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  • 29.05.2020

Plötzlich Patient - Blog 21


Mitte März sitze ich mit meinen Mitbewohnern in der Küche und verfolge die Tagesschau. Von „Risikogruppen“ ist mehrfach die Rede. Wir denken an unsere Eltern und Großeltern und sind schockiert, welche Ausmaße die Einschränkungen bereits haben. Die armen Senioren werden immer mehr von der Außenwelt abgeschnitten, das muss schlimm sein. Erst allmählich realisieren wir: das betrifft uns auch! Denn auch ich gehöre zur Risikogruppe.

Die vermutlich banale Erkältung meiner Mitbewohnerin sorgt für Diskussionen. Sollen wir uns alle vorsichtshalber für zwei Wochen freiwillig in Quarantäne begeben? Tagelang haben wir sie wie eine Aussätzige behandelt, uns nicht gleichzeitig mit ihr im selben Raum aufgehalten, Desinfektions-mittelspender aufgestellt, eigenes Geschirr verwendet. Aber seien wir mal ehrlich: eine Ansteckung ließe sich auf so engem Lebensraum nicht verhindern. Wir gehen mögliche Infektionswege durch, kann es überhaupt COVID-19 sein? Erleichtert stellen wir fest, dass es keinen Kontakt zu nachgewiesen Erkrankten gab.

Für mich ist diese Frage nicht nur wichtig, weil ich aufgrund meiner Immunsuppression besonders ansteckungsgefährdet bin. Ich habe einige Tage später einen Termin in der rheumatologischen Ambulanz, den ich unbedingt wahrnehmen muss. Seit Anfang des Jahres kämpfe ich mit einem Schub, der sich auch mit hohen Kortisondosen nicht in den Griff kriegen lässt. Im Gegenteil ist es inzwischen zu Nebenwirkungen durch die Immunsuppression gekommen, unter anderem einer Influenza. Auch zwei Klinikaufenthalte waren nötig. Ich warte also sehnsüchtig darauf, dass sich die Spezialisten um meinen Fall kümmern und möchte den Termin in der Rheumaklinik auf keinen Fall gefährden.


Zu meinem Schutz schränken sich meine Mitbewohner im Alltag massiv ein: keine Treffen mit haushaltsfremden Personen mehr. Einkäufe erledigt nur einer und auch nur, wenn zwingend notwendig; einen zweiwöchigen Vorrat haben wir uns bereits angelegt. Homeoffice für meine Mitbewohnerin. Und ich bleibe außer für Arzttermine ganz zuhause.

Die ersten beiden Wochen verlaufen überraschend harmonisch und geschäftig. Ohne es zu aktiv zu forcieren, haben wir einen „Corona- Alltag“ entwickelt, der die Tage ausfüllt und keine Langeweile aufkommen lässt. Seit langem essen wir jetzt alle wieder regelmäßig gemeinsam, spielen oder erledigen handwerkliche Projekte in der WG. An einem Nachmittag sitzen wir alle auf dem Boden in der Sonne und stecken Bügelperlenbilder, eine überraschend kontemplative Tätigkeit, die wir seit unserer Kindheit nicht mehr gemacht haben. Schnell erinnern wir uns aber wieder, was uns daran schon damals so viel Freude bereitet hat. So bringt die aktuelle Situation nicht nur Einschränkungen und Probleme mit sich, sondern ermöglicht längst vergessene gemeinschaftliche Unternehmungen, für die sonst Zeit und Ruhe fehlen.


Aufgrund des anhaltenden Lupus-Schubes bin ich krankgeschrieben, ich könnte aber wegen meiner Infektanfälligkeit unter Immunsuppression momentan auch nicht in der Blutspende arbeiten. Als Hochrisikopatientin ist der Einsatz im Klinikalltag eine Gefährdung, die weder meine Vorgesetzten noch ich eingehen wollen.

Allmählich dämmert mir aber, dass die Situation sich nicht innerhalb weniger Wochen wieder normalisieren wird. Auf lange Sicht muss also eine praktikable Lösung her, um mir ein sicheres Arbeitsumfeld zu ermöglichen. Das ist aber in meinem Fall sehr schwierig, da ich konkret für die Tätigkeit als Ärztin in der Blutspende angestellt und keine ausgebildete Transfusionsmedizinerin bin, die im Laborbereich eingesetzt werden kann. Dass wir uns darüber für die Dauer meiner Krankschreibung noch keine Gedanken machen müssen, ist einer der ganz wenigen Vorteile dieses langen Schubs.

Meine Mitbewohner werden nicht monatelang mit mir Quarantäne halten oder ihre Sozialkontakte einschränken können. Der eine studiert Medizin und wird gezwungenermaßen in den nächsten Monaten in der Klinik arbeiten müssen, die andere muss ab und zu ihr Homeoffice verlassen, um vor Ort Dinge zu klären. Und ich möchte nicht das nächste Jahr über jedes Mal eine Bestellung bei jemandem aufgeben, wenn ich etwas aus dem Supermarkt benötige. Überhaupt, bin nicht ich eigentlich in letzter Zeit das größte Infektionsrisiko für meinen Haushalt gewesen, indem ich inzwischen vier Mal stationär in der Klinik war? Beim letzten Aufenthalt wurde vonseiten der Ärzte und Pfleger nicht besonders gut auf den speziellen Infektionsschutz geachtet – im Gegenteil. Wie könnte ich dann von den anderen in der WG verlangen sich massiv einzuschränken, wenn ich mich doch ständig an einem Ort aufhalte, wo wissentlich COVID- Infizierte unterwegs sind?

Mit jedem kleinen Zugeständnis sinkt die Hemmschwelle, weitere Maßnahmen zu lockern, bei uns jedoch. Auf dem Rückweg aus der Augenklinik kommt mir der Gedanke „noch eben schnell“ zum Edeka zu gehen. Das lasse ich dann zwar, aber allein, dass ich mich nun schon wieder mental bereitwillig unter die Menschen mischen möchte, erschreckt mich.

Meine Mitbewohner gehen wieder mehrmals wöchentlich einkaufen, obwohl es eigentlich nicht nötig ist. Die Jungs aus der WG unter uns haben von Anfang an den Ernst der Lage nicht begriffen und verstehen nicht, dass sie ihren Mitbewohner, der wegen seines Alters zur Risikogruppe gehört, damit in Gefahr bringen. Letztes Wochenende rief einer gar zu einer „Corona- Party“ auf und lud sich 10 Gäste zum Grillen ein. Und die ersten Busfahrten wurden auch wieder getätigt – wenn sie überhaupt je vermieden wurden.


Wo zieht man da die Grenze? Dass „Corona- Partys“ auch für Nicht- Risikogruppen ein absolutes No- Go sind, ist klar. Ist es okay, seine Eltern zu treffen? Die gehören nicht nur selbst zur Risikogruppe, sondern kommen aus einem komplett anderen Umfeld, das sich dann mit dem eigenen vermischt. Fahrten zum Tierarzt, Friseur, Wertstoffhof oder Baumarkt lassen sich nicht immer weiter nach hinten schieben. Und was ist eigentlich mit ärztlichen Vorsorgeterminen oder dem Zahnarzt?

In der WG haben wir uns für einen Mittelweg entschieden und versuchen tageweise Homeoffice und geplante Einkäufe zu machen. Außerdem laden wir uns keinen Besuch in die Wohnung ein und treffen andere nur mit Abstand im Freien.

Aber für mich gilt nach wie vor, dass ich das Haus am besten nicht verlassen sollte. Daran halte ich mich krankheitsbedingt die meiste Zeit auch, weil ich für Ausflüge sowieso nicht fit genug bin. Lange habe ich auch komplett darauf verzichtet, mich unter Menschen zu begeben. Mittlerweile habe ich aber für mich beschlossen, dass ich – unter Schutzvorkehrungen wie einer FFP3- Maske und griffbereitem Desinfektionsmittel – ab und zu auch draußen unterwegs sein werde. Bestimmte Orte sind für mich weiterhin tabu, zum Beispiel unsere sehr beengte Einkaufsmeile oder kleine Läden, in denen man sich nicht aus dem Weg gehen kann. Aber mit entsprechender Vorsicht und einem wachsamen Auge auf die sehr Nähe bedürftigen Mitmenschen, hat dieses Konzept bislang gut funktioniert. Manchmal artet es zu einem regelrechten Katz- und- Maus- Spiel aus, wenn mir jemand ständig auf die Pelle rücken möchte oder, Murphy’s Law sei Dank, genau dieselben Produkte zu wollen scheint wie ich.

Vor zwei Wochen habe ich auch, seit einem halben Jahr endlich wieder, eine Freundin getroffen, im Garten, mit zwei Metern Abstand und einem Tisch zwischen uns. Aber im Nachhinein war dieser Besuch eine größere Wohltat, vor allem mental, als mir im Vorhinein bewusst war.


Letztlich muss ich in jeder Situation neu abwägen, ob der Benefit, den ich davon habe, auf andere zu treffen, groß genug ist dieses Risiko einzugehen. Aber diese Entscheidung treffe ich auf ähnliche Art schon seit Jahren immer wieder, nämlich dann, wenn es darum geht, ob ich etwas unternehme, das den Lupus verschlechtern wird. Und auch hier bin ich der Meinung, dass alle Vorsicht am Ende nichts gebracht hat, wenn ich sowieso einen Schub bekomme. Dann wähle ich lieber das Eis in der Sonne, dann weiß ich wenigstens, woher die roten Wangen kommen.

Das soll natürlich nicht heißen, dass ich jegliche Vernunft über Bord werfen und morgen auf Shoppingtour in der Innenstadt aufbrechen werde. Aber auch hier ist ein wohl durchdachtes Mittelmaß sicher die beste Wahl, denn ein gelegentlicher Einkauf oder die seit Weihnachten erste Umarmung der Eltern trägt auch einen Teil zum Gesundbleiben bei.

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