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  • Marita Thiel
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  • 07.04.2014

Ein Plädoyer für eine menschliche Medizin

Routinierte Diagnosen, Fallpauschalen und Behandlungen nach Schema F: Viel zu oft orientiert sich die moderne Medizin am mechanistischen Menschenbild. Aber ein Patient ist eben keine Maschine, die man einfach reparieren kann – ganz im Gegenteil. Was der modernen Medizin fehlt, ist die Menschlichkeit.

Foto: Thieme / A. Fischer

 

Der erste Versuch

Dieser Fall war für den Stationsarzt reine Routine: 79-jährige Patientin mit Osteoporose, multiplen Sinterungsfrakturen der Wirbelkörper in LWS und BWS, beidseitige Coxarthrose und – wie sollte es auch anders sein – einem chronischen Schmerzsyndrom. Da schaut sich der Internist von heute die Schmerzmedikation an, stellt fest, dass die Patientin sich auf Stufe drei derselben befindet und läutet flugs Stufe vier bei Höchstdosierung und umfangreicher Komedikation ein. Nach wenigen Tagen Krankenhausaufenthalt wird eine apathische, schmerzfreie Patientin entlassen.

 

Die Bumerang-Patientin

Es vergehen fünf Tage und der Hausarzt veranlasst erneut eine stationäre Einweisung. Dieses Mal wegen unklarer Somnolenz bei Verdacht auf Medikamentenüberdosierung. In der Zwischenzeit wird die Station von einem anderen Arzt, nennen wir ihn Dr. Wille, geleitet. Auch er wird die Patientin nach wenigen Tagen entlassen. Sie wird am Dienstzimmer vorbei marschieren und dem Arzt zum Abschied fröhlich zuwinken. Und was noch viel wichtiger ist: sie wird in der Zukunft mit ihrer Krankheit und den dazu gehörenden Schmerzepisoden umgehen können. Was ist geschehen?

 

Die Lösung

Nachdem Frau Steiner, so hieß die Patientin nämlich, ansprechbar war, setzte sich Dr. Wille mit ihr und ihrer Tochter zusammen. Er fragte beide, was sie von dem Aufenthalt erwarten. „Ich will meine Schmerzen ertragen können, sagte Frau Steiner. „Und ich träume davon, meine Mutter wieder im Garten zu sehen“, ergänzte die Tochter. Es war ein längeres Gespräch. Dr. Wille bestätigte Frau Steiner darin, dass sie immer Schmerzen haben werde und dass es darum gehe, ein für sie erträgliches, aber lebenswertes Maß zu finden. Im Verlauf des Krankenhausaufenthaltes fuhr der Mediziner die Schmerzmedikation auf ein Mindestmaß zurück und Frau Steiner lernte mit der Unterstützung des Mediziners, Schmerzspitzen medikamentös zu kupieren. Einige Wochen später erhielt Dr. Wille einen Brief von Frau Steiner, in dem sie sich nochmals für die Behandlung bedankte. Sie hatte ein Bild hinzugefügt, das sie lachend beim Rosenschneiden zeigte.

Eine Patientin, eine Krankheit, aber zwei unterschiedliche ärztliche Haltungen. Arzt Nummer eins verfährt mechanistisch. Er betrachtet Fall und Medikation und handelt folgerichtig, indem er die Medikation auf die nächste und damit höchste Stufe stellt. Die Patientin selbst bleibt außen vor.

Dr. Wille handelt als Arzt ebenfalls lege artis, doch gleichzeitig menschlich. Gemeinsam mit Frau Steiner und ihrer Tochter erstellt er auf der Basis aktueller Behandlungsmaßstäbe eine krankheitslindernde Therapie. In der Akzeptanz von Bedürfnis und Krankheit liegt der Unterschied.

 

Eine ethische Definition

Was bedeutet also menschliches Handeln in der Medizin? Einer der führenden Ethiker, Giovanni Maio, drückt es so aus: “Die Grundüberzeugung, es bedürfe zur Heilung eines Menschen nur eines wohlgeordneten Ablaufs, und den damit verbundenen Anreizen für Ärzte, diese Abläufe so schnell wie möglich zu gestalten, liegt ein Menschenbild zugrunde, das den einzelnen Patienten mehr als zuvor nur als defekten Mechanismus betrachtet.“

 

Das Bild des modernen Menschen

Demnach ist es also das moderne Bild des Menschen, das der Menschlichkeit im Wege steht. Dieses Bild ist tief im Zeitalter der Aufklärung verwurzelt. Die Natur erkennen und sie beherrschen war ein führendes Ziel. Heute haben wir viel davon erreicht. Das menschliche Genom ist entschlüsselt, Pathomechanismen sind aufgedeckt und es gibt evidenzbasierte Therapien und Ersatzmöglichkeiten für defekte Gelenke und Organe. Und wer sich als hässlich wahrnimmt, dem verhilft der Schönheitschirurg schnell und per Ratenzahlung zu einem medienkompatiblen Aussehen. Alles ist möglich, so verheißen es die Hochglanzbroschüren von Kliniken und Pharmaindustrie. Hier holt sich jeder, was er gerade braucht. Der Patient ist der Kunde und der Arzt ist der Dienstleister im Gesundheits-Geschäft. Die Medizin, ein Wunderland und ein Selbstbedienungsladen zugleich.

 

Des Heros wankender Sockel

Nur etwas mutet seltsam an in dieser wundervollen, neuen Welt. Seit vielen Jahrhunderten galt der Arzt als Halbgott in Weiß. Dieser Sockel wankt gewaltig und der blütenweiße Arztkittel scheint befleckt. Derzeit überflutet ein medizinischer Diffamierungstsunami die Medien. Noch nie gab es so viele Berichte und Bücher über vermeintliche und tatsächliche ärztliche Fehler. Immer öfter scheren desillusionierte Mediziner aus den eigenen Reihen aus und machen ihrem Frust Luft oder mutieren zu Flachwitzjongleuren der Unterhaltungsindustrie. Was läuft hier falsch?

 

Zwischenergebnis: Die neue Medizin

Auf der Basis einer analytischen Naturwissenschaft funktioniert die Medizin heute wie ein Hochleistungsbetrieb im Takt der DRG’s (Diagnosis related groups, Fallpauschalen). Krankheiten werden bekämpft, Defizite ausgeglichen und Behinderungen per Pränataldiagnostik bald wohl abgeschafft. Der internetinformierte Patient betritt als fordernder Konsument das Klinikparkett und verlangt bedingungslosen Perfektionismus. Der Arzt als Teil des Systems und Menschen-Mechaniker leistet Folge. Ziel von Arzt und Patient ist die perfekte Reparatur der Maschine Mensch. Gelingt dies nicht, macht der Kunde Regressansprüche geltend und der artige Dienstleister stellt sich selbst in Frage.

 

Fazit: Die menschliche Medizin

“A rose is a rose is a rose”, sagte einst die Lyrikerin Gertrude Stein. Das gleiche gilt für den Menschen. Ein Mensch ist ein Mensch, ist ein Mensch – keine Maschine. Und deshalb ist jeder Mensch einzigartig. Zum Menschsein gehört eine Lebens- und Erfahrungswelt. Ein Mensch ist immer Teil eines Ganzen. Krankheit und Genesung fügen sich darin ein. Krankheit ist kein Super-GAU, dem man mit technisch-pharmakologischen Geschützen den sicheren Garaus machen kann. Krankheit, Siechtum und Tod sind auch Teil des Menschseins. Die bedingungslose Motivation, dem Menschen dabei zur Seite zur stehen, ist das wahre Herz der Medizin. Sicherlich hat die Medizin heute wundervolle Möglichkeiten, doch Schema Eff wäre das falsche Anwendungsprinzip. Nur wenn Mediziner und Patient es gleichermaßen wagen, das mechanistische Menschenbild über Bord zu werfen und der Patient in seiner Gesamtheit sein darf, kann eine Brücke zur Menschlichkeit geschlagen werden. Auf dieser Brücke könnten sich Arzt und Patient auf Augenhöhe, eben menschlich, begegnen.

 

Literatur: Giovanni Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Stuttgart 2012

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