- Kasuistik
- |
- Claudia Ley
- |
- 16.09.2014
Brief aus der Praxis, Nr.19: Der Fußball im Bauch
„Viel Lärm um nichts“, das sagte nicht nur einst Shakespeare, das sagen auch oft angehende Assistenzärzte angesichts mancher Krankenhauseinweisung, deren Sinn im Nachhinein in Frage gestellt wird. Als „klassisches“ Beispiel stellt Claudia Ley hierzu eine ihrer Patientinnen, Frau Z., vor.
Claudia Ley arbeitet seit Oktober 2012 in der Inneren Abteilung eines kleineren Kreiskrankenhauses in Südbaden. Passend zum Weiterbildungsziel Allgemeinmedizin wird sie dort insbesondere in der Ambulanz mit einem breiten Spektrum aller denkbaren Krankheiten konfrontiert, denen sie mit vorsichtiger Neugier und möglichst professioneller Ausstrahlung begegnet. Dank der erfahrenen kompetenten Kollegen meistert sie aber auch die etwas kniffligeren Fälle und erweitert tagtäglich den Horizont ihres medizinischen Fachwissens. Foto: C. Ley
Liebe Kolleginnen und Kollegen im Studium,
Frau Z. war bereits seit einer Woche auf unserem Patientenplan zur stationären Aufnahme vorgemerkt, als Einweisungdiagnose wurde eine mysteriöse fußballgroße Raumforderung im Oberbauch genannt. Kein Wunder, dass wir ärztliche Kollegen uns um diese Patientin rissen und gespannt auf ihre Ankunft warteten. Ich zog schließlich das große Los und durfte Frau Z. auf meiner Stationsseite unterbringen. Die nette 84-jährige Dame entpuppte sich als wahres Sinnbild aller kardiovaskulären Risikofaktoren: massiv übergewichtig bei nachgewiesener Hyperlipidämie, arterieller Hypertonie und insulinpflichtigem Diabetes mellitus Typ II. Die KHK mit Zustand nach Herzinfarkt und residueller Linksherzinsuffizienz NYHA III machte die Sache keineswegs besser. Abgesehen von all diesen Komorbiditäten, hätte sie nun seit ca. einem Jahr eine zunehmende „Schwellung“ des Bauches bemerkt, die ihr jedoch keinerlei Schmerzen oder Beschwerden bereite. Der Stuhlgang sei regelmäßig und unauffällig, soweit sie das mit ihrer fortgeschrittenen diabetisch bedingten Makuladegeneration noch beurteilen könne.
Ich selber fand den Bauch bei Adipositas permagna nur eingeschränkt beurteilbar, man hätte sicherlich mehrere Fußbälle darin unterbringen können. Aus den vielen Vorbefunden der Patientin wusste ich jedoch, dass vor neun Jahren tatsächlich ein Endometriumcarcinom FIGO I B festgestellt und daraufhin Uterus und Adnexe komplett entfernt wurden. Eine Spätmetastasierung war also nicht ganz ausgeschlossen. Ich wagte mich also mutig an das „Objekt der Begierde“ und palpierte bestmöglich das großflächige Areal vor mir. Nein, eine abgrenzbare Raumforderung ließ sich trotz aller Bemühungen nicht ertasten. Im Gegenteil, das Abdomen stellte sich weich und indolent dar und schien bei tympanischem Klopfschall und regelrechten Darmgeräuschen hauptsächlich aus Verdauungstrakt zu bestehen. Etwas ratlos bat ich Frau Z., sich einmal im Bett aufzusetzen: und siehe da: plötzlich war sie sichtbar, die geheimnisvolle Vorwölbung mittig über dem Bauchnabel, tatsächlich etwa fußballgroß. Kaum ließ die Spannung der Bauchmuskulatur jedoch wieder nach, verschwand auch die mysteriöse Erhebung. Alles in allem das typische Bild einer Rektusdiastase, die ich noch selten derart ausgeprägt gesehen hatte. Die Laparotomie in der Vergangenheit, sowie das massive Übergewicht der Patientin stellten jeweils einen Risikofaktor für einen Bauchwandbruch dar. Trotzdem, ohne weitere Bildgebung war mein Verdacht schlecht zu beweisen.
Kurzentschlossen rollte ich schon das Sonographie-Gerät heran, wurde aber im letzten Moment von der Krankenschwester am Betreten des Patientenzimmers gehindert: Frau Z. hatte sich nämlich in der Zwischenzeit (in der ihre elektronische Krankenakte eingetroffen war) als „gebrandmarkte“ ESBL-Trägerin entpuppt. Prompt kamen die rigiden Isolationsvorschriften zum Tragen, die jegliche weitere Diagnostik wie EKG, Röntgen oder Ultraschall bis zum endgültigen Ausschluss von Infektiosität unmöglich machten. Wie entzückend! Erstmalig konfrontiert mit einer solchen Problematik, vertiefte ich mich etwas näher in die hausinternen Hygieneregeln: ESBL, also „extended-spectrum-betalactamase“-bildende Bakterien, werden nämlich mittlerweile in vier verschiedene Klassen eingeteilt: in sogenannte MRGN = multiresistente gramnegative Erreger. Dabei wird das Bakterium auf seine Resistenz gegen vier verschiedene Antibiotika-Gruppen getestet: Penicilline, Cephalosporine, Chinolone und Carbapeneme. Ist der Keim resistent auf eine der vier Gruppen, so spricht man von „MRGN1“, bei Resistenz auf zwei der vier Gruppen von „MRGN2“ u.s.w.. Klinisch relevant sind heutzutage nur die MRGN3 und -4-Fraktion, da diese tatsächlich eine Isolation des Patienten während eines stationären Aufenthaltes erfordern.
Soweit, so gut, ich war schon mal ein bisschen schlauer. Allerdings waren die ESBL-bildenden E. coli von Frau Z. zuletzt 2011 in einer Stuhlprobe aufgefallen, ein Zeitpunkt, zu dem diese neuartige MRGN-Einteilung noch gar nicht existierte. Es verlangte mehrere Telefongespräche mit den Kollegen des mikrobiologischen Labors, um diese Einteilung bei Frau Z.s Erreger quasi im Nachhinein vorzunehmen. Nach langem Hin und Her entpuppte sich der damalige E. coli als penicillin-, cephalosporin- und chinolonresistent, ergo MRGN3. Paradoxerweise hatte man erst im Januar dieses Jahres drei Stuhlproben der Patientin dort eingeschickt, in denen der betreffende Keim nicht mehr nachweisbar gewesen war. Doch mit ESBL-Erregern ist es ähnlich wie mit Herpesviren: einmal ESBL-Nachweis, für immer ESBL-Träger. Ein negativer Befund hat nur jeweils vier Wochen Gültigkeit, danach ist der Patient wieder als primär positiv anzusehen, bis ein erneuter negativer Nachweis erbracht wurde. Damit war der Kampf für eine Entisolierung von Frau Z. vorerst verloren und unsere diagnostischen Möglichkeiten auf eine Entnahme von drei Stuhlproben innerhalb der nächsten drei Tage begrenzt.
In dieser Zeit geriet Frau Z., da in ihrer „Isolationshaft“ tatsächlich auf eine herzinsuffizienzgerechte Trinkmenge von 1,5 Liter pro Tag beschränkt, ins akute prärenale Nierenversagen, offensichtlich hatte sie zu Hause öfters mal „über den Durst“ getrunken, und der aufmerksame Hausarzt hatte die diuretische Therapie in der Dosierung entsprechend angepasst. Am dritten Tag ihres Aufenthalts, just nach Abschicken der letzten Stuhlprobe, ergab sich dann im Gespräch mit der Tochter der Patientin, dass eine Operation, unabhängig vom Resultat der Untersuchungen des „Tumors“, ohnehin nicht mehr gewünscht werde. Aus Höflichkeit verbiss ich mir die Frage, warum Frau Z. dann überhaupt zu uns eingewiesen wurde. Stattdessen sorgte ich brav für eine Restabilisierung ihrer Nierenfunktion und erbrachte am fünften stationären Tag, nach Vorlage der dreifach ESBL-negativen Stuhlkulturen den sonographischen Nachweis eines Bauchwandbruchs ohne Inkarzerierung bei massiver Rektusdiastase. Eine Operationsindikation wurde erstens nicht gestellt und ja zweitens bereits abgelehnt.
Somit konnte ich Frau Z. nach einer Woche stationärer Therapie in unverändertem Zustand, aber selber um einiges klüger geworden, wieder nach Hause entlassen. Und die Moral von der Geschicht‘: Fußball im Bauch – das gibt es nicht – ESBL schon … mit Isolierungspflicht.
Viel Spaß beim weiteren Studium, insbesondere beim Fach Hygiene und Mikrobiologie,
wünscht euch eure Claudia