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- Karla
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- 18.09.2019
Psychose oder Alzheimer? (Teil 2)
Fortsetzung von Teil I
Nachdem die Rettungssanitäter, eine Notärztin und zwei Polizeibeamte meine betagte Nachbarin zum Rettungswagen begleitet hatten, ließ sie sich freiwillig mitnehmen. Inzwischen war es fast 3 Uhr mitten in der Nacht und draußen lag die Temperatur immer noch deutlich über 20 Grad. Meine andere Nachbarin, die Mutter der Patientin und ich standen noch eine Weile im Treppenhaus und sprachen über die Ereignisse. Hätte ich nicht darauf bestanden, dass man einen Notarzt ruft um sie dann ins Krankenhaus bringen, wäre vermutlich noch Schlimmeres passiert. Mein Gefühl war also ganz richtig, als ich die alte Dame verwirrt und nackt an ihrem Küchenfenster sah.
Meine gute Intuition wurde im Verlauf der nächsten Tage und Wochen durch die regelmäßigen Berichte meiner in diesem Fall sehr engagierten anderen Nachbarin und der Tochter der Patientin noch bestätigt. Demnach hatte die verwirrte Frau nicht nur eine Stoffwechselentgleisung durch Verweigerung der Einnahme ihrer Nierenmedikamente, sondern litt vermutlich unter einer akuten Psychose. Sie zog sich ständig aus, verteilte den Inhalt ihrer Windel in ihrem Zimmer und unterstellte den Ärzten und Pflegern Mordabsichten und Vergiftungsversuche.
Ein Amtsrichter musste die zwangsweise Unterbringung in der Psychiatrie in einem nahegelegenen Vorort im Umland anordnen. Meine fitte Nachbarin rief mich regelmäßig an und berichtete mir über die Besucher. Diese waren ziemlich grausam, und belegten immer wieder unsere gemeinsame Entscheidung, sie einweisen zu lassen. Die akute Psychose war inzwischen dann auch diagnostiziert worden und die Ärzte bemühten sich um eine Therapie. Da die Patientin allerdings die Einnahme verweigerte und phasenweise auch das Essen einstellte, waren sämtliche Therapieversuche erfolglos. Auch die Mitarbeiter der Psychiatrie bemühten sich irgendwann, die alte Dame loszuwerden und in eine andere Anstalt zu verlegen. Allerdings war sie dort aufgrund ihrer Diagnose eigentlich schon richtig untergebracht.
Der Sommer war nach wie vor in Höchstform und es häuften sich die Tage mit teils unerträglichen Temperaturen bis an die 40 Grad in der Sonne. Für eine über 90 Jahre alte Frau mit mehreren Bypässen und Niereninsuffizienz, die zudem Trinken und Essen sowie die Einnahme von lebensnotwendigen Medikamenten verweigerte, war das natürlich der Super-GAU. Meine gesunde Nachbarin und die Tochter besuchten sie dennoch an ihrem 91 Geburtstag und nahmen sie auch noch mal in den Arm. Obgleich dieser Besuch erneut einer kleinen Katastrophe glich und wieder zur zahlreichen Komplikation vor Ort führte, war es doch eine Art Abschied. Wenige Tage später erhielt die Tochter dann die Nachricht, dass ihre Mutter friedlich eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht sei.
Betrachtet man die Gesamtumstände und den Verlauf der letzten Wochen war das eigentlich ein ganz gutes Ende. Immerhin über 90 Jahre alt, der größte Teil davon selbständig mit einer sehr bemühten Tochter und einer netten Wohnung. Und was diese heiße Nacht mit dem Rettungsdienst betrifft, haben wir drei rückblickend alles richtig gemacht. Wieder ein Beweis dafür, dass man ruhig - egal ob Angehöriger, Arzt oder auch Medizinstudent - auf sein Bauchgefühl hören sollte. Meistens haben wir Menschen ein ganz gutes Gespür dafür, wenn es unseren Mitmenschen nicht gut geht und medizinische Hilfe notwendig werden könnte. Also Augen auf in der Nachbarschaft!