- Facharztcheck
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- Tanja Jähnig
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- 28.06.2017
Weiterbildung Strahlentherapie - Tumorjäger auf der Pirsch
Neben der Chirurgie und der Chemotherapie ist die Strahlentherapie die dritte große Säule der Tumorbehandlung. Über dieses Fach existieren viele Klischees. Wir erklären Ihnen, was den Alltag der Strahlentherapeuten tatsächlich bestimmt: Mehr Patientenkontakt, als Sie ahnen, weniger Physik, als Sie fürchten - und eine Strahlenbelastung, die so gering ist, dass selbst schwangere Kolleginnen nicht pausieren müssen.
Die strahlentherapeutische Ambulanz der Uniklinik Heidelberg ist bis auf den letzten Platz besetzt. Um keine Zeit zu verlieren, schnappt sich Assistenzarzt Dr. Stefan Rieken gleich die erste Akte vom Stapel. "Paukenerguss bei Nasopharynxkarzinom" steht auf der Überweisung. Dr. Rieken bittet den Patienten in sein Untersuchungszimmer. Der 60-jährige Herr Gross* wirkt niedergeschlagen: "Wissen Sie, Herr Doktor, ich war nie ernsthaft krank", erzählt er. "Bis vor ein paar Wochen. Da konnte ich plötzlich nicht mehr richtig durch die Nase atmen. Zuerst dachte ich, dass da meine Pollenallergie dahintersteckt. Aber dann fiel mir auf, dass ich auf meinem linken Ohr schlechter höre. Deshalb bin ich schließlich doch zum Arzt gegangen. Nun bin ich völlig verzweifelt." Dr. Rieken weiß, dass Nasopharynxkarzinome meist inoperabel sind und die meisten Patienten früher daran gestorben sind. Seit Onkologen bei dieser Tumorart eine Kombination aus Chemo und Bestrahlung einsetzen, liegt die Langzeitüberlebensrate bei diesem Tumor jedoch über 80 Prozent. Also versucht der Assistenzarzt seinen Patienten zu beruhigen. Erstaunt hört Herr Gross zu, was Dr. Rieken ihm über die Möglichkeiten der modernen Strahlenmedizin berichtet. Eigentlich hätte er angesichts seiner schlimmen Erkrankung nur entschuldigendes Achselzucken erwartet. Aber wenn das stimmt, was ihm der junge Arzt da erzählt, hat er ja doch noch eine Chance...
Erst Simulation, dann Radiation
So wie Dr. Rieken besprechen alle Strahlentherapeuten mit ihren Patienten erst einmal ausführlich die Möglichkeiten und Ziele einer Therapie. Im nächsten Schritt werden die Details dieser Behandlungen am PC geplant. Anhand von Schnittbilduntersuchungen ermitteln sie mit spezieller Software, mit welcher Strahlenart und -dosis sie welches Areal bestrahlen müssen, um bösartiges Gewebe zu vernichten - und gesundes möglichst zu erhalten. Bei vielen Tumoren reicht ein Bestrahlungs-Planungs-CT, um das zu bestrahlende Areal abzugrenzen. Häufig benötigt der Strahlentherapeut zusätzlich aber noch ein MRT, da er damit die Ausdehnung des Tumors noch besser beurteilen kann. Am Computer werden die CT- und MRT-Bilder digital fusioniert, und der Arzt markiert mit einem speziellen Stift oder mit der Maus am Bildschirm das zu bestrahlende Tumorvolumen. "Das klingt zwar erst mal einfach", erklärt Dr. Rieken. "Hat man aber zum Beispiel die MRT-Sequenzen bei einem Glioblastom zu bearbeiten, wird es kompliziert. Klar, da wo Kontrastmittel aufgenommen wird, ist der Tumor. Aber wie schaut es mit Nekrosen oder niedrigmalignen Anteilen aus, die kein Kontrastmittel aufnehmen? Da muss man höllisch aufpassen, dass man die nicht übersieht." Deswegen ergänzen die Strahlentherapeuten ihre CT- und MRT-Befunde häufig noch mit einer Positronen-Emissions-Tomografie (PET). Hierbei kann man die Stoffwechselaktivität des Gewebes beurteilen und malignes von gesundem Gewebe noch besser unterscheiden.
Hat der Strahlentherapeut die Therapie geplant, ist ein Strahlenphysiker für die Umsetzung des Bestrahlungsplans verantwortlich. Um die hochenergetische Strahlung zu erzeugen, kommen meistens Linearbeschleuniger zum Einsatz. Diese riesigen Geräte erzeugen, angetrieben durch hohe Wechselspannungen, an einem Glühdraht Elektronen, die sie in einem Vakuumtunnel fast bis auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen. Möchte man eher oberflächliche Tumoren z. B. der Haut bestrahlen, verwendet man diese schnellen Elektronen direkt. Muss tiefer liegendes Gewebe bestrahlt werden, schießt man die Elektronen auf ein Hindernis aus Wolfram. Hierbei entsteht dann Gammastrahlung in Form von energiereichen Photonen, die ihre maximale Wirkung erst im Körperinneren entfalten. Beide Strahlenarten schädigen die DNA der beschossenen Zellen so stark, dass sie sich nicht mehr selbst reparieren können und absterben.
Die Grundlage für diese Medizin schuf Wilhelm Röntgen 1895, als er die Röntgenstrahlung entdeckte. Wenig später stellten Forscher, die mit der neuen Technik experimentierten, fest, dass diese Strahlen Haarausfall und Hautentzündungen verursachen können. Dabei führte diese Beobachtung keineswegs dazu, dass man die neue Technik als für die Medizin untauglich verdammte. Im Gegenteil: Man erkannte schnell, dass sich diese Effekte therapeutisch nutzen lassen. So schlug bereits zwei Jahre nach Röntgens Entdeckung die Geburtsstunde der Strahlentherapie: Der Wiener Radiologie-Pionier Leopold Freund behandelte mit der neuen Strahlung erstmals eine Krankheit: Er bestrahlte erfolgreich den Naevus pigmentosus piliferus ("Tierfell-Muttermal") eines fünfjährigen Mädchens.
Heutige Weiterbildungsassistenten sind gegenüber den Pionieren der Strahlentherapie im Vorteil: Ein Großteil ihrer Arbeit ist virtuell. Sie können zuerst am Rechner vieles ausprobieren, ohne dass sie selbst oder Patienten zu Schaden kommen. Der Oberarzt entscheidet dann, ob das Therapiekonzept onkologisch sinnvoll ist. Wichtig ist immer, ein Mittelmaß zu finden zwischen ausreichender Bestrahlung des Tumors und Schonung von Risikoorganen wie dem Rückenmark. Um diese Organe so wenig wie möglich zu schädigen, können Strahlentherapeuten ihre Planung optimieren, indem sie z. B. Parameter wie den Bestrahlungswinkel ändern. Daneben kann man mit Multilamellen-Kollimatoren oder metallischen Ausgleichskörpern die Strahlungsintensität innerhalb des bestrahlten Feldes fast beliebig modulieren.
Kaum Strahlenlast, viel Arbeitslast?
Bei vielen jungen Medizinern löst diese geballte Ladung Physik eine gewisse Skepsis aus. Muss man nicht erst ein extra Aufbaustudium absolvieren, um all die Grundlagen zu verstehen? Dr. Rieken hält solche Ängste für unbegründet: "Natürlich brauchen wir physikalisches Wissen", erklärt der Assistenzarzt. "Aber das gilt auch für Kollegen anderer Disziplinen, z. B. HNO-Ärzte in der Tonaudiometrie oder Orthopäden in der Biomechanik. Zwar muss ich die Grundzüge der Röntgen- und Teilchenphysik beherrschen: Ich sitze aber zu keiner Zeit mit einem Taschenrechner da und stelle schwierige Berechnungen an. Das meiste übernimmt die Planungssoftware." Unbegründet ist auch die Angst, "verstrahlt" zu werden. Strahlentherapeuten haben wesentlich geringere Strahlenbelastungen als z. B. interventionell tätige Kardiologen oder Chirurgen, die im OP Knochen röntgen müssen. Zudem werden die täglichen Bestrahlungen meist von MTAs durchgeführt. Die Ärzte selbst sind nur selten dabei. Deswegen dürfen schwangere Kolleginnen in der Strahlentherapie arbeiten. In der Chirurgie geht das nicht.
Anders als mit der Strahlenlast sieht es mit der Arbeitslast aus. Sie sollte man nicht unterschätzen - vor allem nicht an einer Uniklinik. Mit Forschung und Lehre, zusätzlich zur ohnehin anspruchsvollen Versorgung so vieler Patienten in einem Tumorzentrum, fallen viele Überstunden an. "Allerdings", so verrät Dr. Rieken, "sind meine Überstunden oft angenehmer zu ertragen als in den Fächern der Akutmedizin. So kann ich den Kittel ausziehen, einen Tee neben den PC stellen und ein Brötchen essen." Zudem gibt es in der Strahlentherapie natürlich auch familienfreundlichere Beschäftigungsmodelle. Vor allem an kleineren Kliniken ohne Forschung und Nachtdiensten fallen deutlich weniger Überstunden an. Auch Halbtagsstellen sind gut in die Dienstpläne integrierbar. So herrscht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Frauen und Männern, sowohl unter den Assistenz- als auch den Oberärzten. Selbst an Unikliniken ist es nicht ungewöhnlich, dass Frauen mit Familie es bis an die Spitze von Abteilungen schaffen.
Weiterbildung: Radiologie empfehlenswert
Doch wer sich um eine Chefarztstelle bewerben möchte, muss natürlich zunächst einmal die Facharztprüfung hinter sich bringen. Auf dem Weg zu ihr sind fünf Jahre Weiterbildung zu absolvieren, mindestens drei Jahre davon in der Strahlentherapie. Zudem gehört ein Jahr stationäre Patientenversorgung dazu, bevorzugt auf einer onkologischen Station. Hier lernt der junge Assistent, Chemo- und Schmerztherapien richtig anzuordnen sowie sterbende Patienten zu begleiten. Auch Dr. Rieken begann seine Facharztausbildung auf einer onkologischen Station: "Es ist belastend, mit sterbenden Patienten zu arbeiten. Für mich war das eine harte Zeit", erinnert er sich. Andererseits gehören zum Spektrum der Strahlentherapeuten nicht nur Krebspatienten: etwa fünf Prozent haben gutartige Erkrankungen wie Hypophysenadenome oder Insertionstendopathien.
Im zweiten Ausbildungsjahr folgt für die meisten Assistenten die Arbeit "an den Geräten". In Heidelberg können sie im Halbjahresrhythmus zwischen Therapieformen wie der Brachy-, Partikel- oder Intensitätsmodulierten Radiotherapie rotieren. "In drei Jahren kann nicht jeder alles sehen", verrät Dr. Rieken. "Trotzdem haben alle Assistenten, die ich kenne, den Facharzt in fünf Jahren geschafft!" Früher war zusätzlich noch ein Jahr in der diagnostischen Radiologie Pflicht. Grund war, dass die Strahlentherapie erst Mitte der 1990er Jahre aus dem Gebiet der Radiologie ausgegliedert wurde. Heute sind diese zwölf Monate nur noch mancherorts obligat - z. B. in Heidelberg. Prof. Klaus Herfarth, Leitender Oberarzt der Radioonkologie und Strahlentherapie der Uniklinik Heidelberg, erklärt auch warum: "Die Arbeit mit CT und MRT ist das grundlegende Handwerkszeug für die Planung von Therapiekonzepten. Deshalb ist es wichtig, dass die Assistenten damit umgehen können."
Zukunft: Strahlend!
Doch so zentral die Planung der Bestrahlungen im Arbeitsalltag der Strahlentherapeuten auch ist - mit ihrer Umsetzung ist ihre Arbeit nicht abgeschlossen. Sie betreuen ihre Patienten auch in der Nachsorge. Das hat den Vorteil, dass sie erfahren, was aus ihren Patienten wird, wie erfolgreich sie mit ihren Maßnahmen waren - und welche Spuren die Strahlentherapie hinterlassen hat. Da immer auch gesundes Gewebe mitbestrahlt wird, können durch die Therapie selbst Tumore entstehen. Insgesamt sind diese relativ selten: Die Inzidenz liegt in den nachfolgenden 30 Jahren weit unter 30 Prozent. Da die meisten Krebspatienten in Deutschland älter als 65 sind, erleben nur wenige Zweitneoplasien. Andererseits leben junge Patienten, die bestrahlt wurden, durchaus noch lange genug, um Zweittumore 30 Jahre später zu entwickeln.
Auch aus diesem Grund versuchen Strahlentherapeuten ständig ihre Therapien zu verbessern und neue zu entwickeln. So kommen auch wissenschaftlich ambitionierte Ärzte auf ihre Kosten. Die Forschungsschwerpunkte liegen auf der Strahlenbiologie, Strahlenphysik und klinischen Strahlentherapie. Umgekehrt wird natürlich nicht von jedem zukünftigen Strahlentherapeuten erwartet, dass er parallel zu seiner klinischen auch eine wissenschaftliche Laufbahn aufbaut. Auch eine abgeschlossene Promotion ist keine Voraussetzung für eine Stelle. Wenn Prof. Herfarth mit künftigen Kollegen Bewerbungsgespräche führt, legt er vor allem Wert darauf, dass sie Spaß an der Strahlentherapie haben: "Zudem ist mir Einsatzwillen wichtig. Und - nach wie vor - gute Noten." Momentan ist die Arbeitsmarktsituation sehr gut: "Man kann eigentlich fast immer und jederzeit eine Stelle finden", erklärt Dr. Rieken. Auch nach der Facharztprüfung sind die Aussichten rosig. Prof. Herfarths Einschätzung: "Es werden sehr viele Fachärzte gesucht, um die Praxen aufzufüllen. Und durch den demografischen Wandel und neue Therapiemethoden wird der Bedarf eher noch steigen."
Der Schritt in die Praxis - lohnendes Risiko
Denn anders als die meisten denken würden, arbeiten keineswegs alle Strahlentherapeuten in hoch spezialisierten Zentren. Es gibt auch niedergelassene Fachärzte. Deren Handwerkszeug und das der Klinikärzte unterscheidet sich dabei kaum: Planungs- und Therapiegeräte sind die gleichen. Bei Dr. Jörg Schäfer, niedergelassener Arzt für Strahlentherapie in Speyer, ist das Patientenspektrum zwar etwas enger als in der Klinik, trotzdem behandelt auch er vor allem onkologische Patienten. Dabei nutzt er häufig die perkutane Radiatio. An seiner niedergelassenen Tätigkeit schätzt Dr. Schäfer besonders, dass er die Patienten längere Zeit betreuen kann und oft mit Kollegen anderer medizinischer Fachrichtungen zusammenarbeitet. Niederlassungsbeschränkungen gibt es derzeit in der Strahlentherapie nicht. Dr. Schäfer merkt jedoch an: "Eine Niederlassung setzt gut funktionierende Kooperationen voraus, weil die onkologische Therapie ein interdisziplinäres Feld ist." Natürlich ist es ein größeres Risiko, eine Praxis mit millionenschweren Geräten einzurichten, als eine psychoanalytische Praxis zu eröffnen, in der das wichtigste Möbel eine Couch ist. Doch für Dr. Schäfer hat sich das Wagnis gelohnt. Er schätzt, dass er sein Arbeitsumfeld jetzt eigenverantwortlich gestalten kann. "Meine Lebensqualität hat sich dadurch enorm gesteigert, weil ich über meine Zeit freier verfügen kann", sagt er.
Kein Wunder. Physik!
Herr Gross, Dr. Riekens Patient mit dem Nasopharynx-Ca, erhält über mehrere Wochen eine Chemo- und eine intensitätsmodulierte Strahlentherapie. Diese ist sehr nebenwirkungsarm, weil sie Risikoorgane wie Gehirn, Rückenmark und Speicheldrüsen im Kopf-Hals-Bereich weitestgehend schont. Zwar ist die Therapie für den 60-Jährigen nicht immer einfach: Er leidet an wunden Schleimhäuten, Schmerzen beim Schlucken und chronischer Abgeschlagenheit. Doch die Mühen lohnen sich: Der Tumor im Nasen-Rachen-Bereich bildet sich sukzessive zurück, irgendwann ist er verschwunden. Auch bei den Nachsorgeterminen kann kein Rezidiv ausgemacht werden. Für Herrn Gross ist diese Rückkehr ins Leben wie ein Wunder. Auch für Dr. Rieken sind solche Erfolge eine tolle Sache, Wunderglauben muss er aber nicht bemühen, um sie sich zu erklären. Strahlentherapie ist deswegen so erfolgreich, weil sie nicht nur eine, sondern zwei starke Mütter hat: Die eine heißt Medizin - die andere: Physik!