- Kasuistik
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- Katrin Merz, A. Dragu, R. E. Horch
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- 22.12.2015
Manuelle Wiedergeburt
Das „Annähen“ traumatisch amputierter Gliedmaße ist eine der verblüffendsten Errungenschaften der modernen Medizin. Dr. Katrin Merz, Assistenzärztin in der Klinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie am Universitätsklinikum Erlangen, erklärt anhand einer Kasuistik, wie eine Replantation abläuft und von welchen Faktoren es abhängt, ob so ein Eingriff gelingt.
Es ist ein Arbeitstag wie jeder andere – zunächst. Wie immer setzt der 31-jährige Arbeiter Günther H. pünktlich um halb acht die Maschinen in Gang. Das macht er seit Jahren. Nie ist etwas Schlimmes passiert. Schließlich weiß er ja genau wo die Gefahren lauern. Doch heute ist er aus irgendeinem Grund kurz abgelenkt. Dieser Moment der Unachtsamkeit wird sein Leben verändern. Plötzlich spürt er einen gewaltigen Schmerz im linken Unterarm. Alles ist voller Blut – und er verliert das Bewusstsein. Er ist mit seiner linken Hand in eine Kunststoffwalze geraten. Das Gerät hat seine Hand komplett abgetrennt. Seine Kollegen rufen den Notarzt. Als dieser eintrifft, steht der Patient kurz vor dem Volumenmangelschock mit einem Blutverlust von ungefähr 1,5 l. Intubiert wird er per Hubschrauber in die Uniklinik geflogen.
Das Amputat wird vom Notarzt versorgt und „beim Patienten bleibend“ transportiert. In der Klinik wird Günther H. im Schockraum untersucht. Nachdem die Unfallchirurgen weitere Verletzungen ausgeschlossen haben, stellt der diensthabende Oberarzt der Handchirurgie Dr. Adrian Dragu die Indikation zur Versorgung durch Replantation der Gliedmaße. Die Voraussetzungen dafür sind aufgrund der Schwere der Verletzung mit langstreckigem Ausriss von Sehnen, Nerven und Arterien, schlecht (Tab. 1).
Doch Herr H. ist jung und gesund, so dass ein Replantationsversuch indiziert ist. Das Amputat ist schwer verletzt. Wichtige Strukturen, wie der Daumen, sind aber erhalten (Abb. 1). Der Notarzt hat gut gearbeitet: Er hat keine Ligaturen oder Klemmen am Stumpf angebracht, sondern die Blutung durch einen Kompressionsverband um die Wunde gestoppt. Das Amputat hat er in sterile Kompressen eingepackt und in eine Plastiktüte gelegt. Diese steckte er wiederum in eine zweite Tüte mit Wasser und darin schwimmenden Eiswürfeln.
Abb. 1: Auf Handgelenkhöhe amputierte linke Hand, übersäht mit zahlreichen Kunststoffpartikeln.
Alle Fotos: Katrin Merz
Abb. 2: Am linken Unterarm fehlt das distale Drittel. Am Oberam liegt eine Blutsperre.
Viele Hände für eine Hand …
Bei Makroamputationen* ist die Zeit ein wichtiger Erfolgsfaktor. Deshalb hat das OP-Team in dem Moment als der Patient eintrifft schon alles für den Eingriff vorbereitet. Der OP-Saal ist gekühlt, das Mikroskop aufgebaut und ein „Back-up-Table“ vorbereitet, an dem die Operateure das Amputat explorieren können, während Anästhesisten den Patienten für die OP vorbereiten. Zudem wurde ein Bett auf der Intensivstation organisiert. Nur 15 Minuten nach Ankunft in der Uniklinik ist der Patient im OP-Saal. Die Handchirurgen haben zu diesem Zeitpunkt die amputierte Hand unter dem Mikroskop bereits begutachtet und von den vielen Kunststoffpartikelchen gereinigt, die sie durchsetzten.
In einer 8:20 Stunden langen Operation versuchen die Ärzte nun soviel von der Hand zu erhalten, wie funktionell sinnvoll erscheint. Dabei fixieren sie die distalen Fragmente der Unterarmknochen (Abb. 3a) nicht mehr an den Knochenstumpf, sondern fusionieren die Mittelhand osteosynthetisch direkt mit zahlreichen K-Drähten an den verbleibenden Radiusstumpf (Abb. 3b). Der Daumen und der kleine Finger können belassen werden. Letzterer zeigt nur eine Weichteilverletzung, die primär verschlossen werden kann. Zeige-, Mittel- und Ringfinger sind so stark zerstört, dass eine Replantation hier nur eine geringe Chance auf Erfolg hätte. Das Gewebe dieser drei Finger ist von der Kunststoffwalze so stark zerquetscht worden, dass die erforderliche Anastomosierung der arteriellen und venösen Gefäße sehr wahrscheinlich zu einer Intimaschwellung der Arterien mit anschließender Thrombosierung führen würde.
Abb. 3: Die Röntgenbilder von Amputat (a) und Stumpf (b) zeigen eine Abtrennung der linken Hand auf Höhe des Handgelenkes. Der Radius und die Ulna sind frakturiert – wobei sich die distalen Knochenenden bei der Hand befinden (Pfeil). Die Handwurzelknochen zeigen bis auf das Os trapezium, das mehrfach frakturiert und nach proximal luxiert ist, keine knöchernen Verletzungen. Zeigefinger und Mittelfinger weisen im Bereich des Grundgliedes eine Fraktur auf. Der Ringfinger ist auf Höhe des Grundgelenkes abgetrennt.
Eine suffiziente arterielle Durchblutung der replantierten Hand kann nur erreicht werden, indem die A. radialis durch ein 18 cm langes Veneninterponat vom Oberschenkel rekonstruiert wird. Wobei die Sicherung des arteriellen Einflusses genauso wichtig ist, wie die Gewährleistung des venösen Ausflusses. Bei Günther H. wird dieser mittels Direktnaht der verletzten Venen und durch Venentransplantation sichergestellt. Der verbliebene Defekt wird mittels lokaler Lappenplastik aus dem Unterarmstumpfbereich gedeckt (Abb. 4). Am Ende der OP sind die Weichteile derart geschwollen, dass die Haut über der Wunde nicht mehr verschlossen werden kann. Dieses Areal wird mit einem temporären VAC-Verband** bedeckt, mit dem Ziel, es später, bei abgeschwollenen Verhältnissen, mit Spalthaut zu bedecken.
Abb. 4: Die replantierte Hand, direkt nach OP mit erhaltenem Daumen und Kleinfinger. Der Restdefekt am Unterarm (Pfeil) wird temporär mit VAC („Vacuum assisted Closure therapy“) bedeckt.
Ablauf: stabilisieren, anastomosieren, innervieren
Gefährdet durch Handamputationen sind vor allem Arbeiter an Maschinen und Walzen oder scharfen Schneideflächen. Dank moderner Sicherheitsvorkehrungen sind komplette Amputationen dabei aber eher selten. Häufiger sind Teilamputationen. So wurden in der Uniklinik Erlangen z. B. seit 2003 insgesamt sechs Replantationen einer Hand bzw. eines Unterarmes durchgeführt, aber pro Jahr um die 40 Replantationen im Bereich der Finger.
Die beiden Unfallchirurgen Ronald A. Malt und Charles F. McKhann haben 1962 bei einem Zwölfjährigen erstmals eine Hand erfolgreich replantiert. Heute ist es übliche Praxis, abgetrennte Gliedmaßen wieder anzunähen – sofern einige Voraussetzungen erfüllt sind. Im Schnitt dauert eine Replantation 8–12 Stunden. Hierbei werden zuerst die Knochen stabilisiert. Anschließend müssen Arterien und Venen angeschlossen werden – mithilfe von Mikroskopen und Fäden, die teilweise dünner als Haare sind.
Manchmal sind die Strukturen so stark verletzt, dass sie mit Venen vom Bein oder vom anderen Arm überbrückt werden müssen. Sehnen sollten vor den Nerven genäht werden. Zuletzt koaptieren die Operateure die Nervenstümpfe. Manchmal ist hierfür eine Nerventransplantation mit einem sensiblen Hautnerv vom Unterschenkel oder Unterarm der unverletzten Seite nötig. Ganz zum Schluss wird die Weichteildecke wiederhergestellt – wobei das Gewebe durch das Trauma häufig so stark geschwollen ist, dass der Weichteilmantel erst im Intervall verschlossen oder mit Spalthaut bedeckt werden kann.
Entscheidend für den Erfolg der Operation ist, dass die Anoxämiezeit zwischen Amputation und Wiederherstellung der arteriellen Perfusion, möglichst kurz ausfällt (Tab. 2). Dabei ist die ischämische Toleranz von der Muskelmasse im Amputat abhängig. Weil ein Finger recht muskelarm ist, kann er z. B. auch nach 24 Stunden Ischämie noch replantiert werden. Muskeln sollten dagegen nicht länger als 4 Stunden ohne Sauerstoff sein. Sonst droht eine ausgedehnte Nekrose.
Nach der Replantation: Achtung Schwellung!
Nach der OP muss die Hand 72 Stunden lang stündlich kontrolliert werden. Vor allem auf die Farbe, den Turgor, die Rekapillarisierung und die Temperatur sollte man achten. Zudem muss kontinuierlich die Schwellung an den zirkulären Strukturen beurteilt werden – am besten immer durch dieselbe Person, damit Veränderungen rasch auffallen. Ein Kompartmentsyndrom, also eine Muskelschwellung, oder ein Hämatom kann einen Druck aufbauen, der den Blutfluss einschränken kann.
Sollten erste Zeichen dafür auftreten, muss der Patient deshalb erneut notfallmäßig in den OP-Saal gebracht werden. Dort werden die Kompartimente entweder gespalten oder das Hämatom ausgeräumt. Eine weitere gefürchtete Komplikation ist ein Verschluss der Arterien oder Venen, sei es durch einen Thrombus oder durch die starke Schwellung. Sinnvoll ist ein axillärer Plexuskatheter. Dieser Zugang erlaubt zum einen eine kontrollierte Analgesie, zum anderen eine Symphatikolyse, die die Perfusion der replantierten Extremität günstig beeinflusst.
Die Extremität sollte auf Kissen hochgelagert und durch eine gelenkübergreifende Gipsschiene ruhig gestellt werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die Schiene keine Druckstellen verursacht – z. B. durch adäquate Polsterung mit Watte. Cave: Der Patient hat (zumindest zunächst) keine Sensibilität in der replantierten Extremität. Zum einen wegen dem Plexuskatheter, zum anderen wegen der traumatisch durchtrennten Nerven. Ein koaptierter Nerv braucht Wochen, bis er wieder anfängt zu wachsen. Bei einer Wachstumsgeschwindigkeit von etwa 1 Millimeter pro Tag kann es 3–6 Monate dauern, bis eine Sensibilität zurückkehrt. Und zwar ohne Garantie! Selbst bei adäquat versorgter Nervenverletzung kann eine Reinnervation ausbleiben.
Ein Laborwert, der nach der OP täglich kontrolliert werden muss, ist das Hämoglobin. Ein rascher Abfall kann ein Hinweis auf eine von außen nicht erkennbare Hämatombildung sein. Ebenfalls täglich kontrollieren sollte man das Myoglobin und die Kreatininkinase. Durch das Trauma und die OP setzt die Muskulatur sehr viel Myoglobin frei. Dies kann sich in den Nieren anreichern und die Nierenkanälchen blockieren. Im Extremfall führt das zu einer „Crush-Niere“ mit Nierenversagen. Der Patient sollte daher ausreichend „gewässert“ werden. Ein Dauerkatheter zur Kontrolle von Farbe und Menge des Urins kann hierfür hilfreich sein.
Alte Hand, ganz fremd
Als Günther H. nach der OP wieder zu sich kommt, kann er zunächst kaum glauben, was ihm die Ärzte berichten. An den Unfall kann er sich kaum erinnern. In den folgenden Tagen erholt er sich gut. Die verbliebene kleine Wunde kann fünf Tage später in einer weiteren OP mit Spalthaut verschlossen werden. Die replantierte Hand ist zu jeder Zeit gut durchblutet. Parallel wird der Patient engmaschig psychosomatisch mitbetreut. Eine Hand zu verlieren bedeutet nicht nur einen gewaltigen Einschnitt in das Körperempfinden, sondern auch in das Leben selbst.
Nach 23 Tagen kann Günther H. entlassen werden. Heute, ein Jahr nach dem Unfall, kann er die Hand eingeschränkt wieder anwenden. Er kann Gegenstände fassen, indem er sie zwischen Daumen und Fingerstümpfen einklemmt (Abb. 5). Ein Problem ist, dass ihm bisher seine Hand manchmal fremd vorkommt. Demnächst wird er eine Prothese über die Langfingerstümpfe angepasst bekommen, so dass die Deformität weniger auffällig ist. Seinen alten Beruf kann er nicht mehr ausüben.
Mithilfe einer Umschulung wird er aber hoffentlich bald ins Arbeitsleben zurückkehren können. Auch künftig wird er in physiotherapeutischer und ergotherapeutischer Behandlung bleiben, müssen, damit er die Beweglichkeit der verbliebenen Glieder erhalten kann. Eventuell kommen auch noch Folgeoperationen auf ihn zu: Denkbar wären eine Arthrodese oder eine Tenolyse. Eventuell könnte auch die Auflösung einer Narbenkontraktur oder eine Neuromentfernung erforderlich werden.
Abb. 5: Zustand neun Monate nach dem Unfall. Der Patient hat eine gute Funktion des Daumens, mit dem er Gegenstände gezielt greifen kann.
Besser unperfekte Hand oder perfekte Prothese?
Der Aufwand, der für die Replantation einer Extremität getrieben wird, ist enorm: Neben erfahrenen Mikrochirurgen bedarf es in diesem Bereich geschultes Pflegepersonal, Physio- und Ergotherapeuten, Schmerztherapeuten sowie Psychologen und Orthopädietechniker. Dazu kommt die langjährige Nachsorge. Ein guter Handchirurg kümmert sich nicht nur darum, eine abgetrennte Hand somatisch wieder an den Körper anzugliedern. Wichtig ist auch die Wiedereingliederung der Extremität in das Gesamtbild des Patienten und des Patienten in das Alltags- und Arbeitsleben.
Wie gut die Replantation gelingt, ist von einer ganzen Reihe von Begleitumständen abhängig (Tab. 2). Dabei bedeutet eine erfolgreiche Replantation nicht, dass die Hand, der Arm oder der Unterschenkel danach wieder so verwendet werden kann wie zuvor. Ziel ist lediglich eine Schutzsensibilität mit motorischer Teilfunktion. Wäre es angesichts der gewaltigen Kosten mit mehreren Operationen, der langwierigen Nachsorge und der langen Arbeitsunfähigkeit dann also nicht besser auf solche Projekte zu verzichten? Nein! Denn selbst ein nicht perfektes Ergebnis einer Replantation ist wegen der signifikant besseren Lebensqualität jeder heute verfügbaren Prothese überlegen. Die Natur hat uns zwei Hände gegeben. Wenn uns die moderne Medizin die Chance eröffnet, eine Hand, die ein Mensch verliert, diesem wieder zurückzugeben, sollten wir sie nutzen.
Tab. 1: INDIKATIONEN FÜR EINE REPLANTATION | |
Absolute Indikation |
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Relative Indikation |
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Kontraindikation |
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Tab. 2: ERFOLGSFAKTOREN FÜR EINE REPLANTATION | |
Dauer der Ischämiezeit | Finger können bei lege artis angelegter Kühlung bis zu einem Tag ohne Durchblutung auskommen, eine Mittelhand 8–10 Stunden, eine Hand 5–6 Stunden. |
Höhe der Amputation | Die Replantation einer Hand ist erfolgsversprechender als die Replantation eines Unterarms oder gar eines Oberarms. |
Art der Verletzung | Ein glatter Schnitt ist erfolgsversprechender als eine breitere Amputationszone mit Zerreißungen und Quetschung. Probleme bereiten zudem Mehretagenverletzungen und Verschmutzungen. |
Alter und Geschlecht | Bei älteren Menschen bestehen geringere Chancen. |
Begleiterkrankungen | Diabetes mellitus, Gefäßerkrankungen und Autoimmunerkrankungen schmälern die Erfolgsaussichten. |
Nikotin- und Alkoholkonsum | ... wirken sich negativ aus. |