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  • Maren Hönig
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  • 23.11.2023

1 Tod für 2 Leben

Werden die Organe eines Spenders entnommen, hört das Herz am Ende der Operation auf zu schlagen. Ein Leben geht zu Ende und, wenn alles gut läuft, werden andere Leben durch die Transplantation der Organe gerettet. Wie es ist, bei einer Organentnahme dabei zu sein, erzählt PJlerin Maren.

  

 

Drei parallele Linien zieren den Monitor. Die beiden OP-Assistenten und ich sind die letzten Verbliebenen im Saal. Während ich ordentlich meine Hautnähte setze, kommt Timo vom Organspendeteam noch einmal mit dem Telefon am Ohr rein. „Ciao Maren, danke für deine Hilfe! Wir müssen jetzt schnell los nach Bern. Alles Gute für dich. Du kannst dann auch gehen, die machen hier den Rest.”
Es ist ein komisches Gefühl, jetzt so allein vom Tisch abzutreten. Die Abhängung zum Kopf der Patientin ist bereits weg. Der Körper, den ich durch meine sterilen Handschuhe unter mir spüre, ist kalt. Mir fällt auf, dass die Patientin pinken Nagellack trägt, der an einigen Fingern bereits abblättert. Wieso ich ausgerechnet jetzt auf so eine Banalität achte, weiß ich nicht. Vielleicht versuche ich mich abzulenken. Es ist das erste Mal, dass ich einen intraoperativen Tod miterlebe - auch wenn genau dies das Ziel der Operation war.
Das Ganze ging unglaublich schnell. Durch meinen 24h Rufdienst, den ich als PJ-lerin (Unterassistent/in) in der Chirurgie in einem Schweizer Spital habe, wurde ich in den frühen Morgenstunden – zwei Stunden bevor ich für den normalen Dienst aufgestanden wäre – telefonisch aus dem Bett geklingelt und fand mich kurz darauf am OP-Tisch mit zwei Berner Chirurgen aus dem Organspende Team wieder. Der OP-Saal war ungewöhnlich voll, hinter mir standen drei weitere Personen, die Teil des Transplant-Teams waren, jedoch die organisatorischen und nicht-chirurgischen Funktionen einnahmen. Ich war so aufgeregt, als wäre ich das erste Mal im OP. Anatomisch wurde ich sehr viel abgefragt, da wir den kompletten Situs bis auf das Retroperitoneum freilegten und ich fühlte mich zurückversetzt in den Präparier-Kurs zu Vorklinik-Zeiten. Mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass hier alles viel schneller vonstattenging und es sich um eine (noch) lebende Person handelte.
Team-Time-out! Die Iliakal-Gefäße sind bereits zugeklippt. Timo drückt mir den Sauger in die Hand und erklärt Schritt für Schritt wie wir verfahren werden, um die beiden Nieren sowie einen Teil der Milz zu entnehmen.
„Wenn ich gleich hier oben“ - er zeigte auf den rechten Vorhof - „den Schnitt gesetzt habe, schiebst du den Sauger vor. Abwechselnd in die Cava superior und inferior und saugst. So lange machen wir den Rest.” Er bespricht jeden anstehenden Schritt im Detail durch. “Alles klar?“, fragt er dann. „Alles klar“, antworten sein Teamkollege und ich einstimmig. “Alles klar, kann losgehen”, kommt von Seiten der Anästhesie.
Ist es tatsächlich meine Aufgabe, den nach peripher von der Gefäßversorgung abgetrennten Körper der Patientin wortwörtlich blutleer zu saugen, denke ich noch für den Bruchteil einer Sekunde. Dann zählt er von 10 runter, bei „Los“ stoppt eine Ärztin des außenstehenden Teams die Zeit und wird regelmäßig die bereits verstrichene Zeit durchgeben. Meine volle Konzentration gilt dem noch schlagenden Herz. Sobald Timo das Skalpell niedergedrückt hat, schiebe ich den Sauger in den kleinen Schnitt, aus dem sich bereits das Blut aus der V. cava superior entleert. Ich spüre, wie der Schlauch Mengen an Blut unter meiner Hand aus dem Körper transportiert. Gleichzeitig werden Berge an crushed ice in den Situs geworfen und die Nieren aus ihrer bereits frei präparierten Loge getrennt. Mit den Händen tief im Situs meint einer der beiden Operateure, dass er glaubt, eine Verhärtung am oberen Nierenpol zu tasten. Hinter mir wird diskutiert, vorherige CT-Bilder werden aufgerufen und kurz bangen wir alle, dass die Niere den geplanten Empfänger aufgrund einer fraglich soliden Raumforderung nicht erreichen wird. Dennoch scheint es keine Verzögerung zu geben, alles geht so schnell, so viele Leute sind dabei zu organisieren, die aufeinanderfolgenden Schritte möglichst reibungslos ohne Verzögerung durchzuführen.
Noch immer sauge ich. Die Anästhesie hat alle erforderlichen Schritte getan und das vor wenigen Minuten noch schlagende Herz liegt schlaff da. Durch den Sauger läuft nunmehr kein reines, dunkles Blut sondern rötlich gefärbtes Schmelzwasser. Auf einem sterilen Nebentisch werden die entnommenen Organe nochmals genauer untersucht. Vier (oder eher 12) Augen Prinzip. Oder auch 6 Hände. Es muss sichergestellt werden, dass das Spenderorgan keine groben “Fehler” aufweist und so taste auch ich die Nierenrinde, kann aber keine fragliche Verhärtung im Gewebe erspüren. Noch ein letztes Mal wollen sie verifizieren, dass sie sich initial getäuscht hatten und das Spender-Organ frei von einer Raumforderung ist.
Da hält Timo mir plötzlich ein Skalpell entgegen und sagt: „Jetzt kommt dein Part!“ Kurz glaube ich, dass er Witze macht, zögere jedoch nicht und ergreife das Skalpell. „Die Milz?“, frage ich, an der linken Seite der Patientin stehend. „Genau. Einfach einmal in der Mitte durch. Nimm hier deine andere Hand hin... genau so. Und jetzt: schneiden!“ ich mache, was er mir erklärt und überreiche ihm das entnommene Stück der Milz, das zur Gewebetypisierung mit den Spenderorganen geschickt wird. 
Noch immer herrscht rege Betriebsamkeit beim sicheren Verstauen der Präparate und dem Beschriften der Behältnisse. Als klar ist, was nach Zürich und Bern gehen wird, helfen die Operateure mir beim Festziehen der Nähte um das Brustbein. Der Saal wird ruhiger, das Geräusch des Saugers ist verstummt. Mein Blick fällt auf den sehr überschaubaren und inzwischen längst nicht mehr rosigen Situs. Wir verlagern die Darmschlingen zurück in die Bauchhöhle, in der nun keine Nieren mehr liegen, ein Teil der Milz fehlt. Die Leber der Patientin eignete sich nicht als Spenderorgan.  Aufgrund ihres schon etwas fortgeschrittenen Lebensalters und einiger weniger Vorerkrankungen war sie keine “optimale” Spenderin. Dennoch waren ihre Nieren unversehrt.
Anschließend darf ich die mediane Laparotomie verschließen. Die Anästhesie hat bereits den Saal verlassen, das Organspende-Team macht sich auf den Weg, schließlich müssen sie so schnell es geht zu den jeweiligen Empfängern. Die OP-Assistent/innen reichen mir die entsprechenden Instrumente und helfen mir, wenn ich eine dritte Hand benötige. Ansonsten ist alles Wichtige bereits gelaufen, die Operateure und Organe nehmen ihren Weg.

So makaber dieser Vorgang vielleicht scheinen mag, im Laufe der nächsten Stunden werden bangende Familien die Nachricht bekommen, dass ihr geliebter Onkel, die Mama, der Bruder, die Tochter, Oma oder Opa dank eines passenden Spenderorgans endlich eine neue Chance bekommen hat. Ich staune und bin hin und weg, kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Die einzige Konstante in meinen rasenden Gedanken sind die drei parallel verlaufenden Linien auf dem Monitor. Asystolie. Tod. Tod dieser Patientin vor mir auf dem OP-Tisch. Dafür zwei “geschenkte” Leben. Und meines, das nach diesem Pikett-Einsatz mit dem ganz normalen Alltag einer PJlerin in der Viszeralchirurgie weitergeht. Mit Operationen, bei denen Leute schlafengelegt werden, um anschließend (im Besten Fall) ein Stück geheilter wieder aufzuwachen. Wie dichotom die Medizin doch manchmal sein kann. Leben und Tod so nah, Hand in Hand, denke ich, unendlich dankbar, dass ich um diese nicht alltägliche OP-Erfahrung reicher werden durfte.
 

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