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  • Doris Huber
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  • 12.04.2016

Irren ist ärztlich – Fehlermanagement in der Medizin

Menschen machen Fehler. Im letzten Jahr starb jeder tausendste Klinikpatient an einem Behandlungsfehler. Völlig vermeiden lassen sich solche Ereignisse nicht – dafür ist die Medizin zu komplex. Wer aus ihnen lernt und Konsequenzen zieht, kann aber dazu beitragen, dass sie deutlich reduziert werden.

 

OP-Situation ©Kzenon-Fotolia.com

Bei jeder OP können Fehler passieren. Es gibt aber viele Ansätze, diese zu vermeiden. ©Kzenon-Fotolia.com

 

"Es war Freitagnachmittag und der OP war nur mehr spärlich besetzt. Plötzlich machte es im Einser-Saal einen fürchterlichen Rumms. Und der deutlich übergewichtige Patient lag samt Intubationsbesteck im Rachen nackt am Boden.“, erzählt Dr. Rammler, Anästhesist. Und weiter: „Schon während der Hautnaht hat der Patient ‚gebuckelt‘ und zeigte Aufsteh-Tendenzen. Jedoch war der OP-Helfer beim Herbeiholen des Wenzeltisches zu langsam und außer mir war niemand mehr im Raum. Ich war gerade mit der Dokumentation beschäftigt und hatte den Patienten nicht im Blick, sodass uns der 160 Kilogramm schwere Mann einfach vom OP-Tisch fiel. Ich habe ihn dann rasch am Boden liegend extubiert und mit Hilfe des OP-Helfers zum Lagerungstisch geführt. Mein kurzer Body-Check und die knappe neurologische Untersuchung zeigten Gott sei Dank keine Auffälligkeiten. Da sind einfach viele kleine Fehler akkumuliert. Zum Glück war der Herr gut gepolstert.“

Eine offene Fehlerkultur hält Einzug in den Klinikalltag

Herr Dr. Rammler erzählte von diesem Fall in der sogenannten Morbiditäts- und Mortalitätskonferenz (M&M). Dabei handelt es sich um konstruktive und kritische Auseinandersetzungen mit der eigenen Vorgehensweise. Gleichzeitig sind sie ein qualitätssicherndes Instrument, das sowohl kontrollierend, korrigierend und präventiv wirkt. Der Fokus in der Konferenz liegt immer auf den Schlussfolgerungen für die Zukunft. Also: Was können wir besser machen?

Die Geschichte dieser Konferenzen reicht bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts zurück. Bereits damals haben Ärzte verstanden, dass es wichtig ist, sich auszutauschen, um aus eigenen und den Fehlern anderer zu lernen. Damals wurden noch viele von ihnen als ‚Nestbeschmutzer’ angesehen und verloren ihre ärztlichen Rechte. Heute sind M-&M-Konferenzen oft fixer Bestandteil im Klinikalltag – entweder monatlich oder alle zwei Monate.

Eine umfassende Statistik über medizinische Behandlungsfehler existiert in Deutschland nicht. Die Zahl der gerichtlich anerkannten Behandlungsfehler liegt derzeit bei rund 12.000 pro Jahr. Dr. Andreas Crusius, Vorsitzender der Ständigen Konferenz der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Bundesärztekammer, plädiert für eine offene Fehlerkultur.

Er betonte bei der Vorstellung der Behandlungsfehler-Statistik 2014, dass die steigende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen die Arbeitsbelastung in Kliniken und Praxen stetig erhöht. So ist die Zahl der ambulanten Behandlungsfälle in Deutschland in den letzten zehn Jahren um mehr als 160 Millionen auf fast 700 Millionen und der stationären Patienten um 1,8 auf 18,6 Millionen gestiegen. Obwohl in Praxen nahezu gleich viel Ärzte tätig sind wie im Krankenhaus, ist der Klinikbereich deutlich stärker von Fehlervorwürfen betroffen als der Bereich der niedergelassenen Ärzte und Belegärzte – aktuell ca. 70 zu 30 Prozent.

Laut Studien der Bundesärztekammer waren im letzten Jahr Hüft- und Kniegelenksoperationen die häufigsten Eingriffe, die zu Patientenklagen führten. Oft werden falsche Endoprothesen implantiert, ungeeignete Füllmaterialien verwendet oder Operationsutensilien im Körper des Patienten vergessen. Die chirurgischen Fächer stehen auch deswegen häufiger im Fokus, weil Fehlern in diesem Fach viel exakter nachgegangen werden kann: durch den OP-Plan und die gute Dokumentation ist es leichter, Fehler aufzudecken.

 

Qualitätssicherung kann Fehler verhindern

Die Zahlen der letzten Gesundheitsberichterstattung des Bundes zeigen auch, dass knapp die Hälfte der Fehlervorwürfe auf Koordinations- und Dokumentationsmängel beruhen. Nur zwei Prozent aller Fehlervorwürfe beziehen sich auf Notfallsituationen. Somit müsste sich ein Großteil der Fehlervorwürfe bzw. der tatsächlich nachgewiesenen Fehler durch qualitätssichernde Maßnahmen vermeiden lassen können. Jedoch ist hier die Haltung vieler Ärzte gegenüber Anamnese- und Aufklärungsgesprächen problematisch. Oft erkennen Ärzte nicht, dass man durch diese Gespräche potenzielle Missverständnisse vermeiden kann.

Die effektivste Form des Lernens aus Fehlern ist die systematische Erfassung auch der risikobehafteten Situationen, der Beinahe-Fehler und nach ihren Abwendungs- bzw. Vermeidungstechniken zu fragen. Als besonders effektiv gilt das bekannteste digitale Berichtsystem‚ Critical Incident Reporting System (CIRS), das bereits in vielen deutschsprachigen Kliniken eingesetzt wird. Es erlaubt das Registrieren von Fehlern ebenso wie das Melden von Beinaheschäden, positiven Erfahrungen und Lösungsvorschlägen.

Wichtiges Merkmal von CIRS: die Berichte enthalten keine Daten, die Rückschlüsse auf Personen oder Institutionen erlauben. Hier könnt ihr die Berichte lesen: www.CIRSmedical.de (unter "Lernen"). Die Auswertungen zeigen, dass sich im Schnitt 300 Beinahefehler ereignen, bevor ein richtiger Fehler passiert. So werden katastrophale Ereignisse in der Regel nicht durch ein einziges Missgeschick verursacht, sondern sind meist Resultat ganzer Fehlerketten.


Letztlich ist jeder Fehler ein Fehler zu viel!

Beispielhaft gehen die Schweden voran, wo zwar – anders als in Deutschland – jeder Fehler meldepflichtig ist, jedoch mit dem Ziel des Austausches und des gemeinsamen Lernens daran. Denn nur so kann die Patientensicherheit verbessert werden. Ein weiterer Ansatzpunkt ist ein intensiver Trainingsblock zum Thema ‚Arzt-Patienten-Kommunikation’, den alle Mitarbeiter eines Teams verpflichtend belegen müssen. Damit soll eine fehlervermeidende Kommunikation zwischen Arzt und Patient sicher gestellt werden.

Auch die Einstellung des leitenden Arztes ist von Bedeutung. Nur wenn er seinem Team signalisiert, dass ein Fehlereingeständnis keine persönlichen Konsequenzen hat, werden seine Mitarbeiter offen über eigene Versäumnisse sprechen.

Sind Fehler identifiziert, kann konstruktiv daran gearbeitet werden Vermeidungsstrategien zu entwickeln. Ein Lösungsweg um Patientenverwechslungen zu vermeiden, ist die exakte Markierung einer Operationsstelle am noch wachen Patienten. Ein neues, sehr effektives Verfahren ist das „Team Time-out“, bei dem sich das Operationsteam vor OP-Beginn dreißig Sekunden Auszeit nimmt, um sich die bevorstehenden Abläufe, inklusive möglicher Komplikationen zu vergegenwärtigen. Wie man heute weiß, kann mit dieser Methode das OP-Outcome signifikant verbessert werden.

Chaotische Verläufe von Notfällen lassen sich vermeiden, wenn im Team spezielle Situationen an Simulatoren geübt werden. Für leitende Ärzte ist wichtig, dass sie sich auch in Krisenmomenten Zeit zum Nachdenken nehmen. Bewährt hat sich die sogenannte „Stoppregel“: zehn Sekunden Inne halten für zehn Minuten Aktion. Wenn man unsicher oder gestresst ist, sollte man umso langsamer und kontrollierter arbeiten, um zu verhindern jemand anderem zu schaden.

 

Niemand ist vor Fehlern gewappnet

Weil Fehler trotz aller Vorsicht passieren, muss man als Mediziner damit rechnen, dass einem im Laufe seiner Karriere auch mal ein Missgeschick unterläuft, bei dem ein Patient zu Schaden kommt – mit straf- oder zivilrechtlichen Folgen. Parallel zur Entwicklung der offenen Fehlerkultur ist 2013 ein neues Patientenrechtegesetz in Kraft getreten, wodurch Betroffenen ermöglicht wird, Schadensersatzansprüche mithilfe ihrer Krankenkasse leichter durchzusetzen.

Jeder Versicherte hat nun Anspruch auf ein kostenloses Gutachten. Die Beweislast liegt grundsätzlich beim Patienten. Er muss dem Arzt das angeklagte Fehlverhalten nachweisen. Dabei hat der Patient Anspruch auf Einsicht in seine Patientenakte, nicht hingegen in persönliche Notizen oder andere Aufzeichnungen des Arztes. Nur bei groben Behandlungsfehlern ist der Arzt in der Pflicht nachzuweisen, dass der Fehler nicht Ursache des entstandenen Schadens ist.


Zu betonen ist hier, dass die Zahl der festgestellten Fehler im Vergleich zur Gesamtzahl der ambulanten und stationären Patientenzahl im Promillebereich liegt. Auch ist positiv zu erwähnen, dass es im Jahr 2014 zu ein Prozent weniger gerichtlich anerkannten Behandlungsfehlern in Deutschland gekommen ist. Wir wissen heute, dass jedem noch so guten Arzt mal ein Fehler passiert – entscheidend ist nur, wie wir damit umgehen.

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