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  • Tanja Jähnig
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  • 22.12.2015

Wach unterm Skalpell

Jedes Jahr werden in Deutschland acht Millionen Menschen unter Vollnarkose operiert. Mindestens 8.000 Mal ereignet sich dabei eine besonders unangenehme Art von Komplikation: Der OP-Kandidat erlebt den Eingriff – teils unter großen Schmerzen – bei vollem Bewusstsein, ist gleichzeitig aber unfähig, sich bemerkbar zu machen. Was steckt hinter dem Phänomen der intraoperativen Wachheit und wie kann man es verhindern?

Frau Schmitz ist aufgeregt: Heute wird ihr Baby per Kaiserschnitt in Vollnarkose auf die Welt geholt. Der Anästhesist begrüßt sie freundlich, legt ihr einen Zugang und schon geht es in den OP-Saal. Ein bisschen Angst hat Frau Schmitz ja schon. Doch der Narkosearzt beruhigt sie und beginnt mit der Einleitung. Frau Schmitz dämmert weg. Doch was ist das? Sie kann die Ärzte immer noch reden hören. Bemerkbar machen kann sie sich nicht, da das Muskelrelaxans wirkt. Schmerzen fühlt sie keine. Aber die Situation ist verwirrend. Sie bekommt Angst. Irgendwann hört sie dann, wie ein Arzt sagt: „Es ist ein Mädchen.“ Dann nimmt sie bewusst nichts mehr wahr.

Was Frau Schmitz da erlebt hat, ist in OP-Sälen häufiger, als manche denken. Das Phänomen der „Awareness“ oder „intraoperativen Wachheit“, bei dem Patienten ihre Umwelt während einer Narkose teilweise oder vollständig wahrnehmen, tritt bei „normalen“ Operationen bei etwa einem bis zwei von 1.000 Patienten auf. Besonders gefährdet sind Herz- und Notfallpatienten sowie Schwangere, bei denen eine Sectio in Vollnarkose durchgeführt wird. Bei diesen Patientengruppen wird die Narkose absichtlich flach gehalten, sei es um ein vorgeschädigtes Herz nicht zu sehr zu belasten, einen lebensgefährlichen Blutdruckabfall zu vermeiden oder das ungeborene Kind vor zu hohen Medikamentendosen zu schützen. Auf der anderen Seite steigt dadurch natürlich das Risiko, während der OP aufzuwachen.

Regulation der Narkosetiefe: schwierige Kunst

Bei einer optimalen Narkose sind Bewusstsein (Hypnose) und Schmerzen (Analgesie) ausgeschaltet, die Muskeln sind relaxiert und die neurovegetative und kardiozirkulatorische Reaktivität zur Vermeidung von Blutdruckspitzen und Arrhythmien blockiert. Die Dosierung der hierfür erforderlichen Medikamente ist dabei immer eine Gratwanderung. So kann es in Einzelfällen passieren, dass das Hypnotikum so niedrig dosiert ist, dass das Bewusstsein nicht komplett abschaltet und Sinneseindrücke weiter vearbeitet werden. Vermutlich passiert das bei totalintravenösen Anästhesien (TIVA) öfter als bei Narkosen mit Gasen. Grund: Bei Inhalationsanästhetika kann man die Konzentration des Gases in der Ausatemluft – die „endtidale Konzentration“ – direkt messen. Anhand dieses Messwerts kann der Anästhesist die Narkosetiefe an den Bedarf des Patienten anpassen. Bei der TIVA dagegen kann der Arzt nur näherungsweise die Konzentration des Hypnotikums im Blut des Patienten errechnen. Deswegen kann es bei der TIVA leicht zu Unter- oder Überdosierungen kommen. 

Viele Ansätze, keine Lösung

Ein Weg, eine unzureichende Narkosetiefe zu erkennen ist, auf indirekte Zeichen wie Herzrasen, Blutdruckerhöhung, Tränensekretion sowie die Bildung von Schweißperlen auf der Stirn oder Muskelzuckungen zu achten. PD Dr. Klaus Richard Ellerkmann, Oberarzt für Kinderanästhesiologie an der Uniklinik Bonn warnt jedoch: „Letztlich sind das nur Surrogatparameter. Besonders bei Patienten, die Antihypertensiva wie β-Blocker einnehmen, können diese Warnzeichen auch völlig fehlen!“ Deswegen versucht man dosisabhängige Anästhetikaeffekte auf das Gehirn in intraoperativen EEG-Ableitungen darzustellen. Dabei kann man z. B. aus einer Ableitung an der Stirn den sogenannten Bispektralindex berechnen, der die Narkosetiefe zwischen 0 (maximal) und 100 (völlige Wachheit) anhand von EEG-Veränderungen angeben soll. Ein Wert über 60 spricht dabei für eine erhöhte Gefahr von Awareness. Zwar bezweifeln neuere Studien, ob der Bispektralindex gegenüber dem konventionellen Monitoring tatsächlich einen Vorteil bietet. Dr. Ellerkmann persönlich schätzt die intraoperative EEG-Ableitung aber sehr: „Gerade bei der TIVA, bei der kein kontinuierliches Monitoring der Wirkstoffkonzentration gegeben ist, kann man dem Patienten mit diesem Verfahren eine maßgeschneiderte Narkose je nach individuellem Bedarf an Narkotika zukommen lassen.“

Eine weitere Möglichkeit, die Gefahr einer intraoperativen Wachheit zu minimieren, ist, die Muskelrelaxanzien zu reduzieren. Dann kann sich der Patient nämlich selbst bemerkbar machen. Auch die präoperative Gabe eines Benzodiazepins kann sinnvoll sein – auch deshalb, weil diese Medikamente eine anterograde Amnesie auslösen und sich der Patient dann nach der OP nicht mehr an die intraoperativen Geschehnisse erinnern kann. „Es gibt viele Ansätze, intraoperatives Erwachen zu verhindern“, erklärt Dr. Ellerkmann. „Einen zu 100% sicheren Weg, Awareness zu vermeiden, haben wir bisher aber nicht gefunden.“ Dies liegt nicht zuletzt daran, dass man nicht genau weiß, wie Narkosemittel eigentlich wirken. Vereinfacht kann man sagen, dass die Narkotika die Kommunikation zwischen Thalamus und Großhirnrinde beeinflussen und dadurch Bewusstlosigkeit entsteht. Um Awareness auszu-schließen bräuchte man aber Medikamente, mit denen man das Bewusstsein gezielt und kontrolliert „herunterregeln“ kann. Und das ist bisher leider noch Zukunftsmusik.

Alptraum ohne Ende?

Die Spätfolgen einer Awareness können sehr unterschiedlich sein – abhängig von der Ausprägung der Wahrnehmungen während der Narkose. Meistens sind die Erinnerungen nur vage und beinhalten vor allem akustische Sinneseindrücke. Manche erleiden aber auch das absolute Horrorszenario: Schmerzempfindungen bei völliger Bewegungsunfähigkeit mit Gefühlen der Hilflosigkeit und Todesangst. Bei dieser Spannbreite von Empfindungen variieren die Folgen dann auch von unbedenklich über akute Belastungsreaktionen bis hin zu therapiebedürftigen posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) mit Angst-, Schlaf-, Konzentrationsstörungen, quälenden Erinnerungen an das Trauma und Suizidgedanken. Wenn ein Patient postoperativ über Wachheitsphasen in der Narkose klagt, so sollte man dies ernst nehmen. Je nach Belastung muss er professionelle Hilfe durch Psychiater, Psychologen oder Psychotherapeuten bekommen, damit er das Ereignis zeitnah verarbeiten kann und es zu keiner Chronifizierung kommt. Je früher eine Behandlung erfolgt, umso besser sind die Chancen auf eine spontane Remission.

Eine weitere wichtige Maßnahme, die Folgen von Awareness abzumildern, besteht darin, die Patienten schon im Vorfeld über das Phänomen aufzuklären. Die Patienten hegen ohnehin meistens diffuse Ängste in diese Richtung – da bringt es nichts, das Thema totzuschweigen. „Zwar interessieren sich Patienten vor einer OP in erster Linie dafür, dass der Eingriff fachgerecht und erfolgreich durchgeführt wird“, erklärt Dr. Ellerkmann. „An zweiter Stelle folgen dann aber auch schon die Fragen, ob man danach wieder wach wird und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass man zu früh aufwacht.“ Deshalb sollte man dem Patienten ehrlich sagen, dass diese Komplikation gelegentlich vorkommt. Zudem sollte man aber auch betonen, dass man alles menschenmögliche tun wird, solche Situationen rasch zu erkennen und zu beenden. Wenn ein Patient auf dem OP-Tisch dann tatsächlich mal mehr mitbekommt als er sollte, kann er die Geschehnisse zumindest einordnen. Er hat weniger Angst und kann sich selbst im Geiste sagen: „Ich bin nicht allein! Da ist jemand an den Hebeln, der mein Problem kennt und darauf achtet, dass es zumindest nicht schlimmer wird.“

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