- Bericht
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- PD Dr. med. Kerstin A. Brocker
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- 06.10.2015
Vom Urlauber zum Refudoc auf der Ägäisinsel Symi
Eigentlich besuchten Dr. Kerstin Brocker und ihr Mann diesen Sommer die griechischen Insel Symi, um ihren Urlaub dort zu verbringen. Doch kurz nach ihrer Ankunft waren sie von unzähligen Flüchtlingen umringt. Kurzerhand beschlossen sie, das Badehandtuch gegen das Stethoskop zu tauschen um zu helfen.
Etwa 23 km nördlich von Rhodos und nur 9 km westlich der Türkei liegt die Ägäisinsel Symi. Seit Jahren verbringen wir regelmäßig unseren Sommerurlaub dort, so auch in diesem Jahr. Die ca. 2500 Einwohner der idyllischen Insel lebten früher vorwiegend vom Schwammtauchen, das jedoch vom Tourismusgeschäft abgelöst wurde (s. Abb. 1 und 2). Unser Urlaub begann wie üblich mit einem Charterflug von Deutschland nach Rhodos. Von dort aus ging es dann mit einem Schiff weiter nach Symi.
Abb. 1: Blick über die ineinander übergehenden Städte Symi (links) und Pedi (rechts). Im Hintergrund sieht man die Türkei – ein kurzer aber gefährlicher Weg nach Europa.
Abb. 2: Idyllischer Blick auf Symistadt – das erste Stück Europa, das die ankommenden Flüchtlinge auf Symi betreten, wenn sie den gefährlichen Wasserweg von der Türkei aus überstanden haben. Im fernen Hintergrund sieht man die Insel Kos, wo täglich weitere hunderte Flüchtlinge ankommen.
In den vergangenen Jahren hatten wir immer mal wieder vereinzelt Flüchtlinge am Polizeigebäude der Insel gesehen, die den beschwerlichen Weg von der Türkei nach Europa gewählt hatten. Etwas völlig Neues waren Flüchtlinge auf Symi also nicht für uns – neu jedoch war, dass wir bei Ankunft auf Symi von unzähligen syrischen Flüchtlingen umringt waren.
Sie versuchten einen der bei 35°C dringend notwendigen Schattenplätze am Straßenrand, in Hinterhöfen oder um das Polizeigebäude herum zu ergattern (s. Abb. 3). Dort saßen sie ganz ruhig mit ihrem wenigen Hab und Gut und beobachteten ihrerseits die ankommenden Urlauber – bis oben hin bepackt mit Urlaubsgepäck, wahrscheinlich ein Vielfaches von dem, was ein einzelner Flüchtling aktuell noch besitzt.
Abb. 3: Während die Flüchtlinge bei der Polizei auf dem Balkon im Schatten sitzen und auf ihre Registrierung warten, genießen die Gäste der Kreuzfahrtschiffe ihren Landgang.
Die Zahl der täglich ankommenden Flüchtlinge auf Symi schwankte in den Sommermonaten zwischen 25 – 200. Ein Aufnahmelager oder eine Flüchtlingsunterkunft gibt es nicht. Wenn eine Gruppe Flüchtlinge an einem der Strände abgesetzt wird, geleitet die alarmierte (Wasserschutz-)Polizei die Menschen zum Registrierungsbüro auf der Insel. Oder aber es dümpelt ein führerloses Boot vor der Küste, das von der Wasserschutzpolizei aufgegriffen und abgeschleppt wird.
Für jede ankommende Gruppe wird ein sogenannter „Leader“ bestimmt, der Englisch spricht und die Kommunikation zwischen Polizei und Gruppe übernimmt. Die Registrierung dauert meist einen bis drei Tage. In dieser Zeit dürfen die Flüchtlinge offiziell das Polizeigebäude nicht verlassen, was oft zu strukturellen Engpässen und Diskussionen mit den Behörden führt.
Die weitere Versorgung der Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln und Wechselkleidung, das Bereitstellen von Hygieneeinrichtungen, medizinischer Erstversorgung oder Informationen für die Weiterreise ist von offizieller Seite stark begrenzt.
Über den Sommer hat sich eine kleine Gruppe freiwilliger Helfer gefunden, um genau an dieser Stelle weiterzuhelfen. Andrew Davies, ein ehemaliger Investmentbanker und nun Hotelbesitzer auf Symi, hat die Organisation Solidarity Symi gegründet. Gemeinsam mit englischen, deutschen, französischen und auch einheimischen griechischen Bewohner hat er auf der Insel ein gut funktionierendes gemeinnütziges System entwickelt, um den ankommenden Flüchtlingen schnell und unkompliziert helfen zu können.
Während online Spendenaufrufe für praktische Dinge des Alltags (z. B. Kleidung für alle Altersgruppen, Decken, Hygieneartikel, Essensspenden) oder auch für Geld initiiert werden, haben sich die zahlreichen freiwilligen Helfer daran gemacht, die ankommenden Sachspenden zu sortieren (s. Abb. 4 und 5).
Abb. 4: Der medizinische Behandlungsraum. Zu Beginn und am Ende unserer dreiwöchigen Tätigkeit. Die zunehmenden Medikamenten-Spenden machten eine bessere Organisation nötig – und die vielen freiwilligen Helfer eine neue kreative Ordnung möglich.
Abb. 5: Ein sehr gut bestücktes Kleidungslager (links) welches komplett aus Spenden zusammengekommen ist. Freiwillige Helfer haben alle gespendeten Kleidungsstücke begutachtet, gewaschen und nach Geschlecht und Größe geordnet. Zwei Stunden am Tag können die Flüchtlinge nacheinander durchgehen und sich entsprechend benötigte Dinge mitnehmen. Rechts: Besonders Babynahrung und frisches Obst und Decken sind sehr gefragt. Babynahrung ist sehr teuer und auf der Reise kaum finanzierbar für die Flüchtlinge; frische Lebensmittel sind nach tagelangen Hungernöten und den üblichen Keksen eine willkommene Abwechslung; Decken werden trotz der heißen Temperaturen auf den Ägäisinseln benötigt, um sich auf den Straßen ein halbwegs bequemes Lager zu ermöglichen.
Im alten und leerstehenden Postgebäude der Insel werden die Sachspenden gelagert. Zweimal pro Tage gibt es in diesen Räumlichkeiten außerdem eine Essensausgabe und von den Geldspenden wurden zwei ambulante Toilettenhäuschen und zwei ambulante Duschen gekauft.
In den Wochen zuvor mussten sich die Flüchtlinge leider andere Wege – vom Meer bis zum Straßenrand – suchen, um ihre Geschäfte zu verrichten. Fließend Wasser wurde ihnen von Behördenseite nicht ausreichend zur Verfügung gestellt, ebenso wenig wie überdachte Schlafplätze oder regelmäßige Mahlzeiten.
Das alte Postgebäude grenzt direkt an das Polizeigebäude an. Durch die Nutzung von Solidarity Symi wurde es zur zentralen Anlaufstelle für Flüchtlinge auf der Insel. Dadurch, dass sich Touristen und Zugereiste bei der Essens- und Kleiderausgabe einbringen, zeigt sich auch zunehmend die griechische Bevölkerung bereit, sich an dem Projekt zu beteiligen. Einige Hotel- und Pensionsbesitzer stellen leerstehende Zimmer zur Verfügung. Restaurants geben Essensspenden. Ein Bekleidungsladen spendete säckeweise Kinderkleidung und Familien begannen, einen Waschdienst für getragene Kleidung von Flüchtlingen oder neu angekommenen Kleiderspenden anzubieten,
Neben essentiellen Dingen wie Nahrung, Kleidung Unterkunft, benötigen die ankommenden Flüchtlinge oft auch dringend medizinische Hilfe. Gestresst und ermüdet von den Strapazen der Reise über Land und Meer sind sie anfällig für Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder Influenza. Manche haben sich auch auf der beschwerlichen Reise verletzt.
So meldeten auch wir – eine Gynäkologin und ein Anästhesist – uns nach einigen Tagen Urlaub freiwillig und führten vormittags zu zweit eine Art Sprechstunde im alten Postgebäude durch. Zunächst hatten wir nur wenige Utensilien/Medikamente zur Verfügung ( s. Abb. 6). Nach einigen Tagen gesellte sich noch ein Allgemeinmediziner aus England zu uns und wir konnten uns tageweise abwechseln
Ein großes Problem bei der Versorgung der Flüchtlinge ist die Sprachbarriere. Glücklicherweise half uns dabei Zeki, ein syrischer Flüchtling und Leader seiner Gruppe (s. Abb. 7). Er erklärte sich bereit, die gesamte Zeit, während wir unsere Sprechstunde abhielten, zu übersetzen.
Abb. 6: Unsere medizinischen Materialkisten am Anfang des Einsatzes gefüllt mit Mittel zur Wundreinigung, Alkohol, Verbandsmaterial, Antibiosen und Schmerzmittel.
Abb. 7: Zeki und ich in unserer kleinen Medizinecke – wir warten auf den nächsten Patienten für den Zeki übersetzen kann.
Die Erwachsenen kamen häufig mit versorgungsbedürftigen Blasen und Schnittverletzungen an den Füßen und Beinen, die teilweise stark entzündet waren. Darüber hinaus klagten sie auch oft über unspezifische grippale Symptome oder über Infektionen der oberen Atemwege. Die Kinder hingegen waren überwiegend an schweren fiebrigen grippalen Infekten erkrankt.
Somit benötigten wir neben Utensilien und Medikamenten zur Wundversorgung (siehe Tabelle) auch Schmerzmedikamente, fiebersenkende Medikamente und Antibiosen. Mir wurde ein kleiner Säugling von drei Monaten mit Fieber und Unruhe gebracht (s. Abb. 8). Mit Hilfe seiner Mutter konnte ich ihm Paracetamol-Saft für Kinder verabreichen.
Sie stillte ihn voll, was in diesem Kindesalter sinnvoll und auch praktisch ist. Leider hatte sie jedoch auf der beschwerlichen Reise zu wenig Nahrung und Flüssigkeit zu sich genommen, um ausreichend stillen zu können. Dementsprechend geschwächt war der Säugling. Nach einigen Tagen, in denen das Fieber des Kindes gesenkt und die Mutter wieder zu neuen Kräften kam, ging es dem Baby rasch besser und die Familie konnte ihren Weg nach Norden fortsetzen.
Abb. 8: Einer unserer jüngsten Patienten mit knapp 3 Monaten und einer fiebrigen Bronchitis bekommt Kinder-Paracetamol-Saft. Sein Zustand ist als Stillkind deutlich abhängig von seiner Mutter, die aber, wie die anderen Flüchtlinge im Lager auch, nur eine kleine Flasche Wasser am Tag erhält. Dadurch wird das Stillen zunehmend schwierig und das Baby bekommt zu wenig Flüssigkeit. (Foto: Neil Gosling Photography - symidream.com)
Ein weiteres häufiges Problem waren infizierte Insektenstiche. Da die Menschen meist nur auf dem Boden schlafen können, werden sie oft gestochen (s. Abb. 9). Einige konnten wir mit einfachen Methoden (Antihistaminika oral oder als Salbe) behandeln, andere Flüchtlinge hatten hingegen Stiche, die sich zu Abszessen entwickelt hatten. Unter Lokalanästhesie haben wie die Abszesse dann geöffnet und gespült.
Abb. 9: Eine Hinterhofstraße bietet Schatten bei 35° C. Eine Gruppe syrischer Flüchtlinge versuchen sich die Zeit bis zur Registrierung mit Kartenspiel zu verkürzen.
Durch die starke Sonnenexposition zeigten viele Hilfesuchende auch ausgeprägte Sonnenbrände oder eine Konjuktivitis. Neben der verbrannten Haut müssen auch die Augen behandelt werden. Außerdem brauchen betroffene Patienten Schatten (Hüte, Zelte etc.) und ausreichend Flüssigkeitszufuhr.
Aber auch Patienten mit vorbestehenden internistischen Erkrankungen kamen in unsere Sprechstunde. Wir betreuten einen Patienten mit kardialen Beschwerden (Blässe, Kaltschweißigkeit, Tachykardie und in den Arm ausstrahlende Schmerzen), den wir umgehend zur weiteren Abklärung (z.B. EKG) zum Inselarzt schickten. Bei den meisten Patienten galt es jedoch, bekannte Erkrankungen zu kontrollieren und ggf. besser einzustellen (z.B. Blutdruck-, oder Blutzuckermessungen etc.).
Während wir in Deutschland eine Patientin mit massiver Hyperglykämie (Messwert auf der Straße vor der Erstaufnahmebehörde: 450 mg/dl!) sofort in die Klinik eingewiesen hätten, konnten wir in dem Fall den Zucker nur akut senken und ihr entsprechende Medikamente und ein durch Spendengelder finanziertes Messgerät mitgeben. Trotz ausdrücklicher Aufklärung über die möglichen lebensbedrohlichen Konsequenzen weigerte sie sich, nach Rhodos in das nächste Krankenhaus zu gehen. Sie wollte unbedingt am gleichen Abend noch die Fähre nach Athen erreichen.
Da die Erstaufnahmeregistrierung teilweise bis zu 24h dauerte und die Patienten nicht zu uns in das alte Postgebäude kommen konnten, disponierten wir kurzer Hand um: Mit dem geliehenen Elektroauto eines inselansässigen Restaurantbesitzers bildeten wir ein mobiles Einsatzkommando (s. Abb. 10), um die Flüchtlinge am Straßenrand zu behandeln.
Abb. 10: Behandlung am Straßenrand mit dem mobilen Refudoc-Einsatzfahrzeug – Das Elektrofahrzeug ist eine Leihgabe eines griechischen Restaurantbesitzers auf der Insel.
Die drei Wochen Urlaub vergingen mit dieser freiwilligen Arbeit noch schneller als sonst. Aber wir sind froh über unsere Entscheidung, im Team von Solidarity Symi mitzuwirken. Die Dankbarkeit der Patienten war enorm und eine Erfahrung, die man in diesem Ausmaß im medizinischen Alltag von zu Hause nicht gewöhnt ist. So ist man schier sprachlos, wenn einem ein Mensch aus Dankbarkeit den ersten Schluck aus seiner Wasserflasche anbietet – bei einer Tagesration von 250ml.
Wie sich die Situation auf Symi in den nächsten Wochen vor Wintereinbruch entwickelt, weiß niemand. Aber durch die enorme Spendenbereitschaft – vor Ort, oder auch international durch die Online-Aufrufe – scheint die kleine Hilfsorganisation auf Symi bestens gewappnet zu sein. Zahlreiche weitere Menschen auf der Flucht aus ihrer Heimat erfahren durch sie eine menschenwürdige Ankunft in Europa. Wir haben die Flüge für nächstes Jahr bereits gebucht.
Häufig benötigte Utensilien und Medikamente zur Erstversorgung der Flüchtlinge
Häufige Medikamente | Utensilien Wundversorgung | Unterstützende Maßnahmen |
Orale Antibiosen (Amoxicillin ggf. als Kombination mit Clavulansäure, Cefuroxim, Doxycyclin), antibiotische Augentropfen | Wunddesinfektion (z.B. Betaisadona, Octenisept) | Ausreichend Flüssigkeit und Nahrung |
Paracetamol zur Fiebersenkung und Acetylsalicylsäure bei grippalen Infektionen | Skalpell, Nadel, Fäden | Mundpflegeutensilien (Zahnbürsten, Zahnpasta, Mundspülung etc.) |
Schmerzmedikamente (z.B. Ibuprofen) | Tupfer, Kompressen, Pflaster, Gaze | Seife |
Lokalanästhetika (inkl. subcutane Kanülen und Spritzen) | fett- und flüssigkeitshaltige Hautpflege |
4. 9.15:
K: Hi Zeki! We saw the late-night ship going to Athens and saw many refugees on deck. Hope you made it on the ship and have a safe trip!
5.9.15:
Z: Yes, Doc! I was in it.
6.9.15:
K: Good to hear from you. Have you made it to Athens? Keep us updated.
8.9.15:
Z: I am in Serbia now in a bus going to Belgrade. We paid a bus driver 60 € each. It is a lot colder than in Symi. I couldn’t sleep last night.
K: How can you still use your Syrian phone?
Z: I don’t know - I use it as long as the contract works :)
11.9.15:
Z: Doc! I’m in Amsterdam!
K: Wow, but that’s not Germany ;)
Z: No, but Germany is too crowded now.
K: How did you get from Belgrade to Amsterdam?
Z: I got a bus closer to Hungary and then on foot on a railway track from Horgos to Hungary. Then we took a taxi to Budapest.
K: Crazy! And How did you get from Budapest to Amsterdam?
Z: Train. To Wien. To Munich. To Amsterdam. I like it here. It is like in the pictures we saw at home.
15.9.15:
K: Are you registered?
Z: No…not yet :(