• Glosse
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  • David Hoehn
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  • 10.08.2004

Aufgewacht

Aufgewacht, in einem Raum mit hohen Decken, in einem Bürostuhl, an einem Schreibtisch.

Warum glotzt der mich eigentlich so an? Man könnte meinen der wartet auf etwas.

Ich werfe einen kurzen Blick hinüber, er starrt mir direkt in die Augen, unangenehm ist das. Ich weiche aus, lasse meinen Blick durch den Raum wandern. An den Wänden, Drucke populärer Kunstwerke, Miró, Kandinsky und so weiter. Und anatomische Zeichnungen. Der menschliche Körper, männlich, weiblich.
Der Typ, der mir gegenüber sitzt, wird langsam ungeduldig. Rutscht im Stuhl auf und ab, wippt mit den Beinen.
Sagt aber nichts. Wieso sagt der denn nichts?

Sieht ganz so aus, als müsste ich etwas sagen.
Vor mir auf dem Tisch, ein Stapel Papier, in einem braunen Umschlag. Der kommt mir bekannt vor, dieser braune Umschlag. Mich juckt es am Unterarm. Ich schiebe mir den Ärmel hoch - ich schaue meinen Ärmel an. Weiß, meine Ärmel sind beide weiß, ein in der Ellenbogengegend leicht gräuliches weiß.

Anscheinend bin ich Arzt

Ein Kittel. Ich trage einen weißen Kittel. Unauffällig versuche ich einen Blick in die Kitteltasche. Ein schwarzer Schlauch, ein Stethoskop.
Ähem. Ich räuspere mich. Brust raustrecken, Haltung annehmen.
Anscheinend bin ich Arzt. Und das ist ein Patient.
Mein Patient.
Mit der linken Hand nehme ich den Stapel Papier vom Tisch.

Eine Akte.

Seine Akte.
Mann, das ist schon peinlich, ich meine, ich weiß noch nicht einmal genau, wie lange der mir schon gegenüber sitzt. Haben wir uns überhaupt schon begrüßt? Wie finde ich denn das jetzt raus? So ein Mist. Kenne ich den? Kann mich wirklich nicht an viel erinnern.

Letzte Nacht, ich wollte früher nach Hause, aber das war ja klar, dass das länger dauern würde, wenn man sich mal wieder sieht, nach all der vergangenen Zeit.
Ich überfliege die Akte. Eine Menge Zahlen, ein paar Kurven, Bilder, die aussehen wir Röntgenaufnahmen.
"MmmHmm", mache ich langsam, während ich durch die Akte blättere.
"MmmHmm", sage ich noch einmal, "soso".
Mein Patient scheint jetzt etwas entspannter, wahrscheinlich ist er froh, dass überhaupt etwas geschieht.

Verdammt, warum steht hier nicht der Name?

"Ja", sage ich, "ja nun ,Herr" - vorne auf der Akte steht nichts. Verdammt, auf Akten steht doch immer vorne der Name drauf, wieso - ...
"Billinger", sagt der Mann, der einen Schnauzbart hat, was mir eigentlich schon vorhin aufgefallen war.
"Ja, Herr Billinger."

Er scheint nicht verärgert zu sein, darüber, dass ich seinen Namen nicht kenne. Ist wohl zum ersten Mal hier.
"Was fehlt Ihnen denn... heute?"
Klingt irgendwie unprofessionell. Ich beiße mir auf die Unterlippe, natürlich ohne dabei die Haltung zu verlieren.
"Wenn ich das wüsste", sagt Herr Billinger.
"Sie sind doch der Arzt", fügt er hinzu, und lacht nervös.

Richtig, ich habe ja tatsächlich Medizin studiert, jetzt weiß ich´s auch wieder. Langsam kommen Erinnerungsfetzen zurück. Leichen, auf Tischen, Formalingestank. Pipettieren, bis spät in die Nacht, ein Biochemie-Tyrann im neongelben Laborkittel, pharmakologische Strukturformeln, kranke Kinder.
Der arme Kerl tut mir leid. Ich meine, wenn der wüsste, wenn dem eigentlich klar wäre, wie wenig Ahnung ich habe, der würde ja schreiend zur Türe rausrennen. Sich möglicherweise das Leben nehmen. Nein, das kann ich nicht verantworten.

Mein Gehirn kommt nur langsam in Fahrt

"Nun, also ihre Blutwerte, die sind ..."

Buchstaben und Zahlen, auf diesem Laborzettel. Gedächtnis anschmeißen, wieso braucht eigentlich mein blödes Hirn so lange ... da ist es:
Klinische Chemie, Kurstag eins: Leberdiagnostik... weiterspulen

"Sie müssen verstehen, dass ..."

Klinische Chemie, Kurstag zwei: Herzinfarkt? Hat der einen Herzinfarkt? Schaut nicht so aus: weiterspulen

"...man muss das differenzierter betrachten...."

Kurstag vier: Hämatologie I, ich erinnere mich, am Vorabend waren doch diese Party und mir war dann im Kurs so schlecht ich hätte fast auf den Laborboden ge...

"... dialektisch, auch Blutwerte haben zwei Seiten..."

Kurstag sechs: Immunologie, geht das nicht ein bisschen schneller?

"....die These, und die Antithese, wissen Sie, was wir ja brauchen..."

weiterspulen, weiterspulen

"... ist die Synthese, also dann ist ja eine Aussage erst möglich..."

Kurstag 10: Endlich, Diabetes mellitus, na also, jetzt verstehe ich auch wieder diese Hieroglyphen auf diesem Zettel...

"Was ich also letztenendes sagen will, Herr Billinger, Ihr HbA1c ist, tut mir leid das zu sagen, deutlich erhöht."

Der Patient lacht!

Ich spüre den Schweiß, ich spüre, wie er mir an den Achseln herunterläuft. Ich schaue zu meinem Patienten hinüber, in der Hoffnung, dass der jetzt nicht doch noch einen Herzinfarkt bekommt.

Herr Billinger lacht. Wieso lacht der denn jetzt?
"Also entschuldigen Sie, Herr Doktor, des is doch a alter Hut, des weß ich doch schon längst, den lass ich doch regelmäßig kontrollieren..."
Der findet das tatsächlich lustig. Ganz ruhig bleiben. Ist doch schön, wenn der Patient fröhlich ist.
"Aber mein Bauch, Herr Doktor, der tut mir weh, seit einigen Tagen, könnten Sie den vielleicht mal untersuchen."
Bauch untersuchen. Kein Problem. Habe ich bestimmt schon einmal gemacht.
"Freimachen bitte", sage ich, und krempele die Ärmel hoch.

Einige Sekunden später bereue ich meine Anweisung.

Über Herrn Billingers Hose, an der Stelle, an der man sich normalerweise den Bauch vorstellt, quillt ein enormer Berg Fett astronomischen Ausmaßes. Mein Patient legt sich ohne Aufforderung auf eine Liege, die auch schon die ganze Zeit im Raum zu stehen scheint.
Ich lege die Hand auf seinen Bauch und drücke zu. Ich spüre gar nichts. Das ist, wie wenn man in eine große Tüte Marshmallows greift.
"Ist´s aber net die Leber?" fragt Herr Billinger, der jetzt stark schwitzt, weil ich in seinem Fettbauch rumdrücke.

Die Leber. Gehirnanschmeißen. Der Andi stand an der Leiche ja immer links, also von vorne aus gesehen. Der hat ja die Pfortader präpariert. Das heißt die Leber ist rechts vom Patienten aus gesehen - oder links? Hat der Andi doch die Milz präpariert?...
"Ihre Leber ist top", sage ich, in der Hoffnung, dass er sich wieder anzieht.
"Da bin ich ja jetzt schon beruhigt," sagt Herr Billinger, und stülpt sich sein Doppelripp-Unterhemd über den Kopf.
"Gut schauen sie aus, bis zum nächsten Mal." Ich strecke meine Hand hin.

"Herr Doktor?"
"Ja, wie kann ich Ihnen noch helfen?"
"Die Schwester hat gsacht sie täten noch mal Blut abnehmen..."
"Ach ja? Natürlich klar, kein Problem, wenn sie sich mal auf den Stuhl setzen würden..."
Blutabnehmen. So so. Hmm. Er hat´s ja so gewollt.
"Wenn Sie sich setzen würden..."

Kanüle, Stauschlauch, Kodanspray, Tupfer. Liegt da alles rum. Braucht man ja alles, irgendwie.

Zustechen, irgendwo rein, in der Nähe der Ellenbeuge, auch egal, weil der Arm eigentlich nur aus Fett besteht. Ich ziehe an der Spritze, da kommt nichts, immer noch nichts, anziehen fester, jetzt kommt was, aber das ist irgendwie gelb, flüssiges Fett, mir wird mulmig, ich glaube ich setzt mich mal, oops---------

(Schwarz)

Aufgewacht

Ich sitze auf einem Stuhl, vor einem Schreibtisch. Mir gegenüber sitzt so ein Typ in einem weißen Kittel. Scheint verwirrt zu sein, der Typ.
Irgendwie macht der keinen guten Eindruck, dieser Kerl, der ausschaut wie ein Arzt.

Und irgendwie habe ich kein gutes Gefühl.

Der Typ scheint sich jetzt gefangen zu haben, er räuspert sich und streckt die Brust raus.
Deja vu, dieses merkwürdige Gefühl, also manchmal könnte ich schwören...
Jetzt nimmt er etwas vom Tisch, das aussieht wie eine Krankenakte.
"Ja", sagt der Arzt, nachdem er die Akte durchgeblättert hat. Er schaut mich an. "Ja, nun, Herr ...," sagt er. Schaut mich fragend an.

Irgendwie wird mir das zuviel.
Ich glaube, es ist Zeit zu gehen.

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