- Klinikgeschichten
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- Julia Rohjan
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- 22.08.2014
Einsatz im Kuhstall
Eigentlich war Imke Vennels erster Notarzt-Dienst schon vorbei. Als plötzlich gegen 17 Uhr die Meldung kommt: Reanimation. Was sie dort erwartet, lässt sie bis heute erschaudern.
„Es war mein erster Notarzt-Dienst, und er war eigentlich schon vorbei“, sagt Imke Vennel [1] im Rückblick. „Ich habe nur noch auf die Ablösung durch unseren Oberarzt gewartet.“ Die Assistenzärztin in der Anästhesie ist damals 27 Jahre alt. Ein Freitagnachmittag ist es, kurz vor Weihnachten, und sie freut sich auf das Wochenende. Gegen 17 Uhr kommt die Meldung der Leitstelle: „Reanimation“. Einsatzort: Ein einsam gelegener Bauernhof in Mittelfranken.
Mehr als eine halbe Stunde dauert es, bis das NEF in den verschneiten Feldweg einbiegt und schließlich in einem düsteren Innenhof hält. Ein RTW mit zwei Rettungsassistenten ist auch gerade angekommen. Es ist bereits dunkel. Links liegt das Bauernhaus, rechts der Kuhstall, dahinter der Wald.
Foto: Cyril Comtat - Fotolia.com
Beginn der Reanimation
Imke Vennel steigt aus. Feuchte, kalte Luft schlägt ihr entgegen. Bei jedem Schritt versinkt sie knöcheltief im Matsch. „Zuerst sah ich nur einen unförmigen Haufen im Hof liegen“, sagt sie. „Dann erkannte ich, dass das eine Frau war, groß und adipös, vielleicht 70 Jahre alt.“ Die Ärztin ist als Erste bei der Patientin, kniet sich hin und kontrolliert die Vitalzeichen. Kein Puls, keine Atmung. „Wenn da überhaupt noch was zu retten ist“, denkt sie und beginnt mit der Reanimation.
Dubiose Umstände
Ein Mann erscheint neben der Frau. Mitte dreißig, lockige Haare, trotz der Kälte hat er nur ein Hemd an. Um seinen Hals hängt ein Stethoskop. Ein Arzt aus der Umgebung, den man gerufen hat, heißt es. Vennel schaut ihn fragend an. „Sie lag im Wald und hat bis vor 3 Minuten noch geschnappt“, meint der Kollege. Dann hätten ein Verwandter und er sie hergebracht.
Und dann die Frau einfach in den Schneematsch gelegt? Warum nicht ins Haus, oder wenigstens in den Kuhstall? Die Ärztin versteht die Geschichte nicht, doch für Diskussionen hat sie keine Zeit – jetzt ist erst mal die Routine dran. Imke Vennel wendet sich wieder der Patientin zu und stutzt: „Da sah ich diese Kopfwunde. Vom Haaransatz bis zum Nasenbein, eine tiefe, blutige Wunde, in der Zickzack-Form eines Blitzes.“
Aber der gebrochene Schädel muss warten, Vennel konzentriert sich auf die Reanimation. Das EKG zeigt eine Nulllinie, asystol, der Defi macht keinen Sinn. Dann sind die Rettungsassistenten da. Einer übernimmt die Thoraxkompressionen, die Notärztin rückt an ihren Platz am Kopf der Patientin. Ein anderer Assistent versucht derweil, einen Zugang zu legen. Das dauert.
„Wie im Film“
Als Vennel sich nach dem angeblichen Arzt umschaut, ist dieser verschwunden. Sie sieht ihn nie wieder. Dafür erscheinen zwei andere Männer: Familienangehörige. „Sorgen Sie doch mal für Licht!“ ruft Vennel. Die beiden verschwinden und kommen mit zwei altertümlichen Petroleum-Laternen zurück. Damit stellen sie sich rechts und links neben die Patientin.
Die Beleuchtung ist alles andere als optimal. Das Licht flackert gelb auf der näheren Szenerie, Schatten tanzen über den nassen Boden und den leblosen Körper. Dieses Bild hat Vennel bis heute vor Augen: „Ich sehe die Frau noch vor mir: Großer, eckiger Kopf mit dieser offenen Wunde, dunkle Haare, grüner Wollpullover, Gummistiefel. Dazu das Kleng-Kleng der Laternen, die muhenden Kühe im Stall und der kalte Wind – richtig gespenstisch, wie im Film, war das alles.“
Schwer geschädigt
Als der Rettungsassistent eine brauchbare Vene am Hals findet, gibt Vennel der Patientin Atropin und Adrenalin. „Zu der Zeit galten noch die Leitlinien von 2005, inzwischen gibt es ja neue.“ 20 Minuten Reanimation sind mindestens empfohlen. Zwischendurch intubiert die Ärztin. „Das klappte erstaunlich gut, ich spürte ein leises Gefühl der Erleichterung.“ Die Routineabläufe geben ihr ein wenig Sicherheit.
Als sie die Verwandten zwischendurch nach Vorerkrankungen der Frau fragt, murmeln die Männer etwas von Bluthochdruck und Diabetes. „Bei ihrem Körperumfang sicher nicht das Einzige“, denkt Vennel, und: „Die arme Frau“.
Die Ärztin hat Zweifel, ob sie der Patientin wirklich noch eine erfolgreiche Wiederbelebung wünschen soll. Nach einer halben Stunde in Schnappatmung – wenn überhaupt! – wäre ihr Gehirn so schwer geschädigt, dass sie nie mehr die sein würde, die sie vorher war.
„Ich konnte doch nicht einfach sagen: Hallo, die Oma ist gerade gestorben.“ |
Herzaktion
Als die 20 Minuten Reanimation vorbei sind, haben Kälte und Nässe sich überall festgesetzt. „Ich dachte, Gott sei Dank ist es vorbei – für die Frau und für uns. Fertig.“ Sie wirft einen letzten Blick auf den Monitor: Kammerkomplexe, Herzaktion. Allerdings unregelmäßig, ein stabiler Kreislauf sieht anders aus. Und was nun? „Bis dahin war alles klar für mich, es gab einen Algorithmus, und den habe ich durchgezogen.“ Nun muss sie entscheiden, wie es weitergeht.
In den Rettungswagen
Die Frau kann jedenfalls nicht im Schneematsch liegen bleiben. „Wir bringen sie in den Wagen“, sagt Vennel. Gemeinsam versuchen die Männer, die schwere Patientin auf die Trage zu bekommen – ein Balanceakt. Im Schneematsch können sie kaum das Gleichgewicht halten.
Vennel sichert den Tubus. Doch die Infusionsleitung bleibt an der Trage hängen, der Zugang wird herausgerissen. Vennel weiß, dass es jetzt sehr schwierig wird, einen neuen Zugang zu bekommen. Sie wehrt sich gegen die aufkeimende Verzweiflung. „Los, in den Wagen“, sagt sie, und irgendwie schaffen sie es in den Rettungswagen. Hier ist es wenigstens trocken und hell, alle Geräte sind zur Hand. Die Assistenten ziehen die Tür hinter sich zu.
Weitere Therapie
Die Reanimation wird kurz ausgesetzt zur Analyse, das EKG zeigt Kammerkomplexe. Das Herz macht irgendwas. Vennel tastet nach dem Puls, doch weder peripher noch an der A. carotis findet sie ihn. Der Blutdruck ist nicht messbar. Ein neuer Zugang lässt sich nicht etablieren, und dann werden auch die Kammerkomplexe wieder schwächer. Die Adrenalingabe über den Tubus zeigt keine Effekte, die fortgesetzte Reanimation bleibt erfolglos. Imke Vennel gelangt zu der Einsicht: Die Frau ist tot.
Tochter und Enkelin
In diesem Augenblick klopft jemand von außen an den RTW. Vennel öffnet die Tür: Draußen steht die Tochter der Toten, blass und panisch. In der einen Hand hält sie ihren Regenschirm, an der anderen ein kleines Mädchen. Vennels Gedanken überschlagen sich. Jetzt möglichst ruhig und professionell bleiben. „Ich konnte doch nicht einfach sagen: Hallo, die Oma ist gerade gestorben. Die Leute hätten das nicht gepackt.“ Stattdessen erklärt sie nur kurz, was das Team gemacht hat, dass alles Menschenmögliche getan werde, aber dass mit dem Schlimmsten zu rechnen sei. Dann schließt sie die Tür wieder. Sie fühlt sich nicht wohl bei dem Gedanken, die Angehörigen so im Ungewissen zu lassen. Aber etwas Besseres fällt ihr nicht ein.
Abtransport
Im Rettungswagen schaut Vennel auf die Tote. Sie weiß: Ein Transport ins Krankenhaus ist eigentlich nicht möglich. Nach den örtlichen Vorschriften darf keine Leiche im RTW transportiert werden. „Aber was sollte ich tun?“, fragt sie im Rückblick. „Die Tote einfach ins Haus bringen, so wie sie war, mit offener Stirn und voller Schlamm? Sollte ich sie dort ablegen, bis am nächsten Tag der Bestatter kam?“
Sie denkt an die verstörten Gesichter von Tochter und Enkelin, die immer noch vor dem Rettungswagen im Schneeregen stehen. Es erscheint ihr unnötig grausam gegenüber der Familie, die Verstorbene auf dem Hof zurückzulassen. Vennel versucht, in der Klinik um Rat fragen, aber keines der Mobiltelefone hat Empfang.
„Fahren wir los in Richtung zivilisierte Welt“, entscheidet sie. Denn in gewisser Weise, so findet Vennel, hat die Frau im RTW ja auch noch gelebt. Und ist man nicht eigentlich schon unterwegs, sobald man mit der Patientin im Auto ist? Dann wäre die Frau ja erst unterwegs gestorben. Aber wo genau? Vennel schaut aus dem RTW, sicherheitshalber notiert sie noch einen der Orte, die draußen vorbeiziehen. Sie fahren langsam und ohne Blaulicht, entfernen den Tubus und decken die Frau zu. Nach vielen Kilometern bekommt Vennels Telefon endlich wieder Empfang. Sie berichtet erleichtert an ihren Oberarzt.
Ankunft im Krankenhaus
An der Klinik angekommen, empfängt er sie an der Krankenzufahrt. Selten war die Ärztin so froh, ihn zu sehen. Doch leider weiß auch der Oberarzt nicht so recht, wie mit der Leiche verfahren werden soll. Er muss erst mal das entsprechende Protokoll suchen. Die Ärztin sitzt derweil allein mit der Toten im Klinikflur. Die Rettungsassistenten beginnen, den Wagen zu reinigen.
„War da erst der Schlag auf die Stirn – oder erst der Kreislaufstillstand?“ |
Schließlich taucht der Oberarzt wieder auf. Zusammen fahren Vennel und er die Leiche ins Untergeschoss, hängen ihr ein Schild mit den wichtigsten Daten um. „Und dann mussten wir sie in dieses enge Kühlfach schieben, in das sie kaum reinpasste“ – auch nach 3 Jahren ist ihr noch jedes Detail präsent.
Unnatürlicher Tod?
Sie sind gerade fertig, als der Klinik-Pförtner zwei Polizisten ankündigt. Sie fragen Vennel nach den genauen Umständen am Einsatzort. Zum Glück übernimmt der Oberarzt das Reden. Allmählich weicht Vennels Anspannung. Doch als sie gefragt wird: „War da erst der Schlag auf die Stirn – oder erst der Kreislaufstillstand?“, ist sie wieder hellwach.
Ein unnatürlicher Tod war ihr bis dahin gar nicht in den Sinn gekommen. „Ich hatte natürlich angenommen: Erst war der Kreislaufstillstand, dann ist sie gestürzt.“ Aber die Umstände vor Ort waren schon etwas dubios. Warum war die Frau im Dunkeln allein im Wald? Warum hat man sie in den Hof getragen und dann liegen gelassen? Imke Vennel schaudert noch im Nachhinein. Wahrheitsgemäß gibt sie zu Protokoll, dass beides möglich sei und sie nichts weiter sagen könne.
Wieder zu Hause
Als sie schließlich gegen 21 Uhr nach Hause kommt, wartet ihr Mann schon auf sie. Mit erheblicher Verspätung fahren die beiden zu einer lange geplanten Fortbildung. Das Thema: Ethik in der Reanimation. Ausgerechnet. „Da konnte ich meine Geschichte gleich erzählen und anfangen, sie zu verarbeiten“, erzählt Vennel. „Und trotzdem: Die Frau hat mich noch lange im Traum verfolgt.“
Formalitäten
Am Montag, wieder im Krankenhaus, wartet das formale Nachspiel: Bestatter und Polizei beschweren sich über den Ort des Todes. „Ältere Kollegen hatten mir schon erzählt, dass grundsätzlich nur zu Hause, am Unfallort oder im Krankenhaus gestorben wird“, sagt Vennel. „Alles Andere sei zu kompliziert, abrechnungstechnisch und so.“ Soll sie den Tod jetzt bis ins Krankenhaus verschieben? Nachträglich? Wäre das nicht Urkundenfälschung? Die Ärztin ist ratlos und berät sich mit ihren Vorgesetzten. Und noch eine unangenehme Formalität ist zu erledigen: Imke Vennel muss der Familie eine Rechnung für die Leichenschau schicken. 60 Euro.
Nachspiel
Der letzte Akt, Wochen später. Imke Vennel steht im Operationssaal, als der Oberarzt hereinkommt: „Hier, ein Brief für Sie!“ Betreff: Reanimation auf dem Bauernhof. Die Ärztin spürt einen kurzen Adrenalinstoß: Will die Polizei noch etwas?
Doch es ist nur die Unfallversicherung der Toten, die wissen möchte, ob die Notärztin Genaueres über die Todesursache sagen könne. „Überlegen Sie, was Sie da schreiben“, rät ihr der Oberarzt. „Davon hängt vielleicht ab, ob die Versicherung zahlt.“ Vennel kann sowieso nur wiederholen, dass sie zur Todesursache nichts sagen kann. Damit ist der Fall für sie eigentlich abgeschlossen. Doch was heißt das schon? Jedes Mal, wenn sie den Ordner mit den Protokollen in der Hand hat, kommen die Bilder wieder hoch – bis heute: „In keinem anderen Einsatz haben sich die Gesichter der Menschen so eingeprägt – und auch die Rechtslage war mir selten so unklar. Das werde ich nie vergessen.“
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Kommentar
Auch die Helfer brauchen Hilfe
Widrige Bedingungen: Lass den Bericht bitte noch einmal kurz auf dich wirken, blende die inhaltlichen Fragen dabei aus: Die Stimmung bei diesem Einsatz ist düster, vieles wirkt mysteriös – so könnte auch ein Psychothriller beginnen. Es geht um einen Außeneinsatz in Dunkelheit und unter widrigen Witterungsbedingungen. Fragwürdige Menschen tauchen auf und verschwinden wieder. Dann die Patientin selbst:
- der ungewöhnliche Auffindeort
- ihre seltsame Verletzung
- das Nulllinien-EKG.
Sie ist möglicherweise Opfer eines Verbrechens geworden.
Verunsicherte Notärztin: Die Notärztin Dr. Vennel ist jung, unerfahren und massiv verunsichert durch die vielen Informationen und die Begleitumstände – noch dazu war ihr Dienst eigentlich schon beendet. Aus dieser Gemengelage entstehen bei ihr Zweifel und Skrupel und hieraus Fehleinschätzungen und Fehlverhalten. Wir wollen verdeutlichen, worin diese bestehen und wie man sie vermeiden kann. Die juristischen Aspekte sind im Infokasten dargestellt.
Strukturiertes Prozedere: Offensichtlich gab es im Rettungsdienst-Bereich von Imke Vennel zwar den Algorithmus zur Reanimation, aber
- kein strukturiertes Prozedere im Umgang mit Todesfällen
- keine Krisenintervention oder Notfallseelsorge, die das Team hätte entlasten und die Angehörigen professionell aufklären können, und wohl auch
- keine Strukturen für eine Nachbesprechung, die die Verarbeitung hätten erleichtern können.
Solche institutionellen Strukturen wären aber in Fällen wie dem vorliegenden hilfreich für alle Beteiligten.
Überblick über die Situation behalten: Der wichtigste und erste Schritt bei solchen Einsätzen: überhaupt festzustellen, dass hier mehrere Dinge ungewöhnlich sind und nicht stimmen können. Zwar steht bei einem primär asystolen Patienten zunächst die Reanimation im Vordergrund. Nach deren Abschluss ist dann allerdings eine Überschau dieses vielschichtigen Einsatzes erforderlich. Dabei fällt auf:
- Dr. Vennel hätte einen unnatürlichen Tod in Betracht ziehen müssen. Als Konsequenz hätte sie unverzüglich die Polizei einschalten und bis zu deren Eintreffen vor Ort bleiben sollen. Sie wäre nicht verpflichtet gewesen, die Angehörigen über dieses Vorgehen zu informieren.
- Die Ärztin hatte Mitleid mit der verstorbenen Patientin und den Angehörigen. Dies ist zwar nachvollziehbar, war hier aber unangemessen.
Verstorbene vor Ort belassen: Imke Vennel hätte die Verstorbene vor Ort („im Schneematsch“) belassen müssen und sie nicht in den Wagen bringen dürfen. Gerade unerfahrene Kollegen wählen manchmal den Rückzug in den RTW als Lösung: Es ist der so verständliche wie häufig misslingende Versuch, in vertrauter Umgebung mit der komplexen Situation klarzukommen. Eventuell versucht man auch, den Angehörigen auszuweichen, die man als belastend empfindet.
Angehörige informieren: Die Ärztin hätte Tochter und Enkelin über den Tod der Patientin informieren müssen. Natürlich ist es schwierig, eine unangenehme Botschaft im Beisein von Kindern zu übermitteln. Daher hätte Dr. Vennel das Mädchen z. B. in die Obhut von Familienangehörigen oder der Rettungsassistenten geben und die Tochter dann allein aufklären können.
Aufarbeitung des Einsatzes: Die Notärztin hatte während des gesamten Einsatzes ein schlechtes Gewissen und hat das Geschehen bis heute nicht vollständig verarbeitet: Immer noch steigen die Bilder in ihr hoch. Dies weist auf ihre damalige – und immer noch ungeklärte – emotionale Notlage hin. Vielleicht wäre es gut für sie gewesen, den Einsatz mit professioneller Hilfe noch einmal aufzuarbeiten. Das Ziel wäre dabei, sich über die wohl unbewussten Ursachen und Motive klar zu werden, die sie in die Kaskade falscher Entscheidungen hineingebracht haben.
Auf eine solche Weise kann man einen schwierigen Fall wie diesen abschließen und für zukünftige Einsätze lernen. Die Aufarbeitung sollte allerdings so früh wie möglich geschehen, nicht erst nach Jahren. Dabei kann es helfen, sich einige der immer wieder aktuellen Fragen zu stellen: Was bringt der Transport in den RTW wirklich? Was macht die Konfrontation mit Angehörigen – nicht nur für Anfänger – so schwierig?
Prof. Dr. med. Frank-Gerald B. Pajonk ist Chefarzt der Privat-Nerven-Klinik Dr. Kurt Fontheim in Liebenburg (Harz) und Leiter des Referats Notfallpsychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Er gehört zum Herausgebergremium von Lege artis. E-Mail: pajonk@klinik-dr-fontheim.de
Dr. med. Hartwig Marung ist Oberarzt am Institut für Notfallmedizin Hamburg. Er ist Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft in Norddeutschland tätiger Notärzte (AGNN). E-Mail: hartwig.marung@ifn-hamburg.de
Rechtliche Aspekte
Aus juristischer Sicht hat die Notärztin in diesem Fall einige Fehler gemacht:
- Laut Bayerischem Rettungsdienstgesetz hätte Imke Vennel die Leiche nicht mehr im RTW transportieren dürfen. Allerdings: Rettungsdienstgesetze, Dienstanweisungen und Bestattungsgesetze verschiedener Bundesländer bzw. Kommunen können sich hierin unterscheiden.
- Da der Verdacht eines unnatürlichen Todes bestand, hätte die Ärztin evtl. –wiederum je nach Landes- bzw. kommunalem Recht – die Polizei verständigen und die Leiche „beaufsichtigen“ müssen.
- Die Angaben zu Zeitpunkt und Ort des Todes müssen exakt sein; die Ärztin hätte also keinen Ort unterwegs angeben dürfen.
Auf keinen Fall darf ein Arzt im Nachhinein das Notarztprotokoll oder den Totenschein ändern. Dies kann straf-, zivil- und berufsrechtliche Folgen haben.
Jörg Bossenmayer ist Fachanwalt für Medizinrecht (Arzthaftungsrecht und Arztstrafrecht). Er gehört zum Experten-Panel von Lege artis. E-Mail: joerg.bossenmayer@hgp.de
[1] alle Namen von der Redaktion geändert