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- Ines Elsenhans
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- 26.09.2011
Perspektiven in den Vereinigten Staaten
Trotz ihrer Probleme, den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen: Die USA gelten nach wie vor als die Trendsetter dieser Welt - egal ob in Mode, Musik oder Medizin. Kein Wunder, dass viele junge deutsche Mediziner von einer Karriere in "den Staaten" träumen. Wir zeigen, wie sich dieser Traum erfüllen lässt - und welche Hürden es zu überwinden gilt.
Piep … piep … piep … Immer wieder dieser grelle Ton. Wolfgangs Ohren dröhnen, und in seinem Kopf wirbeln die Gedanken. Seit die Kollegen dem Resident aus Deutschland im Rahmen des cross-covers, einer Spätschicht für mehrere Stationen, die Patienten übergeben haben, treffen die Meldungen der Krankenschwestern im Sekundentakt auf seinem Pager ein.
Genauso schnell versucht er, die angezeigten Nummern zurückzurufen. Meist handelt es sich um banale Angelegenheiten wie harmlose Kopfschmerzen eines Patienten. Doch die Schwester, die er jetzt dran hat, schildert ein echtes Problem: "The patient has had at least three large volume bowel movements with mostly blood in them over the last two hours and is screaming in abdominal pain. What do you want us to do?" Oje, ein GI-Bleeder!
Wolfgang hat keine Erfahrung mit Patienten, die an akuten gastrointestinalen Blutungen leiden. Er weist die Schwester an: "Make sure that he has IV-access and give him large volume of fluids. I'll be there in a second." Dann lässt er sofort alles stehen und sprintet über unzählige Treppen und Korridore, quer durch das Strong Memorial Krankenhaus des University of Rochester-Medical-Centers, New York.
Endlich am Krankenbett angekommen, bekommt er vor Aufregung keinen klaren Kopf. Kein Wunder - schließlich ist heute sein erster Arbeitstag! Da erinnert er sich, was ihm und den anderen neuen Residents in der Einführungswoche gesagt wurde: "You are never alone! There is always someone there to help you out!"
Also lässt sich Wolfgang mit dem upper-level, einem Altassistenten der Intensivstation, verbinden. Dieser führt ihn telefonisch durch die notwendigen Schritte der Akutversorgung. Kurze Zeit später erscheinen er, das Team der Intensivstation, die Gastroenterologen on call, das allgemeinchirurgische Konsil und die interventionellen Radiologen auf der Station und beraten gemeinsam über die notfalltechnische Behandlung.
Nachdem der Patient akutversorgt und stabilisiert ist, nimmt sich der upper-level noch Zeit, das Vorgehen mit Wolfgang zu besprechen.
Ein gelungener Einstieg? Auf jeden Fall! Wolfgang Mühlhofer hat genau dieses Erlebnis in seinem Entschluss bestätigt, eine Residency, also eine Facharztausbildung, in den USA zu machen: "Mir war von vornherein klar, dass diese Jahre eine große Herausforderung sein würden.
Aber diese kritische Situation hat mir gezeigt, dass das amerikanische Lehrsystem viele Auffangnetze hat und dass ich nie allein gelassen werde."
Strikter Zeitplan inklusive Postgraduate Training
Die Scrubs überstreifen und wie Dr. Douglas Ross, alias George Clooney, im Emergency Room um Leben kämpfen - viele Medizinstudenten hegen diesen Traum. Wolfgang hat ihn sich erfüllt und arbeitet nun als Resident im Fachgebiet Neurologie. Dabei trifft die Bezeichnung Resident auf die Assistenzärzte übrigens voll zu: Sie "residieren" quasi im Krankenhaus, da sie meist bis zu 80 Stunden in der Woche arbeiten.
Doch der Einsatz lohnt: "Die Residents werden in ganz klare Rotationen mit einem genauen Zeitplan eingeteilt, der strikt eingehalten wird", erzählt Wolfgang. "So lernen sie alle Stationen im Krankenhaus, aber auch die Arbeit in privaten Praxen kennen. Zudem gibt es im Rahmen des Postgraduate Trainings regelmäßige Teachings und Vorträge. Darum habe ich - trotz Stress - am Ende des Tages immer das Gefühl, in meiner Ausbildung wieder ein Stückchen weiter gekommen zu sein."
Durch die Arbeit im Team, das meist aus einer Handvoll Jungassistenten und Medizinstudenten, einem Altassistenten und einem Oberarzt besteht, lernen die Residents enorm viel. Anke Hacker, die ihre Residency an der Eastern Virginia Medical School in Norfolk, Virginia, abgeschlossen hat und nun als Fachärztin für Innere und Allgemeinmedizin im Norfolk General Hospital arbeitet und selbst Residents ausbildet, führt die gute Ausbildung darauf zurück, dass die Residents von der Uni und nicht vom Krankenhaus angestellt sind: "So wird sichergestellt, dass man nicht nur zur Patientenversorgung da ist, sondern vor allem etwas lernt."
Deshalb bekommen die Residents auch keine Gehälter im klassischen Sinn, sondern quasi ein Stipendium von der Uni. Dieses liegt bei etwa 50.000 Dollar, je nach Ausbildungsjahr und Bundesstaat. Zudem werden die Kosten für die Versicherung der Ärzte, die Malpractice Insurance, übernommen.
Examen: Monster-MC-Fragen und Patienten als Prüfer
Leider rollen die USA potenziellen Nachwuchskräften aus dem Ausland nicht gerade den roten Teppich aus. Anders als z. B. die Länder in der EU erkennen die USA keine Approbationen und Facharztausbildungen anderer Länder an. Wer dort als Arzt arbeiten will, muss also nicht nur das amerikanische Staatsexamen United States Medical Licensing Examination (USMLE, Kasten S. 10), sondern auch die Residency absolvieren.
Zuständig für die Zulassung zur Residency ist die Educational Commission for Foreign Medical Graduates (ECFMG). Diese Kommission ist eine Art Studiendekanat für ausländische Bewerber. Hat man das USMLE Step 1 und den zweistufigen Step 2 bestanden, vergibt die ECFMG ein Zertifikat, das als Ticket für die Zulassung zur Residency fungiert.
Will man auch nach der Residency in den USA arbeiten, ist noch das USMLE Step 3 abzulegen. Erst danach kann man sich für die Medical Licence bewerben, eine Art staatenbezogene Approbation.
Wolfgang rät, Step 1 und 2 noch während des Studiums zu machen: "Step 1 bietet sich etwa ein Jahr nach dem Physikum an. Step 2 sollte kurz nach der zweiten ärztlichen Prüfung abgelegt werden." Wichtig ist dabei, beginnend ab dem ersten Step, alle weiteren Steps innerhalb von sieben Jahren zu machen, da sonst die Teilnahmeberechtigung erlischt.
Beim Pauken auf die Examina empfiehlt Wolfgang, ein englischsprachiges Buch zu verwenden, da Details wie Laborwerte im Amerikanischen anders dargestellt werden. Zudem sollte man Probeexamina machen und die auf der USMLE-Homepage abrufbaren Übungsaufgaben durchspielen. Die Tücke dieser MC-Fragen liegt nämlich darin, dass der Fragentext oft sehr lang ist und viele unnötige Infos enthält. Dazu kommen bis zu zehn (!) verschiedene Antwortmöglichkeiten pro Frage und der extreme Zeitdruck.
Für den zweiten, praktischen Teil von Step 2 ("Clinical Skills") muss man in die USA fliegen, da der Test nur in amerikanischen Testcentern angeboten wird. Jeder Teilnehmer muss bei zwölf Schauspielpatienten die Anamnese erheben, sie körperlich untersuchen und auf Untersuchungen vorbereiten. "Der CS-Test ist eine große Show", erklärt Wolfgang. "Man spielt ein bisschen Doktor. Dabei muss man den Scheinpatienten klarmachen, dass man ein einfühlsamer Doc ist, der kein Fachchinesisch redet."
Einzig die Notizen, die man bei den Untersuchungen macht, werden von Ärzten bewertet. Das Patientengespräch an sich wird von den "Patienten" bewertet. Deshalb sollten die Kleinigkeiten im Patientenumgang vorher unbedingt geübt werden - am besten direkt in den USA. Anke empfiehlt daher, den Test mit einem PJ-Tertial in den Staaten zu verbinden: "So kann man gleich klinische Erfahrung sammeln und nebenher an seinem Englisch feilen."
Bewerbung: gerne blumig
Mit dem ECFMG-Zertifikat in der Tasche könnte es dann eigentlich mit der Residency losgehen. Aber so einfach ist die Sache nicht, denn natürlich gibt es viel weniger Plätze als Bewerber und daher ein striktes Auswahlverfahren. Zudem sollte man sich die einzelnen Programme genau ansehen, bevor man sich auf eines bewirbt.
Katharina Busl, die ihre Residency an der berühmten Harvard Medical School gemacht hat, empfiehlt: "Wer seine Zukunft in den USA sieht, sollte sich am besten auf die Programme der großen, angesehenen Unikrankenhäuser bewerben. So hat man es später einfacher, eine Anstellung zu finden. Denn in den USA herrscht kein Medizinermangel, und die guten Stellen sind rar."
Das gilt zumindest für lukrative Fächer wie Radiologie und Augenheilkunde. In der Inneren oder bei den Allgemeinchirurgen ist die Stellensituation sehr viel besser. Gelistet sind alle Programme auf der Homepage der American Medical Association (AMA). Dort präsentieren sie sich mit genauen Infos etwa zum Ausbildungs-Curriculum, Gehalt und Freizeitmöglichkeiten.
Hat man sich für eines oder mehrere Programme entschieden, geht es an die Online-Bewerbung über den Electronic Residency Application Service (ERAS). Katharina empfiehlt, das PJ-Tertial möglichst in dem Krankenhaus zu machen, in dem man später auch die Residency machen möchte: "Kennt man die Programm-Direktoren schon, erhöht das die Chance auf ein Bewerbungsgespräch."
Weiteres Auswahlkriterium der Direktoren ist auch der "USMLE Step 1 Score", weshalb sich viele Bewerber schon nach diesem Step bewerben. Aber auch Empfehlungsschreiben bekannter Professoren spielen eine Rolle. Anke bestätigt das, warnt aber davor, diese Letters of Recommendation von deutschen Ärzten schreiben zu lassen: "Es gibt bestimmte Formulierungen, die nicht verwendet werden sollten. Der amerikanische formelle Schreibstil ist einfach viel blumiger." Wolfgang empfiehlt zudem: "Im Lebenslauf sollte man jegliches soziale Engagement erwähnen, da die Amerikaner sehr großen Wert darauf legen."
Nach den Bewerbungsgesprächen in den USA erstellt man dann eine Liste mit den Programmen, an denen man teilnehmen will, und ordnet sie nach Präferenz. Auch die Programm-Direktoren erstellen eine Präferenzliste mit den Bewerbern, die sie gerne aufnehmen möchten. Beide Listen werden auf der Homepage des National Residency Matching Program (NRMP) eingegeben und miteinander verrechnet.
Am sogenannten Match Day im März erfährt der Bewerber dann, ob er einen Platz bekommen hat. Die Residency beginnt am 1. Juli. Bis dahin gilt es, eine Wohnung zu finden, ein Konto zu eröffnen und evtl. ein Auto zu kaufen - was aber nicht so einfach ist, denn die Amerikaner vergeben ungern Kredite an Ausländer. Das kennt Anke auch: "Am besten ist es immer, wenn man amerikanische Freunde hat, die für einen bürgen. Zudem sollte man geduldig sein, denn die amerikanische Bürokratie ist noch schlimmer als die Deutsche."
Nach der Residency: Ab nach Hause!
Das erste Jahr der Residency besteht meist aus dem Internship. Diese Ausbildungsphase kann aber auch vor der Residency abgeleistet werden, da sie nicht unbedingt in der Klinik stattfinden muss, in der man seine Residency macht. Im Internship soll der Intern mit den Regeln des jeweiligen Fachgebiets vertraut werden.
Üblicherweise wird nach diesem Jahr der USMLE Step 3 gemacht. Auch Step 3 findet nur in den USA statt und besteht aus einem MC-Test und computerbasierten Fallsimulationen. In der Regel meldet man sich für Step 3 über die Homepage der Federation of State Medical Boards (FSMB) für den Staat an, in dem man später seine Medical Licence erwerben will.
Wolfgang rät, nach der Residency noch die Facharztprüfung, die sogenannte Board Certification, zu machen: "Sie ist zwar keine Pflicht, aber sehr üblich. Auch kann sie einen Antrag für ein längerfristiges Visum erleichtern." Wer nämlich nach der Residency in den USA arbeiten oder im Rahmen einer Fellowship noch eine Zusatzausbildung z. B. in Kardiologie machen möchte, hat ein Problem: die Aufenthaltsgenehmigung.
Dass Ausländer die Residency absolvieren, wird von den USA unterstützt. Deswegen bekommen sie auch ohne Probleme das dafür erforderliche J-1-Visum. Dieses Visum ist aber auf maximal sieben Jahre zusammenhängender Ausbildung in den USA beschränkt. Nach dieser Zeit ist es Pflicht, für zwei Jahre ins Heimatland zurückzukehren.
Erst danach kann man als Fach- oder Oberarzt wieder in die USA gehen. Das ist nämlich der Deal: Ausländische Ärzte werden ausgebildet, mit der Bedingung, nach der Residency wieder nach Hause zurückkehren. Dieses Two Year Homestay Requirement ist nicht nur im Interesse der USA, sondern auch der Heimatländer der ausländischen Studenten. Sie sehen es nämlich nicht gerne, wenn die gut ausgebildeten Ärzte auswandern.
Doch es gibt Hintertürchen: Bleibewillige können sich z. B. bereiterklären, für mindestens drei Jahre als "Visa-Waiver" in einer medizinisch unterversorgten Region der USA zu arbeiten. Das hat auch Anke gemacht: "Mein damaliger Arbeitgeber hat für mich ein H-1B-Visum beantragt und bezahlt.
So konnte ich den Heimataufenthalt umgehen." Das H-1B-Visum ist immer für drei Jahre gültig und kann einmal um drei weitere Jahre verlängert werden. Die Kosten dafür sind ganz schön happig, da auch noch das Honorar eines Anwalts hinzukommt. Der Grund dafür sind die Bürokratie und die Sprache der Gesetzestexte, die die Amerikaner "Legalese" nennen - eine Mischung aus Gesetzestext und Chinesisch.
Hat man ein H-1B-Visum, kann man sich über eine Labor Certification für eine Greencard qualifizieren. Hierfür müssen viele Kriterien erfüllt sein, weshalb dieser Prozess Jahre dauern kann. Ansonsten kann man aber natürlich auch bei der Greencard-Lotterie mitmachen - und auf sein Glück hoffen.
USA forever?
Irgendwann stellt sich dann für jeden die Frage: Möchte ich für immer hier bleiben? Anke ist noch unschlüssig: "Das Leben hier hat schon auch Nachteile: Es ist schwierig, länger als eine Woche Urlaub am Stück zu bekommen. Dazu kommen Behördengänge wegen des Visums, wenn man ausreisen will." Katharina können solche Widrigkeiten nicht schrecken. Sie hat sich dafür entschieden, vorerst in den USA zu bleiben.
"Speziell in meinem Fall als Neurointensivmedizinerin ist es eher unrealistisch, dass man nur für eine Residency hierherkommt und danach wieder zurück nach Deutschland geht", erzählt die Ärztin, die gerade in Chicago eine Senior-Physician-Stelle angetreten hat. "Für mein Gebiet sind die Arbeitsbe-
dingungen hier einfach viel besser, außerdem erkennt der deutsche Staat meine Residency nicht voll an."
Wolfgang hingegen plant, nach seiner Residency wieder nach Deutschland zurückzukehren: "In Europa herrscht einfach eine andere Kultur und ein anderer Geist, der weltoffener und kritischer ist. Aber wer weiß? Es kann noch viel passieren in den nächsten Jahren." Anke hat inzwischen einen amerikanischen Arzt geheiratet und einen Sohn bekommen.
Würden sie nun nach Deutschland gehen, müssten sie und ihr Mann die deutschen Vorschriften zur Anerkennung der amerikanischen Ausbildung erfüllen, um arbeiten zu können. Bisher überwiegen für sie also die Argumente, in den USA zu bleiben. Aber ganz lässt sie die Heimat noch nicht los: "Auf einmal ist das große Abenteuer Residency vorbei - und man stellt fest, dass man möglicherweise bis an sein Lebensende in einem anderen Land leben wird. Das geht natürlich. Aber man sollte das Heimweh nicht unterschätzen!"