• Interview
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  • Anna N. Wolter
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  • 22.11.2013
  • Demonstranten in Tränengasschwaden - Foto: Mstyslav Chernov/Wikipedia.de

    Demonstranten in Tränengasschwaden - Foto: Mstyslav Chernov/Wikipedia.de

     
  • Demonstranten auf dem Taksim-Platz am 4. Juni 2013 - Foto: VikiPicture/Wikipedia.de

    Demonstranten auf dem Taksim-Platz am 4. Juni 2013 - Foto: VikiPicture/Wikipedia.de

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  • Eine Frau verpflegt Verletzte im Taksim Platz - Foto: Mstyslav Chernov/Wikipedia.de

    Eine Frau verpflegt Verletzte im Taksim Platz - Foto: Mstyslav Chernov/Wikipedia.de

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Proteste in der Türkei: Erlebnisse eines Arztes

Im Sommer 2013 war es heiß in der Türkei: Mehr als 3,5 Millionen Menschen demonstrierten gegen den autokratischen Führungsstil der Regierung und die Einschränkung von Grundrechten. Doch was mit einer friedlichen Demonstration begann, endete gewaltsam. Dr. Savas Comlek, ein Anästhesist und Intensivmediziner aus Istanbul, war dabei, als die Gewalt ihren Höhepunkt erreichte. Er half den verletzten Demonstranten – bis er selber zur Zielscheibe der Polizisten wurde.

> Dr. Comlek, bei den Protesten im Istanbuler Gezi-Park halfen Sie verletzten Demonstranten und wurden dabei verhaftet. Wie kam es dazu?

Am 16. Juli bin ich mit vier Freundinnen losgezogen, um die Demonstranten zu unterstützen und um in der Hazzopulo Passage Tee zu trinken. Als die Polizei unser Café mit Gaspatronen attackierte, setzten wir Gasmasken auf, blieben sitzen und tranken weiter. Nach einer Weile hörten wir Hilfeschreie. Sie kamen von Menschen, die verletzt waren oder unter Atemproblemen nach der Gas­attacke litten. Wir halfen ihnen und verließen dann die Passage, um noch mehr Menschen zu unterstützen. Auf einer leeren Straße trafen wir auf die Polizisten. Sie ließen uns nicht passieren. Und als sie unsere Gasmasken sahen, nahmen sie uns fest – obwohl ich ihnen erklärte, dass ich Arzt sei.

 

> Wussten Sie schon vorher, dass es zu einer Verhaftung kommen könnte?

Ja, das war uns allen bewusst. Die Regierungsoffiziellen und der Ministerpräsident haben damit gedroht, um die Demonstranten einzuschüchtern. Aber für mich ist das nichts Neues. Als ich noch Medizinstudent war – das war in den 80ern – wurde ich schon einmal festgenommen. Der Grund: Ich publizierte Ratgeber über medizinisches Training und den Protest gegen unberechtigte Festnahmen. Damals sammelte ich viele Erfahrungen. Deshalb kann mich die Regierung mit solchen Drohungen nicht beeindrucken.

 

> Wie kam es dazu, dass Sie als Arzt an den Demonstrationen teilnahmen?

Am Anfang der Protestbewegung arbeitete ich noch gar nicht in den Krankenlagern. Denn nachdem die Polizei am 1. Juni den Gezi-Park und den Taksim-Platz verlassen hatte, wurden Ärzte kaum noch benötigt. Doch am 11. Juni kehrte die Polizei zurück und die Gewalt erlebte ihren Höhepunkt. Und wo Gewalt ist, da sind auch verletzte und notleidende Menschen. Als Arzt, der seinem Beruf und dem Hippokratischen Eid gegenüber loyal ist, nahm ich an den Demonstrationen teil, um die Menschen zu unterstützen, die Hilfe brauchten.

Wir bildeten provisorische Krankenlager im und um den Park herum und behandelten hunderte von Demonstranten. Viele Teams arbeiteten in diesen Lazaretten. In unserem waren es 10 Ärzte, 15 Krankenschwestern, ungefähr 20 Medizinstudenten und anderes Gesundheitspersonal. Wir arbeiteten rund um die Uhr. Außerdem gab es viele Menschen, die halfen, die Krankenlager und den Transport von Menschen und Medikamenten zu schützen.

 

> Welche Verletzungen waren am häufigsten?

Am Anfang litten die meisten Patienten an Atemproblemen und brennenden Augen wegen des Tränengases. Die Hände einiger Aktivisten waren verbrannt, weil sie die Gaskapseln zurück zur Polizei geworfen hatten. Es gab viele Patienten mit Kopfwunden, gebrochenen Schultern, Handgelenken und Knöcheln, da Gaspatronen direkt auf Menschen geschossen wurden. Auch ­Krankenlager und Rettungswagen wurden von der Polizei attackiert.

 

> Wie hat die Polizei Sie bei Ihrer Festnahme behandelt?

Die Polizisten waren sehr aggressiv. Als sie ihre Gasmasken abnahmen, sah ich, dass ihre Augen rot und ihre Haut verbrannt war, da sie seit Tagen dem Gas ausgesetzt waren. Sie waren nicht froh zu hören, dass ich Arzt war. Sie sprachen wie ein kleiner Erdogan. Einer sagte: „Ihr nennt uns Faschisten – ich zeig euch was Faschisten sind“, und dann quetschten sie meinen Arm so stark, als ob sie ihn brechen wollten, danach schubsten sie mich. Ihr Selbstbewusstsein stieg, je näher wir zur Polizeistation gerieten. Vor ihren Freunden, die sich vor der Station versammelt hatten, versuchten sie meinen Kopf zunächst gegen einen Bus und dann gegen einen Hochspannungsmast zu schlagen. Als Letztes versuchten sie mein Gesicht gegen die Wand zu drücken. Ich konnte mich allerdings wehren und schließlich ließen sie von mir ab und übergaben mich den Polizisten in der Station. Ich sagte: „Ihr schaut zu viele amerikanische Filme. Ihr habt kein Recht dies zu tun.“ Sie ergriffen meine Gasmaske und Brille und durchsuchten mich grob. Dann brachten sie mich zum Speisesaal in der Polizeistation. Ich  hatte Angst um meine Freundinnen, die zusammen mit mir festgenommen wurden. Denn die Polizisten belästigten sie mit schmutzigen und sexistischen Beschimpfungen. 

 

> Was passierte nach der Festnahme?

Im Speisesaal sagte ich zu dem Polizisten, der mich bewachte, dass ich mit dem Offizier reden wollte. Er schüttelte den Schlagstock in seiner Hand und sagte „Ich bin der Offizier, sag mir was du willst“. Ich fragte, warum sie uns so schlecht behandelten. Ich erzählte ihm, dass ich Arzt sei und seit 20 Jahren den Menschen in diesem Land diene. Der scheinbare Polizeioffizier wollte mir seinen Nachnamen nicht nennen. Er hatte Angst, dass ich mich über ihn beschweren würde. Er erzählte, dass er und seine Kollegen nicht mehr schlafen würden, dass sie nicht mehr nach Hause gingen und seit Tagen nicht ordentlich gegessen hätten. Als ich ihm sagte, dass nicht die Demonstranten, sondern die aktuelle Regierung Schuld an ihren schlechten Arbeitsbedingungen sei, hörte er mir schweigend zu. Anhand des Ausdrucks in seinem Gesicht, konnte ich erkennen, dass er in der Weise noch nie darüber nachgedacht hatte. Später erfuhr ich, dass die Polizeistation kameraüberwacht war, und dass der Polizist deshalb nicht frei reden konnte. Da wir die Anwaltskammer und die Türkische Ärztevereinigung vor der Veranstaltung informiert hatten, konnte die Polizei uns nicht lange festhalten. Denn die Ärzte- und Anwaltskammer übten Druck aus.

 

> Wird die Festnahme rechtliche Konsequenzen für Sie haben?

Da das Vorgehen der Polizei rechtswidrig war und wir keinen Eintrag in die Akte bekommen hatten, gab es auch keine rechtliche Prozedur. Auch die Reaktionen von nationalen und internationalen Organisationen, besonders die der  Ärzteorganisationen und der Menschenrechtsorganisation in Istanbul, bewegte die Regierung dazu, einen Gang runterzufahren.

 

> Was kritisieren Sie als Arzt am meisten im Hinblick auf die türkische Regierung?

An jeder Ecke spürt man einen Mangel an Demokratie. Entscheidungen werden in jedem Lebensbereich zentral gefällt. So wurden Reformen im Gesundheitswesen getroffen, ohne dass die ­Meinung von Ärzten oder ihrer Standesvertreter eingeholt wurde – vorgeblich zum Vorteil des Volkes. Ich glaube aber nicht, dass die breite Masse der Bevölkerung tatsächlich davon profitiert hat

 

> Im Hinblick auf die Situation in Ägypten: Würden Sie sich eine stärkere Rolle des Militärs in der Türkei wünschen, um säkulare Werte zu verteidigen?

Ich glaube, dass die Armee in Ägypten weniger den Schutz der säkularen Werte, als vielmehr die Unterdrückung einer möglichen Revolution im Sinn hat. Wie auch immer: Das Ergebnis eines Militäreinsatzes wird nie eine positive Veränderung in der Gesellschaft sein. Das Mittel, das die säkularen Werte schützt, sollte mehr Demokratie sein! Das Hauptproblem der Länder im Nahen Osten ist, dass der autoritäre Geist historisch verankert ist. Wir brauchen eine Politik, die Veränderungen in der Gesellschaft nicht mit Gewalt bekämpft, sondern akzeptiert. Sonst tappen wir in die Falle auf das Militär zu hoffen und für Frieden zu kämpfen.

 

> Fühlen Sie sich als Arzt noch sicher? Haben Sie jemals darüber nachgedacht, das Land zu verlassen?

Vorausgesetzt, dass man sich so verhält, wie die jetztige Regierung es verlangt, ist jeder sicher in diesem Land. Das grundsätzliche Problem von Ärzten ist nicht ein Mangel an Sicherheit, sondern der Mangel an Demokratie! Die aktuelle Regierung wird von Tag zu Tag autoritärer. Ich würde mein Land trotzdem auf keinen Fall verlassen. Das Militärregime war schlimmer, und nicht mal damals dachte ich daran zu gehen.


Dr. Savas Comlek - Foto: Privat

Dr. Savaș Comlek arbeitet als Anästhesist und Intensivmediziner in Istanbul. Schon als Student war er politisch aktiv und nahm an Protestkundgebungen teil.

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