- Facharztcheck
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- Tina Wasner
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- 17.09.2003
Weiterbildung Pädiatrie - Kein Kinderspiel
Vom Frühgeborenen bis zum pubertierenden Jugendlichen, dazu ein breit gefächertes Krankheitsspektrum: Für viele ist Pädiatrie das Wunschfach schlechthin. Doch als Kinderarzt braucht man mitunter Nerven wie Drahtseile. Lesen Sie hier, warum der Beruf für viele trotzdem ein Traumberuf ist.
Zwei kleine Augen schauen skeptisch hinter einem Berg Kissen hervor und signalisieren unmissverständlich, dass die vier Weißkittel, die soeben das Zimmer betreten haben, besser nicht näher kommen sollen. Denn so viel hat Tobias in den wenigen Tagen seines Klinikaufenthaltes schon gelernt: Kinderärzte sind zwar meistens zu Späßen aufgelegt, gehen aber viel zu oft mit spitzen Nadeln auf unschuldige Kinderarme los. Tobias hat eine Antireflux-Operation an der Harnblase hinter sich und erholt sich jetzt im Kinderkrankenhaus St. Nikolaus in Ravensburg von der Operation. Gerade statten ihm die Urologen und die Assistenzärztin der Kinderabteilung einen Besuch ab. Dass alle vier Ärzte in Weiß erscheinen, ist für eine pädiatrische Abteilung eher ungewöhnlich, denn besonders in diesem Fach wird viel Wert darauf gelegt, den kleinen Patienten die Angst zu nehmen. Dazu gehört in den meisten Kliniken zunächst einmal ein ziviles äußeres Erscheinungsbild, vor allem aber eine möglichst kinderfreundliche Atmosphäre, die hier unter anderem viele bunte Fensterbilder vermitteln.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen
Überhaupt ist in der Kinderheilkunde vieles ganz anders. Entgegen der weitläufigen Meinung, Pädiatrie sei nichts weiter als Innere Medizin für Kinder, bietet das Fach ein breites Spektrum an Krankheitsbildern aus den unterschiedlichsten Fachgebieten: "Von Dermatologie und Infektiologie über Urologie, HNO und Allergologie bis hin zu Neurologie und Onkologie ist alles vertreten. Am häufigsten leiden die Kinder an Infektionskrankheiten der Atemwege oder des Gastrointestinaltraktes, aber auch Herzfehler, Fieberkrämpfe oder Meningitis gehören zum täglichen Brot in der Kinderheilkunde", erzählt Frederik Lörsch, PJ-Student in der Allgemeinpädiatrie des Universitätsklinikums Mannheim. "Größere Kinderkliniken wie diese sind zudem für die intensivmedizinische Versorgung von Frühgeborenen oder die Behandlung von Kindern HIV-infizierter Eltern eingerichtet. Chirurgische Eingriffe werden allerdings in benachbarten allgemein oder kinder chirurgischen Abteilungen vorgenommen. Die Patienten kommen dann lediglich zur postoperativen Nachsorge zu uns."
Betrachtet wird in der Kinderheilkunde stets der kleine Patient als Ganzes. Dabei müssen nicht nur die von Erwachsenen abweichenden Labor-Grenzwerte, sondern auch die unterschiedlichen Therapieschemata für den kindlichen Organismus berücksichtigt werden. Therapeutische wie diagnostische Maßnahmen sollten stets den Leitsatz "so wenig invasiv wie möglich" verfolgen. Trotz aller Rücksichtnahme lassen sich Schmerzen bei Untersuchungen mitunter aber nicht vermeiden. "In der Kinderheilkunde braucht man ein dickes Fell, beispielsweise wenn einem während der Blutentnahme beide Ohren vollgebrüllt werden", erzählt Dr. Susanne Lang-Ruß, Assistenzärztin am Universitätsklinikum Ulm. "Sicher fällt es mir immer wieder schwer, einem Kind weh tun zu müssen. Aber man weiß in dem Moment, dass es einfach sein muss." Der Ärztin hat es speziell die Kinderonkologie angetan. "Zum einen finde ich es sehr angenehm, die Kinder über längere Zeit zu betreuen, zum anderen sehen wir viel öfter einen Heilungserfolg als in der Erwachsenenonkologie. Bei der akuten lymphatischen Leukämie zum Beispiel beträgt die Überlebensrate zwischen 80 und 90 Prozent. Wenn ich dann ein solches Kind gesund von Station gehen sehe und mir ein Lächeln geschenkt wird, ist das einfach schön."
Die kleinen Patienten brauchen viel Zeit
Generell gilt in der Kinderheilkunde, dass man sich viel Zeit für die kleinen Patienten nehmen sollte, besonders für Säuglinge und Kleinkinder. Denn im Gegensatz zu älteren Kindern ab fünf oder sechs Jahren kann man den Kleinsten die Notwendigkeit des ärztlichen Handelns noch nicht begreiflich machen. "Es ist vor allem wichtig, das Vertrauen des Kindes zu gewinnen, damit am Schluss auch unangenehmere Untersuchungen wie die Inspektion von Mund und Ohren möglich werden. Dazu gehört, dass man viel mit dem Kind redet und so etwa über das Spiel mit einem Teddy Zugang findet", berichtet Dr. Lang-Ruß. "Oft sind jedoch die Eltern ein viel größeres Problem. Sie sind verständlicherweise beunruhigt oder skeptisch und möchten über Krankheit und Therapie ihres Kindes ganz genau Bescheid wissen. Das stresst dann mitunter die Kinder so sehr, dass ich manchmal die Eltern aus dem Zimmer schicken muss."
Neben Gesprächen mit Kindern und Eltern muss jedoch auch der Stationsalltag erledigt werden. Ein gewöhnlicher Arbeitstag an der Uniklinik Ulm beginnt um acht Uhr mit der Besprechung nächtlicher Vorkommnisse. "Anschließend versorgen wir dringende Fälle und führen dann spezielle Untersuchungen durch, zum Beispiel Ultraschall. Nach der Visite treffen wir uns erneut zur Mittagsbesprechung, um neue Patienten vorzustellen und Probleme zu diskutieren. Nachmittags stehen Entlassungen, Elterngespräche und Aufnahmen auf dem Programm", erzählt die Ärztin. Offiziell endet der Tag um 16.30 Uhr, doch zögern fast immer Verwaltungsangelegenheiten den Feierabend hinaus. "Ich hätte nie gedacht, dass der bürokratische Aufwand so groß ist. Die Zeit mit den Patienten kommt oft viel zu kurz, und gerade die ist in der Kinderheilkunde so wichtig", seufzt Dr. Lang-Ruß.
Kinderärzte brauchen viel Fingerspitzengefühl
Viel Zeit und Fingerspitzengefühl brauchen Pädiater für den Umgang mit kleinen Patienten, insbesondere mit Neugeborenen. Aber die Unsicherheit, wie man mit Kindern umgehen soll, schreckt viele Studierende davor ab, ihr PJ-Wahlfach oder eine Famulatur in der Pädiatrie zu absolvieren. Der Ruf, dass Studenten hier praktisch nichts tun dürfen und meist in die Zuschauerposition verbannt werden, eilt dem Fach voraus. "Zu Unrecht", betont Frederik Lörsch. Nach acht Wochen auf der Neugeborenen-Intensivstation verbringt der begeisterte PJler den Rest seines Wahltertials auf einer allgemeinpädiatrischen Station. "Ich untersuche neue Patienten und stelle sie den Ärzten vor, mache unter Anleitung APGAR-Tests bei Neugeborenen, erstelle Ernährungspläne und Infusionsschemata. Zu meinen Tätigkeiten gehören weiterhin Blutentnahmen bei größeren Kindern sowie Ultraschalluntersuchungen und Lumbalpunktionen. Einmal durfte ich sogar ein Frühgeborenes intubieren. In schwierigen Fällen helfen mir die Assistenzärzte, ansonsten arbeite ich weitgehend selbstständig und betreue unter Anleitung eigene Patienten. Wer viel Engagement zeigt und sich geschickt anstellt, darf auch viel tun." Für den Vater zweier Kinder steht sein Traumberuf schon seit langem fest, weil er einfach gerne mit Kindern arbeitet. "Es beeindruckt mich immer wieder, wie Kinder trotz schwerer Krankheiten so fröhlich sein können. Seit vier Wochen ist ein zweieinhalb Jahre altes Mädchen mit Morbus Hirschsprung bei uns. Weil ihre Eltern drogenabhängig sind, musste eine Pflegefamilie für sie gefunden werden. Die Kleine ist völlig abgemagert und am ganzen Körper vernarbt wegen der vielen Operationen. Trotz alldem ist sie total lustig und fröhlich." Ganz besonders schätzt Frederik Lörsch das lockere, ungezwungene Arbeitsklima in der Kinderheilkunde. Unter Kollegen anderer Fachrichtungen haben Kinderärzte oft den Ruf, ein bisschen wie ihr Klientel zu sein: sanft, harmoniebedürftig und bis zu einem gewissen Grade verspielt. Dagegen ist die fünfjährige Facharztausbildung kein Kinderspiel. Die Weiterbildungsordnung schreibt neben sechs Monaten in der nichtspeziellen pädiatrischen Intensivmedizin mindestens dreieinhalb Jahre im Stationsdienst vor. Ein Jahr der Ausbildung kann bei einem niedergelassenen Arzt abgeleistet werden. Angerechnet werden darüber hinaus bis zu ein Jahr Weiterbildung in der Kinderchirurgie, -psychiatrie/-psychotherapie oder -radiologie sowie in einigen anderen nicht-pädiatrischen Fachgebieten wie Gynäkologie. Zu den Zusatzbezeichnungen Neonatologie und Kinderkardiologie kommen bald noch Pädiatrische Hämatologie/Onkologie sowie Neuropädiatrie hinzu.
Stellensuche: Gefragt ist nicht nur ein geschickter Umgang mit Kindern
Den vorgeschriebenen Weiterbildungskatalog in den vorgesehenen fünf Jahren zu erfüllen, ist fast unmöglich - darin sind sich die meisten Kinderärzte einig. Bei der Wahl des Ausbildungsortes allerdings scheiden sich die Geister. Während die einen von Ausbeutung der jungen Assistenten an den Unikliniken sprechen und selbst nicht in Kauf nehmen wollen, neben der täglichen Stationsarbeit auch noch forschend tätig sein zu müssen, schwärmen andere geradezu von der Kombination aus Patientenversorgung und Forschung und möchten die Erfahrungen in Häusern der Maximalversorgung nicht missen. "An einem großen Klinikum mit vielen speziellen Abteilungen mag die Allgemeinpädiatrie vielleicht etwas zu kurz kommen. Dafür sieht man aber auch seltene Krankheitsbilder, mit denen man an einem kleinen Haus oft nicht konfrontiert wird", meint Dr. Lang-Ruß. Doch auch an großen nichtuniversitären Kinderkliniken bekommt man einen umfassenden Überblick über das Fachgebiet. "Wer keine Grundlagenforschung betreiben will und wer klinisch orientiert auf hohem Niveau arbeiten will, ist an einem größeren nichtuniversitären Haus gut aufgehoben", meint PD Dr. Andreas Artlich, Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin in Ravensburg. Wichtig bei Bewerbungen junger Kollegen ist daher für den Pädiater und Neonatologen mit den Zusatzbezeichnungen Medizinische Genetik und Allergologie ein interessanter Lebenslauf, der von Flexibilität und gegebenenfalls auch Auslandserfahrung zeugt. "Mich beeindruckt, wenn jemand über den Tellerrand geschaut und einmal etwas anderes gemacht hat. Selbstverständlich müssen Bewerber vor allem ihr Fach beherrschen und ins Team passen." Ein Blick in die Examenszeugnisse gehört bei Dr. Artlich ebenfalls dazu: "Wir stellen junge Mediziner nicht ein, nur weil sie schon immer am Haus waren und all ihre Famulaturen hier absolviert haben." Nach wie vor sehen es aber viele Chefärzte gerne, wenn Bewerber um eine AiP-Stelle ein PJ-Tertial sowie eine Promotion in der Kinderheilkunde vorweisen können. "Oft legen Frauen die besseren Bewerbungen vor", berichtet Dr. Artlich. "Es ist zunehmend schwierig, junge männliche Kollegen für das Fach zu begeistern." Mit über 50% Ärztinnen unter den Beschäftigten hat die Kinder- und Jugendmedizin nicht umsonst den Ruf eines "Frauenfaches". Viele Kliniken bieten Ärztinnen (und auch Ärzten), die Beruf und Familie verbinden möchten, Teilzeitstellen an und ermöglichen ihnen somit, ihre Weiterbildung nach der Elternzeit nahtlos fortzusetzen. Noch günstigere Bedingungen herrschen in Praxen, wo Halbtagskräfte häufig begehrte Unterstützung sind.
Aber nicht nur hinsichtlich Halbtagsstellen hat sich die berufliche Situation angehender Kinderärzte in der letzten Zeit deutlich geändert: Während die Pädiatrie noch vor wenigen Jahren als hoffnungslos überlaufen galt, werden die Aussichten für zukünftige Kinderärzte wieder besser. Nach wie vor ist es jedoch nicht einfach, eine Weiterbildungsstelle zu bekommen. Junge Mediziner, die sich auf eine AiP-Stelle bewerben, müssen zeitlich und örtlich sehr flexibel sein. Wer den Facharzt aber erst einmal in der Tasche hat, kann sich auf rosige Zeiten freuen: "Die ersten Lücken entstehen in den nächsten fünf Jahren", bestätigt Dr. Artlich und fügt hinzu, dass trotz sinkender Geburtenzahlen der Bedarf an Fachärzten ungebrochen sei. "Betroffen sind vor allem die neuen Bundesländer, aber auch in Westdeutschland werden künftig viele Niedergelassene händeringend nach Nachfolgern suchen müssen."
Selbst gemalte Bilder für den Familienmediziner
Mit diesen Problemen muss sich Dr. Michael Mühlschlegel zum Glück nicht beschäftigen. Der Kinderarzt hat sich vor fast 13 Jahren zur Niederlassung entschlossen und bereut diesen Schritt bis heute nicht. "Das Klima bei uns ist spitze, und die Praxis läuft gut." Während seine Kollegen an der Klinik oft bis spät abends die Station hüten und zu regelmäßigen Diensten verpflichtet sind, arbeitet Dr. Mühlschlegel nicht unbedingt weniger, genießt aber den Luxus einer freien Zeiteinteilung. Zusammen mit einem Kollegen betreibt der Kinderarzt eine Gemeinschaftspraxis in Lauffen. "Dadurch, dass wir zu zweit sind, können wir uns auch einmal Urlaub leisten, ohne deshalb gleich die Praxis schließen zu müssen", erzählt der Pädiater. "Meine Praxistätigkeit unterscheidet sich deutlich von der eines Klinikarztes, obwohl auch Notdienste dazugehören. Im Unterschied zu den angestellten Kollegen, die in der Regel mindestens drei- bis viermal im Monat zum Dienst verpflichtet sind, fallen für mich nur vier bis fünf Wochenenden bzw. Feiertage im ganzen Jahr an. Dafür ist es im Winterhalbjahr, wenn die Grippewelle tobt, sehr anstrengend. Nach fast zehn Stunden Sprechstunde mit viel Gebrüll reicht es einem dann", erzählt Dr. Mühlschlegel. Über die Hälfte des Tages ist er mit Vorsorgeuntersuchungen beschäftigt. "Jeden Morgen sind feste Zeiten für Impfungen und die für Kinder üblichen Untersuchungen U1 bis U9 vorgesehen, danach behandele ich akute Fälle. Die Kinder kommen meist mit Husten, Schnupfen, Ohrenschmerzen oder Magen-Darm-Infekten." Abends haben die beiden Kinderärzte spezielle Sprechstunden: Dort beraten sie Kinder und ihre Eltern zu chronischen Krankheiten wie Asthma oder Neurodermitis. Dem Pädiater gefällt die Abwechslung zwischen Akut- und Präventivmedizin sehr. "Durch die regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen kenne ich die meisten Patienten schon seit ihrer Geburt. Viele Kinder haben ein sehr enges Verhältnis zu mir und bringen oft selbst gemalte Bilder mit." Vor kurzem wurde eine zusätzliche Früherkennungsuntersuchung, die so genannte J1 für 12- bis 15-Jährige, eingeführt. Nicht selten suchen Eltern den Kinderarzt wegen Erziehungsproblemen, Aggressivität, Essstörungen oder psychischen Problemen ihrer Sprösslinge auf. Der Umgang mit den Jugendlichen ist mitunter nicht einfach. "Es frustriert mich sehr, wenn ich zuschauen muss, wie junge Menschen in ihrer Entwicklung entgleisen." Tauschen möchte der Kinderarzt seinen Beruf jedoch mit keinem anderen. "Die kleinen Patienten machen einem selten etwas vor, und es geht bei ihnen fast immer bergauf - da macht die Arbeit umso mehr Spaß."
Auch Dr. Artlich hat die Arbeit mit Kindern immer fasziniert. Besonders ein Fall ist ihm dabei gut in Erinnerung geblieben: "Als ich blutjunger Assistent war, stellte sich in meinem Dienst ein Mädchen mit lauter blauen Flecken an den Beinen vor. Nach erfolgloser Abklärung aller erdenklichen Differenzialdiagnosen zog ich hilflos meine Oberärztin zu Rate. Die nahm nach kurzer Bedenkzeit einen feuchten Tupfer zur Hand, wischte damit über die Beine der Patientin und beseitigte mühelos einen Makel nach dem anderen - es war die neue Jeans, die ihre farbigen Spuren auf der Haut hinterlassen hatte!" In der Kinderheilkunde muss man also immer auf Überraschungen gefasst sein.