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  • Wiesemann, Biller-Andorno
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  • 24.09.2007
  • Organspendeausweis - Foto: fovito/fotolia.com

    Liegt ein Organspendeausweis vor, ist nach gültigem Transplantationsgesetz eine Organentnahme zulässig.

     

Medizinethik - von Fall zu Fall: 4. Fallgeschichte

Postmortalspende: Anfrage bei den Angehörigen

Ein 40-jähriger Gymnasiallehrer erleidet bei einem Autounfall schwere Kopfverletzungen. Trotz Maximalversorgung wird nach zwei Tagen der Hirntod festgestellt. Die Ehefrau ist nach der Mitteilung des Befundes einem psychischen Zusammenbruch nahe. Sie hat Weinkrämpfe und äußert verzweifelt, sie wisse nicht, wie sie das ihren drei Kindern sagen könne und was nun überhaupt werden solle. Nach stundenlangem Zuspruch auf Station geht sie nach Hause. Es wird vereinbart, dass sie am darauf folgenden Tag mit den Kindern wiederkommt, um Abschied zu nehmen.

In der Brieftasche des Patienten findet sich ein zehn Jahre alter Organspendeausweis. Der Stationsarzt nimmt sich deshalb vor, die Ehefrau oder andere Familienmitglieder am nächsten Tag auf die Möglichkeit einer Organspende anzusprechen. Das Pflegepersonal, das sich mit großem Engagement um die Hinterbliebene gekümmert hat, wendet sich vehement gegen eine solche Anfrage, die in dieser Situation eine Zumutung sei und die Angehörigen völlig überfordere. Das Thema kommt im Rahmen der Oberarztvisite zur Sprache.

Wie sollte die Oberärztin den Konflikt zu lösen versuchen?

  • Lerntext zu diesem Fall

    Einführung

    Eine Alternative zur Lebendspende ist die Entnahme von Organen bei Toten. Seit 1968 ist in Deutschland oder auch den USA die Organentnahme bei Hirntoten zulässig. Ende 1967 hatte der südafrikanische Chirurg Christiaan Barnard unter spektakulären Umständen das erste Herz – das Herz einer bei einem Verkehrsunfall verunglückten Frau – auf einen anderen Menschen übertragen.

     

    Hirntodkonzept

    Nach dem im Jahre 1997 vom Bundestag verabschiedeten Transplantationsgesetz kann der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt werden.

     

    Definition Hirntod

    Der Hirntod liegt vor, wenn die für personales Leben notwendigen Großhirnfunktionen sowie die für die zentralnervöse Steuerung des ganzen Körpers notwendigen Stammhirnfunktionen irreversibel ausgefallen sind. Der Nachweis des Hirntods ist erbracht, wenn bei zwei Untersuchungen innerhalb von 24 Stunden gezeigt werden kann,

    • dass eine Person im tiefen Koma liegt,
    • sie keine zentralen Reflexe mehr aufweist,
    • sie nicht mehr spontan atmet und
    • sie weite, lichtstarre Pupillen hat.

    Für Kinder gelten längere Untersuchungsintervalle. Der Einsatz eines EEGs oder anderer apparativer Techniken kann die Untersuchungszeit abkürzen, ist aber nicht vorgeschrieben.

    Die Befürworter der Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Menschen argumentieren auf verschiedenen Ebenen. Zum einen halten sie das Kriterium Hirntod biologisch für angemessener als das Kriterium Herz− oder Atemstillstand, da der unbehandelbare Herz− und Atemstillstand immer das Erlöschen der Gehirnfunktionen nach sich zieht. Zum anderen manifestiere sich das Wesen menschlichen Lebens in den komplexen Leistungen des Nervensystems, insbesondere in den für personales Leben (Bewusstsein, Verstandestätigkeit) notwendigen Funktionen des Großhirns. Das letzte Argument veranlasst einige wenige Ethiker sogar dazu, die Diagnose des Großhirntods allein für ausreichend zu halten, um einen Menschen für tot zu erklären. Erhaltene Stammhirnreflexe, wie z. B. die Atemtätigkeit, würden in diesem Fall nicht berücksichtigt.

    Gegner der Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Menschen argumentieren, dass es unplausibel sei, einen Menschen, dessen Herz noch schlägt und der einen warmen, rosigen, gut durchbluteten Körper hat, als tot zu bezeichnen. Andere Kritiker sind der Meinung, dass das Konzept des Hirntods menschliches Leben unzulässigerweise ausschließlich auf geistige Funktionen reduziere.

    Eine dritte Gruppe wiederum ist der Ansicht, dass es unter den Bedingungen der modernen Intensivtherapie prinzipiell nicht mehr möglich sei, den Tod des ganzen Menschen eindeutig zu bestimmen. Menschliches Leben zerfalle durch die Intensivtechnik in verschiedene "Vitalfunktionen“, die zeitlich verschoben ihre Funktion einstellen können. Diese Kritiken münden in verschiedene Forderungen: Einige Kritiker sind der Meinung, Organentnahme bei Hirntoten sei grundsätzlich nicht zu rechtfertigen. Andere halten eine Organentnahme bei hirntoten – aber ihrer Meinung nach nicht vollständig toten – Menschen für vertretbar, fordern dazu jedoch die ausdrückliche, zu Lebzeiten erteilte Zustimmung des Spenders. Die Auseinandersetzungen um die Richtigkeit des Hirntodkonzepts drehen sich auch um die Frage: Kann der Tod des Menschen naturwissenschaftlich objektiv und für alle gültig definiert werden, oder handelt es sich dabei immer auch um eine gesellschaftliche Wertentscheidung?

     

    Zustimmung zur Organentnahme bei Hirntoten

    Nach dem zurzeit gültigen Transplantationsgesetz ist eine Organentnahme dann zulässig, wenn entweder der Hirntote selbst zu Lebzeiten seine Einwilligung erteilt hat (z. B. durch einen Organspendeausweis) oder die Angehörigen stellvertretend ihre Zustimmung geben (erweiterte Zustimmungslösung). Ausschlaggebend ist stets der ausdrückliche bzw. mutmaßliche Wille des Patienten.

    Das Verfahren unterstreicht das Recht eines jeden Menschen, auch über den Tod hinaus über seinen Körper verfügen zu können und setzt dieses Recht höher an als das gesellschaftliche Bedürfnis nach transplantier− baren Organen. Die Rolle der Angehörigen bei der erweiterten Zustimmungslösung wird jedoch von einigen kritisch gesehen. Die Selbstbestimmung des Patienten sei nur dann gewährleistet, wenn der Betroffene zu Lebzeiten die Erlaubnis zur Organentnahme erteilt habe (enge Zustimmungslösung). Zudem seien die Angehörigen bei der erweiterten Zustimmungslösung mit der Entscheidung überfordert.

    Transplantationsmediziner haben dagegen argumentiert, dass bei einer solchen Regelung die Zahl der verfügbaren Postmortalorgane rapide sinken würde, weil nur wenige Menschen einen Organspendeausweis bei sich tragen. Aus ethischer Perspektive ist bedenkenswert, dass eine solche radikal individualistische Sicht, wie sie die enge Zustimmungslösung repräsentiert, unangemessen ist und es wichtiger ist, menschliche Beziehungen zu stärken und zu fördern.

    In Österreich, Italien oder Spanien gilt hingegen die so genannte Widerspruchslösung. Eine Organentnahme ist erlaubt, wenn der Betroffene selbst zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat. Hier ist die Abwägung zwischen den Interessen von Kranken nach transplantierbaren Organen und dem Interesse des Individuums, über seinen Körper ausschließlich selbst zu verfügen, anders als in Deutschland ausgefallen.

 

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Die Kursthemen:

Verweigerung einer Transfusion aus religiösen Gründen - Patientenautonomie und Einwilligungsfähigkeit
Fall 1

Selektion eines Embryos bei In-vitro-Fertilisation - Reproduktionsmedizin
Fall 2

Thalassämie in Zypern - Genetisches Screening
Fall 3

Postmortalspende: Anfrage bei den Angehörigen                                                                                              Fall 4

Therapieabbruch bei einer Patientin im Wachkoma - Sterbehilfe und Sterbebegleitung
Fall 5

Suizidgefährdeter Physiker - Betreuung und Zwangsbehandlung in der Psychiatrie
Fall 6

Sektion von Fröschen im Medizinstudium - Kritik am Tierversuch und ethische Diskussion
Fall 7

Stammzelltherapie bei Parkinson - Forschung am Menschen
Fall 8

Gute klinische Praxis: Gynäkologische Untersuchung einer Patientin in Narkose
Fall 9

 


Die Inhalte dieses Angebots stammen aus dem Buch "Medizinethik" von Claudia Wiesemann und Nikola Biller-Andorno.

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