- Kasuistik
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- Claudia Ley
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- 22.03.2013
Brief aus der Praxis, Nr. 6: Meine erste Leichenschau
Claudia Ley arbeitet seit Oktober 2012 in der Inneren Abteilung eines kleineren Kreiskrankenhauses in Südbaden. Passend zum Weiterbildungsziel Allgemeinmedizin wird sie dort insbesondere in der Ambulanz mit einem breiten Spektrum aller denkbaren Krankheiten konfrontiert, denen sie mit vorsichtiger Neugier und möglichst professioneller Ausstrahlung begegnet. Dank der erfahrenen kompetenten Kollegen meistert sie aber auch die etwas kniffligeren Fälle und erweitert tagtäglich den Horizont ihres medizinischen Fachwissens. Foto: C. Ley
Liebe Kollegen im Studium,
Ich habe nach Abschluss meines Studiums während der Einarbeitungszeit in der Inneren Medizin rasch bemerkt, dass man mit dem Thema Tod auch im Stationsalltag viel häufiger konfrontiert wird, als gedacht. Egal, ob es Palliativfälle, Beratung von Angehörigen zwecks Patientenverfügungen oder Seelsorge betrifft, die Angst und Unsicherheit vor dem Lebensende ist täglich spürbar.
Dennoch passiert es mir erst im 5. Monat meiner Weiterbildungszeit, dass eine Patientin während meines Nachtdienstes auf Station verstirbt. Glücklicherweise habe ich mich schon mental auf eine solche Situation vorbereitet, denn terminale Krankheitsstadien ohne weiteren kurativen Therapieansatz sind ab einem gewissen Patientenalter nicht ganz selten. So weiß ich immerhin schon, wo ich die Todesbescheinigung mit ihren endlos vielen Durchschlägen und verwirrenden bürokratischen Fragen finde. Dann gerät meine Aktion aber auch schon ins Stocken, denn tatsächlich ganz alleine durchgeführt habe ich eine Leichenschau noch nie.
Zunächst gilt es festzustellen: Ist meine Patientin denn tatsächlich tot? Gerade bei Palliativfällen wird das Ende quasi herbeigesehnt, die Pflegekräfte sind bereits informiert und kontrollieren regelmäßig die Vitalzeichen, um das Ableben dem behandelnden Arzt melden zu können. Allein diese Meldung reicht aber noch lange nicht aus, um die Patientin offiziell für tot zu erklären, ich muß mich folglich ohne zeitliche Verzögerung vor Ort selbst davon überzeugen, so schreiben es auch die ärztlichen Richtlinien vor.
Wie immer im Medizineralltag ist Dokumentation das halbe (oder eher das ganze?) Leben, also wird der Sterbezeitpunkt sofort gewissenhaft schriftlich festgehalten und die (zunächst noch) unsicheren Todeszeichen wie fehlender Herzschlag und Puls, weite nicht auf Licht reagierende Pupillen und ausbleibende Reaktion auf Schmerzreiz und Ansprache vom Arzt überprüft. Sicherer fühlt man sich natürlich stets, wenn der Patient telemedizinisch überwacht wird und sich auf dem Monitor tatsächlich eine Nulllinie im EKG abzeichnet. Dies ist aber gerade bei älteren moribunden Menschen, deren medizinische Versorgung außer Flüssigkeit und Opiate bereits auf ein Minimum reduziert wurde, um dem Tod möglichst "wenig Steine in den Weg zu legen", selten der Fall. Auf der Intensivstation wird gekämpft, in der Peripherie gestorben, ein unausgesprochenes, aber in meinen Augen dennoch sinnvolles Gesetz. So hart das auch klingen mag, weder ethisch noch ökonomisch gesehen macht es Sinn, diesen Patienten die maximale, lebenserhaltende bzw. -verlängernde Therapie zukommen zu lassen.
Wer den langen, oft qualvollen Weg eines todkranken Patienten einmal miterlebt hat, lernt auch das freundliche, ja fast liebevoll "erlösende" Gesicht des Todes kennen. Das eiserne Festhalten am Leben, welches manchmal nur noch Leiden bedeutet, kann für Arzt und Angehörige des Sterbenden zur wahren Nervenbelastungsprobe werden, denn nichts kostet mehr Kraft, als auch in diesen aussichtslosen Situationen stets tröstend und zuversichtlich an des Patienten Seite zu stehen. Trotzdem hofft man insgeheim, dass dieser Zeitpunkt der Erlösung nicht gerade während des eigenen Nachtdienstes eintritt. So "schön" es nämlich für den Toten auch sein mag, endlich dem irdischen Siechtum entronnen zu sein, für den Assistenzarzt tun sich nun einige Probleme auf: Wie und wann bringe ich die Tatsache möglichst schonend der Familie des Hinterbliebenen bei? Was tue ich, wenn keine Telefonnummer hinterlegt wurde oder unter der angegebenen Nummer niemand erreichbar ist? Benachrichtige ich die Betroffenen vor oder nach der Leichenschau, die ja quasi obligat erst ca. 2 Stunden nach Ableben bzw. Eintritt der sicheren Todeszeichen erfolgen kann.
Es mag vieles geben, was man im Studium oder anhand von Leitlinien lernen kann, aber in solchen Situationen kann man sich (leider) nur auf sich selbst und seine Intuition verlassen. Der Umgang mit trauernden Hinterbliebenen wird wohl während der gesamten ärztlichen Laufbahn ein schwieriges Thema bleiben, in dem auch noch so viel Erfahrung nicht immer weiterhilft.
Umso besser, wenn dann zumindest die Leichenschau und das ordnungsgemäße Ausfüllen der Todesbescheinigung kein Problem mehr darstellt. Ohne Totenschein nämlich keine Bestattung und diese muss nach dem Ableben des Patienten umgehend von den Angehörigen eingeleitet werden, sodass oftmals bereits wenige Stunden nach Todeseintritt vom Bestattungsinstitut die nötigen Unterlagen eingefordert werden. Ein paar Tage zur Seite legen, wie man es mit den endgültigen Entlassbriefen prinzipiell machen kann, ist also nicht drin!
Die Untersuchung des Leichnams muss nach vollständiger Entkleidung erfolgen, weshalb es in der Regel sinnvoller erscheint, dies nicht gerade in Anwesenheit der Angehörigen durchzuführen. Hierbei geht es in erster Linie um die Bestätigung der sicheren Todeszeichen, sprich Totenflecken, die sich in der Regel der Schwerkraft folgend an der Unterseite des Patienten formieren, und die Totenstarre. Rigidität von Kiefer- und Extremitätengelenken wird durch passives Durchbewegen getestet. Abhängig von Fettgewebsmasse, Dicke der Bettdecke und Zimmertemperatur kühlt der Leichnam mehr oder minder rasch ab. Die Augen sollten nach Möglichkeit nach Abschluß der Leichenschau geschlossen sein und von den Pflegekräften eine "Kiefersperre", welche das Offenstehen des Mundes verhindert, angebracht werden, da nach endgültigem Eintreten der Totenstarre eine Korrektur der Stellung kaum noch vorgenommen werden kann, für die Beerdigungszeremonie aber verständlicherweise ein friedliches und "lebensechtes" Aussehen gewünscht wird.
Da in der Todesbescheinigung das Vorliegen sicherer Todeszeichen (Tab.1) gefordert wird, ist es organisatorisch gesehen "praktischer", zunächst nach initialer Feststellung des Todes, was bei terminalen Patienten mit finalem Lungenrasseln nicht allzu schwer fällt, die Angehörigen zeitnah einzubestellen und die formale Leichenschau erst danach vorzunehmen. Personalien, Todeszeitpunkt und Todesursache können bis dahin bereits auf dem komplexen Formular eingetragen werden. Die unendlich vielen Durchschläge machen zum einen ein kräftiges Aufsetzen des Stiftes nötig, zum anderen muss auf ein zeitgerechtes Abtrennen von "vertraulichem" und "nicht-vertraulichem" Teil geachtet werden, da sich diese in gewissen Schriftpartien unterscheiden und was einmal durch das Durchschlagspapier übertragen wurde, lässt sich leider nicht mehr ausradieren.
Doch auch emotional hinterlässt der Tod meiner Patientin seine Spuren bei mir, komme ich mir doch wie eine Verbrecherin oder Ruhestörerin vor, während ich Kiefer- und Armgelenkbeweglichkeit teste und ihr ein letztes Mal "gewaltsam" die Augen öffne, um die Lichtreaktion zu überprüfen. Ich gestehe, nach diesem letzten Dienst, den ich an meinem Schützling verrichte, fühle ich mich die gesamte restliche Nacht beobachtet und verfolgt. Sind da nicht tapsende Schritte hinter mir auf dem Gang? Blickt mir nicht das vorwurfsvolle Gesicht der Verstorbenen aus dem Spiegel entgegen? Alleine ins Arztzimmer traue ich mich nicht mehr und leiste stattdessen lieber der Nachtschwester in der Teeküche Gesellschaft. Aber ich darf euch beruhigen: die Toten scheinen keine Weißkittel zu mögen, zumindest haben sie mich auch nach allen folgenden Leichenschauen bisher in Ruhe gelassen.
Also weiterhin viel Optimismus und Zuversicht auf dem Weg in den Arztberuf! – wünscht euch eure (jetzt gar nicht mehr ängstliche)
Claudia