alle Beteiligten entwickeln ein gemeinsames Verständnis. „Meist legen wir Therapielimitierungen auch nicht in einem einzelnen Gespräch fest“, sagt Jan. „Es ist ein gemeinsamer Prozess, in dem auch bei den Angehörigen oft die Einsicht kommt, je länger der Patient bei uns liegt und sich sein Zustand nicht bessert.“
Nicht alles ist medizinisch vertretbar
Ein weiterer Punkt ist ihm sehr wichtig, der manchmal vergessen werde: „Es gibt auch eine medizinische Vertretbarkeit oder Indikation! Wenn das ärztliche Team sagt, dieses oder jenes macht medizinisch keinen Sinn, müssen wir das natürlich auch nicht tun.“ Er hat die Erfahrung gemacht, dass man den Angehörigen die Last der Entscheidung auch ein wenig abnehmen muss: „Wenn ich ihnen vermittle, sie haben die Entscheidungsgewalt über Leben oder Tod des Patienten, überfordert sie das fast zwangsläufig.“ Verzichten die Ärzte erst nach „Erlaubnis“ der Familie auf aggressive Therapien und stirbt der Patient anschließend, entwickeln manche Angehörige starke Schuldgefühle. „Die gehen dann nach Hause mit dem Gedanken: Er ist gestorben, weil ich es gesagt habe“, so Jan. „Man muss also aufpassen, nicht zu viel Verantwortung abzuwälzen, einen Teil müssen wir als Ärzte übernehmen.“ Er sagt den Angehörigen auch im Gespräch explizit, dass es nicht darum geht, dass sie ihm die Entscheidung z. B. für oder gegen eine Reanimation abnehmen. „Ich erkläre ihnen ggf., dass das aus meiner ärztlichen Expertise nicht sinnvoll ist und ich es nicht tun würde – und dass sie keinen Entscheidungsdruck spüren sollen. Die meisten sind dann spürbar erleichtert.“
„Er hätte das nie gewollt“
Manchmal erlebt Jan Marteck auch den umgekehrten Fall: Die Angehörigen plädieren für einen Therapieverzicht, die Ärzte sind optimistischer. „Auch hier darf man sich nicht zu sehr als Dienstleister verstehen und gleich die Maschinen abschalten“, meint er. Andererseits kann man sich auch nicht einfach darüber hinwegsetzen, wenn z. B. die Familie glaubhaft machen kann, dass der Patient „so etwas nie gewollt hat“. „Sofern keine ganz klare Patientenverfügung vorliegt, gibt es auch in dieser Situation einen gewissen Findungsprozess“, erzählt Jan. „Dabei berücksichtigen wir durchaus die Vorgeschichte: Wenn eine 85-Jährige die letzten zwei Jahre bettlägrig war und mehr Zeit im Krankenhaus als zu Hause verbracht hat, ist das etwas anderes, als wenn sie sich selbst versorgt und letzte Woche noch ihren Garten gemacht hat.“ Haben die Ärzte den Eindruck, die Angehörigen geben den Patienten vorschnell auf, schlagen sie ihnen z. B. vor, ihm noch einen Versuch zu geben oder abzuwarten, ob eine Verbesserung Bestand hat. „Wenn er sich dann wieder verschlechtert, ist klar, dass wir nicht hinterhergehen – aber Verbesserungen unterstützen wir."
Tipps für Intensiv-Neulinge
Auch wenn sich seine Schilderungen schon erstaunlich erfahren anhören: Jan betont, dass dies v. a. das Ergebnis des intensiven Austauschs im Team ist. „Ich suche immer das Gespräch, ob mit Kollegen oder der Pflege. Man ist so jung und so unerfahren, es wird so viel gefordert – da darf man nicht den falschen Helden spielen.“ Für Neulinge auf der Intensivstation hat er 3 Tipps:
•„Seid euch klar, was auf euch zukommt! Die Intensivstation ist eine ganz eigene Welt, die Arbeit ist hart und die Patienten extrem krank. Diese Herausforderung muss man bewusst annehmen.“
•„Sucht euch rechtzeitig Hilfe! Keiner ist perfekt, und Fehler rächen sich hier sofort. Fragt im Zweifel lieber einmal zu viel als zu wenig – dem Patienten ist nicht geholfen, wenn ihr als Anfänger Experimente macht. Auch den Patienten und Angehörigen gegenüber darf man zugeben, dass man etwas nicht weiß.“
•„Überlegt euch ein Konzept für jeden Patienten! Bei einer akuten Verschlechterung bringt es nichts, wild im Zimmer hin- und herzurennen, hier Blut abzunehmen und dort auf den Monitor zu starren. Statt dessen tritt man kurz zurück, plant die nächsten Schritte und zieht sie dann durch. Damit lassen sich die meisten Notfälle beherrschen.“
Jan wird versuchen, diese Ratschläge auch selbst in seinem verbleibenden halben Jahr auf der Intensivstation zu beherzigen. Und eins weiß er genau: „Egal, wo ich später arbeite – Gesprächen über das Lebensende und den Tod werde ich nicht ausweichen. Den Patienten, den Angehörigen und den ärztlichen Kollegen zuliebe.“