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  • Wiesemann, Biller-Andorno
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  • 10.02.2012

Medizinethik - von Fall zu Fall: 1. Fallgeschichte

Wie reagiert man, wenn eine "Zeugin Jehovas" eine lebensnotwendige Bluttransfusion ablehnt?

 

Eine Zeugin Jehovas muss sich einer Operation unterziehen. Sie erklärt gegenüber den behandelnden Ärzten, dass sie eine eventuell erforderliche Bluttransfusion ablehnt und überreicht ihnen ein Dokument, in dem sie einen Bevollmächtigten bestimmt, der Mitglied der gleichen Glaubensgemeinschaft ist.

Unmittelbar nach der Operation treten bei der Patientin schwere Komplikationen auf. Ohne Bluttransfusionen, so die Einschätzung des behandelnden Arztes, reduzieren sich die Heilungschancen auf Null. Er wendet sich an das Vormundschaftsgericht und bittet um die Bestellung eines Betreuers für die Patientin. Die Richterin sucht die bewusstlose Patientin im Klinikum auf und bestellt deren Ehemann zum vorläufigen Betreuer.Dieser stimmt der Transfusion zu, auch im Hinblick auf den gemeinsamen Sohn. Die Patientin überlebt und legt eine Verfassungsbeschwerde gegen den Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit und ihr Recht auf Religionsfreiheit ein.

 

Hat der behandelnde Arzt richtig gehandelt?

  • Lerntext zu diesem Fall

    Allgemeines

    Die Autonomie von Patienten zu respektieren bedeutet, den Patienten als Partner zu betrachten. Manche Ethiker gehen sogar soweit, die Patient-Arzt-Beziehung lediglich als eine Art Vertrag anzusehen, in dem geregelt wird, welchen Wünschen des Patienten ein Arzt wie nachzukommen hat. Die Patient-Arzt-Beziehung hat tatsächlich Züge eines Vertrags, der schon durch die Konsultation des Patienten, d. h. ohne weitere schriftliche Absprache, zustande kommt und Ärzte damit an grundlegende rechtliche Pflichten bindet, wie z. B.

    • an die Pflicht der Fürsorge für den Patienten
    • die Pflicht der sorgfältigen Aufklärung
    • die Schweigepflicht.

    Dennoch stehen Ärzte und Patienten nicht ausschließlich in einer Vertragsbeziehung zueinander. Ein Kranker befindet sich gegenüber dem Arzt oft in einer Notsituation, die verhindert, dass er als selbstbewusster und rationaler Partner agieren kann. Die Krankenhaussituation, der unverständliche Jargon der Mediziner und die Autorität von Ärzten schüchtern viele Patienten ein. Die Autonomie von Patienten ist also zwar dem Prinzip nach gegeben, faktisch aber oft eingeschränkt. Selbstbestimmung muss gegen ungünstige institutionelle Bedingungen erarbeitet und gelegentlich sogar erkämpft werden.

     

    Ärzte und Patienten als Partner

    Selbstbestimmung ist die Fähigkeit, im Einklang mit den eigenen Zielen zu handeln. Patienten aber handeln aus Unkenntnis, Gewohnheit oder Stress oft selbstschädigend, z. B. indem sie sich ungesund ernähren. Aufgabe von Ärzten ist es auch, auf eine Veränderung solcher selbstschädigenden Verhaltensweisen hinzuwirken. Der Arzt ist dem Patienten dabei behilflich, seine Situation zu erkennen, für sich zu entscheiden und sein Verhalten im eigenen Interesse gegebenenfalls zu ändern. Dazu müssen Ärzte aber versuchen, ihre Patienten und deren persönliche Wertvorstellungen zu verstehen, um ihnen angemessene Hilfestellung bieten zu können. Das Ideal der Patient-Arzt-Beziehung ist also das einer Partnerschaft, in der beide voneinander lernen. Diese Partnerschaft basiert wiederum auf dem Vertrauen zwischen Patient und Arzt und auf der Fähigkeit des Arztes, sich auf den Patienten einzulassen.Auf diese Art und Weise können Konflikte zwischen widerstreitenden moralischen Prinzipien (z. B. Selbstbestimmung des Patienten versus Fürsorgepflicht des Arztes) oft in einem gemeinsamen Verständigungsprozess aufgelöst werden.

    Selbstbestimmte Entscheidungen setzen Folgendes voraus:

    • Der Arzt hat den Patienten umfassend und allgemeinverständlich über seine Krankheit bzw. Vor- und Nachteile der geplanten Maßnahme aufgeklärt.
    • Der Arzt hat sich ein Bild davon verschafft, ob der Patient seine Erklärungen auch verstanden hat.
    • Der Patient kann ohne Zwang frei entscheiden.
    • Der Patient ist einwilligungsfähig.

    Ein Patient kann übrigens nur dann rechtskräftig in eine vorgeschlagene Maßnahme einwilligen, wenn dafür auch eine ärztliche Indikation besteht. Unsinnige Maßnahmen können also auch durch die Einwilligung des Patienten nicht rechtmäßig werden. Eine Einwilligung, die diesen Kriterien genügt, nennt man im angelsächsischen Sprachraum Informed Consent. Eine wirksame Einwilligung ist Voraussetzung für alle präventiven, diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen sowie für jede Forschung am Menschen.

     

    Einwilligung und Einwilligungsfähigkeit

    Die Einwilligungsfähigkeit des Patienten muss vom Arzt geprüft werden. Sie ist nicht mit der Geschäftsfähigkeit gleichzusetzen. Einwilligungsfähig muss der Kranke zum Zeitpunkt der Einwilligung und auch nur für die vorgeschlagene Maßnahme sein. So kann z. B. ein Jugendlicher, der nicht geschäftsfähig ist, dennoch rechtskräftig seine Einwilligung – z. B. in die Behandlung eines Armbruchs – geben, falls er in der Lage ist, Wesen, Tragweite und Bedeutung des Eingriffs zu verstehen und seinen Willen danach zu bestimmen. Einwilligungsfähigkeit ist also kein absoluter, sondern ein relativer Begriff; er hängt ab von der aktuellen geistigen Leistungsfähigkeit des Betroffenen im Verhältnis zur Komplexität des Eingriffs.

    Einwilligungsfähigkeit hat nicht nur eine kognitive, sondern auch eine emotionale Komponente: Wenn z. B. eine schwer depressive Patientin nicht in der Lage ist, inneren Anteil an ihrer Behandlung zu entwickeln, kann sie möglicherweise keine angemessene Entscheidung treffen. Für die Überprüfung der Einwilligungsfähigkeit, die z. B. in der Psychiatrie von großer Bedeutung ist, wurden Testinstrumente entwickelt (z. B. das MacArthur Competence Assessment Tool [MacCAT]).

    Was aber ist, wenn ein Patient trotz umfassender Information eine aus der Sicht der behandelnden Ärztin unsinnige Entscheidung trifft, z. B. wenn ein junger Mensch die Behandlung einer lebensbedrohlichen Tumorerkrankung ablehnt, obwohl durch Chemotherapie Heilungsraten von mehr als 80% zu erzielen sind? Zu fragen ist dann, ob dieser Mensch authentisch, d. h. im Einklang mit seinen sonstigen Lebenszielen, handelt. Ist das nicht der Fall, könnte die Einwilligungsfähigkeit auf Grund einer psychischen Erkrankung eingeschränkt sein. Andernfalls muss auch einem solchen Wunsch aus Respekt vor der Selbstbestimmung nachgegeben werden.

     

    Entscheidungen bei einwilligungsunfähigen Patienten

    Oft haben Ärzte und Pflegende mit Patienten zu tun, die nicht oder nur beschränkt einwilligungsfähig sind. In einer Notfallsituation, in der niemand sonst befragt werden kann, kann ein Arzt die notwendigen Entscheidungen im mutmaßlichen Interesse des Patienten allein treffen (so genannte Geschäftsführung ohne Auftrag).

    Gibt es einen gesetzlichen Stellvertreter, wie z. B. bei Kindern die Eltern oder bei dementen Patienten einen gesetzlichen Betreuer, so muss dessen stellvertretende Einwilligung eingeholt werden. Eltern oder Betreuer sind dabei gehalten, im Interesse des Betroffenen zu entscheiden. In der Kinder- und Jugendmedizin setzt sich darüber hinaus immer mehr die Auffassung durch, auch Kleinkinder schon als Partner in der Behandlung ernst zu nehmen und sie an den medizinischen Entscheidungen zu beteiligen. Dies entspricht dem Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention, in dem gefordert wird, die Meinung des Kindes in allen das Kind berührenden Angelegenheiten angemessen und entsprechend seines Alters und seiner Reife zu berücksichtigen. Ärzte sind also gehalten, sich der Kooperation der Kinder zu versichern.

    Spätestens ab dem Schulalter können Kinder schon einfach gehaltene Aufklärungstexte lesen und verstehen. Jugendliche können unter Umständen auch ohne Zustimmung ihrer Eltern einer Ärztin einen Auftrag erteilen; beispielsweise dann, wenn es um die Verschreibung eines Verhütungsmittels geht und sie ein besonderes Interesse haben, die Eltern nicht einzubeziehen. Hat ein Arzt deutliche Anhaltspunkte dafür, dass der gesetzliche Stellvertreter gegen die Interessen des Betroffenen handelt, so kann er das Vormundschaftsgericht anrufen. Im Fall von Kindesmisshandlung oder -missbrauch kann das Jugendamt eingeschaltet werden.

    Viele einwilligungsunfähige Patienten haben jedoch keinen gesetzlichen Stellvertreter – entweder, weil die Krankheit überraschend kam oder weil sie nicht vorgesorgt haben. In diesem Fall sollten die Entscheidungen dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen entsprechen. Dazu müssen sich die Ärzte ein Bild von den Wert- und Glaubensvorstellungen des Betroffenen machen und ihr Handeln danach ausrichten. Es empfiehlt sich, frühzeitig, d.h. vor dem Eintreten einer Einwilligungsunfähigkeit, Gespräche mit Patienten über ihre Einstellungen zu Krankheit und Sterben zu führen. Wichtig ist zudem, das gesamte betreuende Team in die Entscheidung mit einzubeziehen, um die Kenntnis des Patienten und das Einfühlungsvermögen von möglichst vielen Beteiligten zu nutzen. Pflegende nehmen die Interessen von Patienten oft anders wahr als Ärzte. Auch die Angehörigen von Patienten sollten dabei mit einbezogen werden, weil sie im Normalfall am ehesten in der Lage sind, deren Wünsche nachzuvollziehen. Ärzte oder auch Angehörige können zudem die Möglichkeit nutzen, beim Vormundschaftsgericht die Bestellung eines Betreuers zu veranlassen. Die Betreuung kann z. B. nur für Entscheidungen in medizinischen Fragen ausgesprochen werden. Sie ist also ein wesentlich flexibleres Instrument als die zu Recht gefürchtete Entmündigung des Patienten.

    Einige Menschen nutzen die Möglichkeit, zu Zeiten körperlicher und geistiger Unversehrtheit eine Patientenverfügung aufzusetzen, in der sie festlegen,welchen Maßnahmen sie im Fall einer Einwilligungsunfähigkeit zustimmen würden. Oft wird in einer Vorsorgevollmacht gleichzeitig verfügt, welche Person gegebenenfalls stellvertretend für den Betroffenen entscheiden soll. Diesen Verfügungen wird von deutschen Gerichten inzwischen durchaus eine Verbindlichkeit für das Handeln von Ärzten zuerkannt, vor allen Dingen dann, wenn sie wohl überlegt und nicht veraltet scheinen. Auch der nur mündlich gegenüber Zeugen geäußerte Wunsch von Patienten kann in diesem Sinn als Entscheidungshilfe herangezogen werden.

     

 

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Die Kursthemen:

Verweigerung einer Transfusion aus religiösen Gründen - Patientenautonomie und Einwilligungsfähigkeit
Fall 1

Selektion eines Embryos bei In-vitro-Fertilisation - Reproduktionsmedizin
Fall 2

Thalassämie in Zypern - Genetisches Screening
Fall 3

Postmortalspende: Anfrage bei den Angehörigen                                                                                              Fall 4

Therapieabbruch bei einer Patientin im Wachkoma - Sterbehilfe und Sterbebegleitung
Fall 5

Suizidgefährdeter Physiker - Betreuung und Zwangsbehandlung in der Psychiatrie
Fall 6

Sektion von Fröschen im Medizinstudium - Kritik am Tierversuch und ethische Diskussion
Fall 7

Stammzelltherapie bei Parkinson - Forschung am Menschen
Fall 8

Gute klinische Praxis: Gynäkologische Untersuchung einer Patientin in Narkose
Fall 9

 


Die Inhalte dieses Angebots stammen aus dem Buch "Medizinethik" von Claudia Wiesemann und Nikola Biller-Andorno.

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