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  • Irmak Güven
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  • 24.03.2022

Wieso wir im Medizinstudium über Abtreibungen reden müssen

Während das IMPP fleißig Fragen stellt und Schwangerschaftsabbrüche im Gegenstandskatalog aufführt, scheint der überwiegende Teil der medizinischen Fakultäten den Startschuss verpasst zu haben – oder seit Jahren aktiv wegzuhören. Das muss sich ändern.

 

 

Wir alle kennen eine Person, die eine Abtreibung hatte. Ganz gleich, welche Sozialisierung wir erfahren haben oder in welchen sozialen Milieus wir uns bewegen; wir alle kennen mindestens eine Person, die eine Abtreibung hatte. Wir reden nur zu wenig darüber. Dabei handelt es sich bei Schwangerschaftsabbrüchen womöglich um einen der ältesten medizinischen Eingriffe überhaupt.

Abtreibungen sind allgegenwärtig: sie verbinden über Generationen hinweg Menschen unterschiedlichster Biographien. Bereits seit der Antike nehmen sie einen eher schambehafteten Fleck in unserer Gesellschaft ein – ein Grund mehr, um endlich mit dem Stigma um Abtreibungen abzuschließen. Schließlich ist bei etwa 100.000 Abbrüchen im Jahr die Wahrscheinlichkeit, im Laufe seiner medizinischen Karriere auf eine Person zu treffen, die anamnestisch von einer Abtreibung berichtet, gar nicht so gering. Sich bereits im Studium mit den Inhalten eines Schwangerschaftsabbruches auseinanderzusetzen, sollte daher keine kontroverse Idee darstellen. Tatsächlich stößt dieser Vorschlag regelmäßig auf Missgunst. Abtreibungen werden dabei zu fachärztlichem Wissen aus der Gynäkologie deklariert werden und seien nicht relevant für unser Curriculum. Dabei sind Schwangerschaftsabbrüche weder an einen Facharzt gebunden, noch obligater Bestandteil der gynäkologischen Ausbildung. Ganz abgesehen davon, dass sich viele weitere Themen im Curriculum wiederfinden, bei denen es sich durchaus um Fachwissen handelt. Dieser Einwand klingt also bestenfalls nach einem Vorwand.

Zugegeben: Medizinisches Fachwissen nimmt mit einer Rasanz zu, die selbst 13 Semester Regelstudienzeit nicht umfassen können. Wie gut also, dass zukünftige Mediziner*innen sich kurzerhand in neue Themen einlesen und notfalls nach den Leitlinien handeln können, richtig? Im inoffiziellen Initiationsritus des klinischen Studienabschnittes werden immerhin solange Leitlinien zitiert, bis jeder Studi sie als das Heiligtum ärztlichen Handelns internalisiert hat. Es mag daher den ein oder die andere Examensanwärter*in überraschen, dass (noch) keine Leitlinien ausgerechnet für Abtreibungen existieren.

Trotz der Fülle an Gesetzestexten fehlt es an Leitlinien und damit an Rechtssicherheit für behandelnde Mediziner*innen, die für diesen Eingriff ohnehin schon oft genug kriminalisiert werden. Noch bedenklicher sind jedoch die Folgen dieses Ausbleibens für das Patienten- und Patientinnenwohl:  der Anteil der Abtreibungen mittels Kürettage hat beispielsweise seit dem Jahr 2000 zugenommen – obwohl international aufgrund erhöhter Komplikationsraten von dieser Methode abgeraten wird.

Letzten Endes bleibt es Mediziner*innen vorbehalten, ob sie Abtreibungen durchführen wollen oder nicht. Wenn man sich also später mal mit einem Fall konfrontiert sieht, bei dem man fachlich nicht weiterweiß, kann man diesen an entsprechende Kolleginnen- und Kollegen weiterleiten. Schwierig wird das Ganze nur, wenn die Versorgungslücke in diesem Bereich in Zukunft bestehen bleiben oder gar weiter zunehmen sollte. Schon heute müssen Betroffene zum Teil weite Anreisen in Kauf nehmen. Eine allgemeine Kenntnis darüber, welche Methoden existieren und in diesem Fall überhaupt in Frage kommen, ist die Mindestvoraussetzung, um eine ungewollt schwangere Person medizinisch zu beraten – und sei es nur, um sie an die richtige Adresse zu verweisen.
Eine wertneutrale Lehre von Schwangerschaftsabbrüchen sieht sicherlich nicht vor, die Einzelheiten des Eingriffes bis ins Detail zu erlernen; die Grundlagen wie Methoden mitsamt Indikationen und Komplikationen sollten aber genauso besprochen werden, wie es bei anderen Eingriffen üblich ist. Aber Achtung: Von einer wertneutralen Lehre kann erst die Rede sein, wenn der gynäkologische Anteil den der Medizinethik überwiegt. Nur weil das Thema an den allermeisten Fakultäten streng gemieden wird, dürfen wir nicht voreilig jene ausloben, die daran argumentative Fähigkeiten statt medizinischem Wissen üben. Das höchste der universitären Gefühle dürfen nicht Diskussionen darüber sein, welcher Abtreibungsgrund nun legitim ist und welche ethischen Grenzfälle es neuerdings am heimischen Universitätsklinikum gab. Das ist weder die wertneutrale Lehre, die gefordert wird, noch besonders nah an der Realität. Schließlich werden über 95% aller Abbrüche in Deutschland aus einer sozialen Indikation heraus durchgeführt. Debatten darüber, welcher Fetus bei einer Mehrlingsschwangerschaft überleben darf, bereiten uns daher nicht auf die klinische Praxis vor, die uns erwartet.

Schwangerschaftsabbrüche in das medizinische Curriculum aufzunehmen, wird mit Sicherheit keine Generation an Abtreibungsärztinnen und -ärzte hervorbringen (wenngleich das die Versorgungslücke schließen würde), sondern notwendige Grundlagen schaffen und sensibilisieren. Die längst überfällige Entstigmatisierung von Abtreibungen muss in einem medizinisch-professionellen Rahmen beginnen, damit sie Einzug in unsere Gesellschaft finden kann.

Du findest auch, dass Schwangerschaftsabbrüche ins medizinische Curriculum gehören?
Für weitere Ressourcen und Hilfestellungen zum Thema Schwangerschaftsabbruch in der Medizin kannst du dich mit deiner lokalen Medical Students for Choice-Hochschulgruppe oder Doctors for Choice vernetzen.

 

1) Es wurde im März 2021 ein Leitlinienvorhaben angemeldet. Die Fertigstellung ist für April 2023 geplant. 

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