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  • Felix Hutmacher
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  • 03.02.2022

Vom Kaffee schütten und Kaffee trinken - oder: Warum es nicht die Regel sein sollte, sich als Arzt selbst auszubeuten

Die ständige Überlastung von Ärzt*innen bringt Menschenleben in Gefahr. Warum ändert sich nichts?

 

 

Ich bin eigentlich immer lustig, hat Helge Schneider gesagt. Ich bin auf der Bühne lustig, und ich höre damit nicht auf, wenn ich nicht mehr im Scheinwerferlicht stehe. Dann ergänzt er: Das sei wie bei einem Arzt. Der höre auch nie wirklich auf, Arzt zu sein, auch wenn er seinen Kittel bei Feierabend ablege.


Ärzt*in: ein Beruf als Lebensaufgabe


Das entspricht dem Bild, das viele Menschen – und viele Ärzt:innen selbst – von Arzt oder Ärztin haben: Ein Mensch, der seinen Traumberuf gefunden hat und sich nicht zu schade ist, für das Wohl anderer Menschen seinen Feierabend zu opfern. Chefärzt*innen haben früher in ihrer Klinik gewohnt, und Hausärzt*innen auf dem Land geben auch heute zum Teil noch ihre private Nummer an ihre Patient*innen weiter, damit sie sie auch außerhalb ihrer Praxiszeiten erreichen können, und sei es in der Nacht.


Folgt man diesem Klischee, sind Ärzt*innen glücklich über die Ausweitung der beruflichen Sphäre über die Dienstzeit hinaus. Und sie sind mit dieser Dauerrolle nicht überfordert. In Arztserien jedenfalls kommt Stress vor allem dann auf, wenn man nach der Arbeit leichtsinnigerweise ein Techtelmechtel mit einer Kollegin oder einem Kollegen angefangen hat – und man sich nach dem verunglückten Date am Vorabend morgens auf dem Krankenhausflur wiederbegegnet. Die Rettung der Patient*innen aus lebensbedrohlichen Situationen jedenfalls gelingt fast immer und hat eher dramaturgische Bedeutung.


Beruf kommt von Berufung ist eine der Floskeln, die in diesem Zusammenhang öfters fallen. Oder wie hat es ein Chefarzt einmal formuliert: Wer braucht Work-Life-Balance, wenn Work zum Life dazugehört?


Work Hard ohne Play Hard


In diesem Geist wird man als junge*r Mediziner*in erzogen. Man ist eine gute*r Ärzt*in, wenn man kommentarlos wegarbeitet, was anfällt. Wenn man bei Feierabend ausstempelt und trotzdem weitermacht, bis die Arbeit erledigt ist. Wenn man nie krank ist und seine Mittagspause macht, indem man einhändig in den Stationscomputer tippt, während man sich mit der anderen ein belegtes Brot aus der Cafeteria hineinschiebt, während man außerdem versucht, am Telefon Kolleg*innen aus der anderen Klinik zu erklären, warum die weitere Behandlung der eigenen Patient*in auf der dortigen Station die für beide Seiten bessere Option ist.


Ich erinnere mich an einen Kollegen, der mir erzählte, er habe nach einem 24-Stunden-Dienst noch eine 12-Stunden-Operation weggeschrubbt. Er tat dies nicht, um sich über die Arbeitsbedingungen bei seinem Arbeitgeber zu beschweren oder einen davor zu warnen, in seiner Klinik sei es vielleicht um die Patient*innensicherheit nicht sehr gut bestellt. Er tat es, weil er für seinen Einsatz, für seine Standfestigkeit, seine Leistungsfähigkeit und seinen Durchhaltewillen gelobt werden wollte.


Wahrscheinlich hatte er auch keine Wahl: Es ist schließlich nicht so, dass es schwer wäre, eine Assistenzarztstelle an einer Uniklinik zeitnah nachzubesetzen. Man spürt den Atem der Konkurrenz also stets im Nacken, und der eigene Vertrag läuft auch demnächst wieder aus. Es ist ein Work Hard ohne Play Hard – jedenfalls gibt es für Mediziner*innen nicht die eine Stammkneipe gegenüber der Klinik, in der sie sich nach der Arbeit in einen erlösenden Rausch trinken könnten. Mediziner*innen tendieren eher dazu, auch in der Freizeit Höchstleistungen erbringen zu wollen: Sie laufen Marathon, gehen Bergsteigen oder segeln Regatta.


Ärzt*innen als Universalgenies


Dabei könnte man als Ärzt*in mit so einigem am Kneipentisch prahlen. Ärzt*in zu sein, ist auf eine gewisse Art und Weise einer der letzten Universalberufe: Man kann Heilender, Wissenschaftler*in und Lehrer*in in einem sein. Das ist faszinierend, weil man das eigene Arbeitsfeld so stets aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet – und man in seinem eigenen, kleinen Bereich dadurch noch so etwas wie ein Universalgenie sein kann: Man kennt die theoretischen Probleme seines Forschungsfeldes in- und auswendig. Gleichzeitig behandelt man Patient*innen und erfährt, was die Krankheit im Menschen anrichtet. Und man hat noch allerhand angehende Ärzt*innen um sich, mit denen man sein Wissen teilen kann. So ist man stets auf seiner eigenen, kleinen Forschungsreise.


Dabei darf man aber nicht vergessen, dass genau das sehr fordernd ist. Viele Menschen, die beruflich erfolgreich sind, können genau eine Sache sehr gut: Michael Schuhmacher konnte zum Beispiel sehr gut im Kreis fahren.


Nun reicht es in der Medizin leider nicht, erfolgreich den Visitenwagen um die Betten im Gang herumzusteuern und dabei die Reinigungsfachkraft aus dem Windschatten heraus zu überholen. Der Tag muss für Patient*innen, Studierende und wissenschaftliche Arbeit reichen. Es wäre an der Zeit, diesen Aspekten des ärztlichen Berufs auch jeweils die nötige Zeit einzuräumen, also: mehr Ärzt*innen für Lehre und Forschung freizustellen und so die ungestörte Versorgung von Patient*innen zu ermöglichen.


Der Pflegenotstand ist auch ein systemischer Notstand


Im Zusammenhang mit hoher Arbeitsbelastung im Gesundheitssystem allerdings fällt einem zwangsläufig im Moment zunächst eine andere Berufsgruppe ein: Pflegekräfte, über die in der Covid-19-Pandemie viel berichtet worden ist. Pflegende stehen in ihrem beruflichen Alltag vor schwierigen Herausforderungen, ohne eine angemessene Bezahlung oder ausreichende Anerkennung zu bekommen.
Ihr Leid ist dabei aber Symptom eines tiefergehenden Problems: Dass generell Stellen unbesetzt bleiben, weil Fachkräfte fehlen. Auf ärztlicher Seite wie auf Seiten der Pflege. Nur haben Pflegende dieses Problem längst als solches erkannt und benannt, während Ärzt*innen sich noch gegenseitig zum prall gefüllten Überstundenkonto beglückwünschen.


Dabei wird doch immer, wenn es in der Medizin um die Patientensicherheit geht, die Luftfahrt zitiert – nicht umsonst gibt es im OP mittlerweile Checklisten. Aber auch, was die Arbeitszeiten angeht, wäre eine Anpassung an die Ruhezeiten aus der Luftfahrtbranche dringend notwendig. Denn natürlich ist es eine großartige Leistung, wie Charles Lindbergh allein in einer windigen Propellermaschine über den Atlantik zu fliegen. Aber für die meisten Pilotinnen ist es ein Segen, dass sie diese Grenzerfahrung nicht jeden Tag machen müssen, sondern im Sinne der Sicherheit sehr geregelte Arbeits- und Ruhezeiten haben. Dadurch können sie die schönen Seiten des Pilotendaseins umso mehr genießen: die wundervolle Aussicht etwa oder die fernen Länder, in die sie durch ihre Arbeit reisen können.


Es bräuchte einen Mentalitätswandel


Für ernsthafte Fortschritte braucht es deshalb neben verbesserten Arbeitsbedingungen auch einen Mentalitätswandel. Ich selbst bin nachmittags nach getaner Stationsarbeit schon Umwege gelaufen, um nicht mit Kaffeetasse auf Station gesehen zu werden. Dieses Gefühl, nicht die Hände frei zu haben, sodass man im Notfall gleich zupacken könnte; dieses Gefühl, einen Kaffee zu tragen und damit das Pausengetränk schlechthin und den Eindruck zu erwecken, ich könnte vielleicht in der Arbeitszeit nicht arbeiten wollen, all das war mir schwer unangenehm. Dabei hatte ich alles recht dazu: Ich wollte mich zum Briefeschreiben an den Schreibtisch setzen und dabei zwischendurch an der Kaffeetasse nippen, weil ich nach einer Woche Pendeln zur Arbeit in der Klinik erschöpft war.


Und da wurde mir klar: Es sollte viel normaler sein, den Kaffee nicht nebenbei in sich hineinzuschütten. Sondern ihn auch einmal mit den Kollegen zu genießen. Und sich dafür nicht zu schämen, weil man für viel Work auch eine innere Balance braucht und auch Life zum Life dazugehört.

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