• Glosse
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  • Burkhard Voß
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  • 06.03.2014

Leben mit Burnout

Viele Ärzte haben einen extrem straffen Zeitplan und das nicht erst seit gestern. Doch wer früher eben nur als gestresst galt, dem wird heute gleich ein Burnout diagnostiziert. Autor Burkhard Voß hat dazu eine ganz eigene Theorie.

Mann mit Burnout - Foto: iStockphoto

Foto: iStockphoto 

 

Neulich in der Buchhandlung. Dort hat die Ratgeberliteratur offensichtlich den größten Raum erobert. Dabei müsste man sich nur die verkorksten Beziehungen der Autoren/Innen von Beziehungsratgebern anschauen und die Ratgeberliteratur hätte sich erledigt. Aber das ist eine andere Geschichte. Wie ich in einem Burnout-Ratgeber nachlesen konnte, hatte ich offensichtlich ein 20-jähriges Jubiläum, von dem ich noch gar nichts wusste. Denn schon 1993/94 hatte ich die klassischen Symptome eines beginnenden Burnout, Phase 1 oder Warnsymptome: Ich nahm Arbeit mit nach Hause, diktierte Arztbriefe an den Wochenenden, konnte schlecht ruhig auf einem Stuhl sitzen, hatte das Gefühl, nie Zeit zu haben, verleugnete meine eigenen Bedürfnisse und meine sozialen Kontakte beschränkten sich überwiegend auf Patienten. Innerlich unruhig und nervös war ich sowieso, zeitweise kamen sogar Schlafstörungen hinzu. Erste Fehlleistungen kamen auf, ich ging zu keinem Therapeuten, so etwas wie einen Coach gab es damals noch nicht, und wenn doch, wäre ich auch dort nicht hingegangen.

 Ich verließ mich auf die Sekundärtugend Selbstdisziplin und bin der Meinung, dass man hiermit nicht nur ein Politaltenheim in Saarbrücken leiten kann. Nach der Ratgeberliteratur von heute müsste ich mich schon umgebracht haben, chronisch depressiv sein oder zumindest eine negative Einstellung zum Leben haben. Habe ich aber nicht. Wahrscheinlich weil ich alles verdrängt oder die Supervision nach meiner Psychotherapieausbildung nicht fortgeführt habe. Oder weil an dem ganzen Burnout-Geplärre irgendetwas faul ist. Gerade weil es so häufig thematisiert und kommuniziert wird. Und Kommunikation über die Wirklichkeit ist ein hoch störungsanfälliger Prozess.

Wer wüsste das besser als Paul Watzlawick, Philosoph und Psychotherapeut. In seinem Buch „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ beschreibt er eine merkwürdige Epidemie in der US-Stadt Seattle. Gegen Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts stellten dort immer mehr Autobesitzer fest, dass ihre Windschutzscheiben von kleinen Pocken oder kraterähnlichen Kratzern übersät waren. Das Phänomen nahm so rasch überhand, dass Präsident Eisenhower eine Kommission ins Leben rief um die Hintergründe zu klären. Zunächst fand man heraus, dass über die Schäden der Windschutzscheiben zwei Theorien im Umlauf waren: Die „Fall-out“-Theorie machte russische Atomtests verantwortlich, die die Atmosphäre verseuchten und zu toxischen Partikeln in der Luft führten, die dann diese Kratzer hervorriefen. Die „Asphalttheoretiker“ machten frisch asphaltierte Autobahnen mit Rollsplitt verantwortlich. Mitarbeiter des regionalen Eichamtes fanden dann heraus, dass in ganz Seattle keinerlei Zunahme an zerkratzen Autoscheiben festzustellen war. In Wirklichkeit war es durch die Berichte über pockenartige Windschutzscheiben zu einem Massenphänomen gekommen: Immer mehr Autofahrer untersuchten ihre Scheiben, in dem sie sich von außen über diese beugten und sie aus kürzester Entfernung prüften, statt wie bisher, einfach durch die Scheiben die Umwelt zu beobachten. Es war keine Epidemie geschädigter, sondern angestarrter Windschutzscheiben.

Dieser scharfe Blick nach außen führt nach innen gerichtet zu Verzerrungen, die eine Fülle von Fehlwahrnehmungen bereithalten. Besonders in der  Reflexivkultur, wo spüren, nachspüren, entspannen, wohlfühlen und die existenzielle Frage „tut mir das jetzt gut?“ zur Leitmelodie einer Attitüdengesellschaft geworden ist. Nicht umsonst spricht Amelie Fried, ihres Zeichens Psychologin, von einer „Wohlfühldiktatur“. Ganz genau, dieser Wohlfühlfuror ist das Mantra der neuen Küchenpsychologen, die medizinpolitisch Korrekt jetzt als Coach reüssieren wollen. Wie viel verkrachte Juristen und Betriebswirte sich dahinter verstecken, darüber kann man nur mutmaßen. Einzelfälle werden es ganz sicher nicht sein. Womit wir wieder bei Deutschlands Thema Nummer eins wären. In anderen europäischen Ländern gibt es diesen Rummel um Burnout nicht. Ob die Deutschen die Welt nicht so sehen können, wie sie ist, wie es nicht nur ein Jungianer mal behauptet hat, wer weiß. Aber vielleicht ist es ja auch genau umgekehrt und die Menschen in der gegenwärtigen Epoche sind erstmals seit der Geschichtsschreibung mit Stress, der anthropologischen Zumutung schlechthin, konfrontiert. Was sind dagegen schon Seuchen, Kriege und Naturkatastrophen der Vergangenheit.

 

Publikation mit freundlicher Genehmigung des Autors: Erstveröffentlichung: Deutsches Ärzteblatt 2014; Ausgabe 8

Zum Autor: Dr. Burkhard Voß, geboren 1963, studierte von 1985 bis 1991 Medizin in Münster, anschließend folgte die Ausbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Von 2001 bis 2004 leitete Burkhard Voß den sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt Krefeld. Nach dem Erhalt der Zusatzbezeichnung Psychotherapie arbeitet er seit 2005 in eigener Praxis als Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie in Krefeld. Unter anderem hat er das Buch "Kleines Lexikon psychologischer Irrtümer: Von Abhängigkeit bis Zwangsneurose" (Gütersloher Verlagshaus) geschrieben.

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