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  • Christina Liebermann
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  • 26.08.2015

„Sie haben einen Gehirntumor“

Lisa ist schockiert, als ihr die Diagnose Hirntumor völlig unerwartet um die Ohren gehauen wird. Ihr Todesurteil?

 

© ArtemFurmann-Fotolia.com

 

Vor etwa einem halben Jahr habe ich die Pille abgesetzt. Mein Mann Martin und ich wollten den nächsten Schritt gehen: die Kinderplanung. Nun ja, wir schienen recht schnell Erfolg zu haben: Meine Tage blieben aus. Doch die vorläufige Euphorie bekam schnell einen Dämpfer, denn der Test war – negativ. Genauso wie der nächste und der übernächste. Das kam mir seltsam vor und ich vereinbarte einen Termin bei meinem Hausarzt.

 


Dr. Seibert nahm Blut ab und einige Tage später saß ich ihm erneut gegenüber, um das Ergebnis der Laboruntersuchung zu besprechen. „Das sieht….hmmm…interessant aus. Da ist ja alles durcheinander." Dr. Seibert schüttelte den Kopf.

 


Ich sah nur einen weißen Zettel mit einer Menge rot markierter Zahlen. Dem Kommentar nach zu urteilen ging es ihm wohl ähnlich, denn er überwies mich direkt weiter zu einem Endokrinologen - der mich wiederum für ein Schädel-MRT zum Radiologen schickte.

 


So lag ich wenig später in einem lautstark wummernden Gerät – scheinbar vermutete  man die Ursache für meine ausbleibende Menstruation in meinem Kopf. Nicht, dass mir das einleuchten würde … Mit den Befunden in der Hand und einem mulmigen Gefühl im Bauch fand ich mich erneut beim Endokrinologen meines Vertrauens ein. Stirnrunzelnd betrachtete Dr. Rothmann die Bilder am PC, sah mich an, beugte sich etwas vor und sagte schließlich mit ernster Miene:

 


„Frau Lorenz, Sie haben einen Gehirntumor. Aber ...“

GEHIRNTUMOR??? TUMOR … pochte es in meinem Kopf …WAS??? TUMOR, KREBS, CHEMO, STERBEN…Wie lange habe ich noch?? Mir wurde in Sekundenschnelle schwindlig und kotzübel, ich hatte das Gefühl gleich in Ohnmacht zu fallen. Die Stimme des Arztes hörte ich nur noch leise und verschwommen, als sei er meilenweit entfernt.

 

Mein Puls schnellte in die Höhe bis gefühlt mein ganzer Körper pochte, mir war abwechselnd kochend heiß und eiskalt. Ich war völlig gefangen in meiner Schockstarre. Unfähig, ein weiteres Wort des Arztes aufzunehmen, schwirrten mir 1000 Gedanken auf einmal durch den Kopf.

 

Warum ich? Ich war doch gesund und es ging mir gut. Ich wollte ein Baby und bekomme stattdessen ein fieses Geschwür im Schädel, das mich wahrscheinlich bald umbringen wird. Wie lange würde es dauern? Würde ich starke Schmerzen haben? Und Martin, und meine Eltern, und überhaupt, ich war doch erst 30 …

 


Paralysiert starrte ich das Foto auf dem Schreibtisch von Dr. Rothmann an. Er mit seiner Frau und den beiden Kindern am Strand – und alle strahlen mich glücklich grinsend an. Was für eine Scheiß-Ironie! Langsam stiegen mir die Tränen in die Augen.

 


„Frau Lorenz“, vernahm ich eine Stimme aus weiter Ferne …ich kann Sie beruhigen…“ WAS? BERUHIGEN? Hallo? Der hat mir grad gesagt, ich habe einen Gehirntumor und ich sollte mich beruhigen? Krampfhaft versuchte ich mich zu konzentrieren und wartete, dass er mir gleich die verschiedenen Therapiemöglichkeiten aufzählt, die mein Leben vielleicht um ein paar Jahre verlängern könnten.

 

Pest oder Cholera? Was darf es für Sie sein? Unweigerlich sah ich mich mit aufgesägtem Schädel und freiliegendem Gehirn, in dem ein Haufen Instrumente stecken auf einem OP-Tisch liegen. Ob meine langen blonden Haare der Chemo-Therapie wohl schnell zum Opfer fallen würden?

„Frau Lorenz, es handelt sich um ein sogenanntes Prolaktinom. Das ist ein GUTARTIGER Tumor von einer Drüse im Gehirn, die den Hormonhaushalt im Körper regelt. Er ist ganz klein, aber kann die Hormone trotzdem gewaltig durcheinander bringen. Der Tumor schüttet das Hormon Prolaktin vermehrt aus.

 

Normalerweise ist das Hormon für die Milchsekretion während der Stillzeit verantwortlich. Bei Ihnen führt es dazu, dass der Eisprung durch Östrogenmangel verhindert wird und Sie deshalb ihre Menstruation nicht bekommen. Folglich ist es momentan auch unwahrscheinlich, dass Sie schwanger werden.“

 


Bitte was labert der da? Ich verstehe kein Wort. Drüse im Gehirn? Gutartig? Gutartig klingt irgendwie nicht nach sterben, was mich kurz aufatmen lässt. Heißt das, ich werde überleben? Kein aufgebohrter Schädel? Keine ausfallenden Haare? Die überraschende Nachricht holt mich zurück ins Hier und Jetzt. Wieso hat er das nicht sofort gesagt? Wie konnte er mich nur so schocken? Ich schwankte zwischen unglaublicher Erleichterung und aufkeimender Wut.

 


„Sind Sie wahnsinnig?“ rutscht es mir heraus. „Ich dachte ich muss sterben.“


„Ja, sterben müssen Sie irgendwann. Aber nicht jetzt und nicht daran.“


„Aber…aber muss ich denn nicht operiert werden?“


Dr. Rothmann schüttelt den Kopf, zückt seinen Rezeptblock und schreibt in hyroglyphenähnlichen Buchstaben etwas auf. „Das ist ein Medikament, das den Tumor daran hindert, das Hormon freizusetzen. Darunter sollte sich Ihr Zyklus bald normalisieren. Operieren muss man nur, wenn der Tumor wächst, auf umliegende Strukturen drückt und dadurch Symptome wie Kopfschmerzen oder Sehstörungen verursacht. Das ist bei ihnen nicht der Fall. Wir sehen uns in einem Monat nochmal.“

 


Und schon werde ich zur Tür herausgeschoben. Noch immer am ganzen Körper zitternd frage ich mich, ob dem guten Herrn Rothmann überhaupt bewusst war, was er mir mit seiner unverblümten Hau-drauf-Diagnose überhaupt angetan hat. Ist dem eigentlich klar, was das Wort „Tumor“ für einen unwissenden Laien bedeutet?

 

Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich ist er im Laufe der Zeit im stressigen Praxisalltag mit 1000 Patienten und Diagnosen in seiner Medizinerwelt so abgestumpft, dass er nicht mal gemerkt hat, was ein einzelnes unüberlegtes Wort bei einem Patienten auslösen kann. Zumindest hoffe ich, dass ich es dir mit meiner Geschichte wieder auf den Schirm gerufen habe.

 

Mach es besser als Dr. Rothmann: Hier liest du mehr zum Thema ärztliche Gesprächsführung.

Wie vermittelt man Krebsdiagnosen? Erfahre es hier.

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