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  • Agnieszka Wolf
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  • 03.05.2006

Fallorientiert lernen: Schilddrüse

Egal ob Menschen an einer Hyper- oder Hypothyreose leiden – ihr Leben ist durch diese Fehlfunktion stark eingeschränkt. Wenn man als Arzt solchen Patienten helfen möchte, sollte man über die feinen Regelmechanismen, mit denen die Hormonausschüttung der Schilddrüse gesteuert wird, genau Bescheid wissen.

 

Jessica spricht sich Mut zu. „Andere haben’s ja auch geschafft“, sagt sie sich immer wieder. Heute hat die frisch gebackene Assistenzärztin ihren ersten Arbeitstag in der endokrinologischen Abteilung der Uniklinik. Als sie pünktlich um sieben in die Morgenbesprechung kommt, mustern sie alle Ärzte von Kopf bis Fuß. Plötzlich fühlt sie sich, als wüsste jeder, dass sie von Endokrinologie so gut wie keine Ahnung hat und wird rot. „Blöde Stresshormone!“, ärgert sie sich. „Ich hasse Endokrinologie!“ Nach einem Bericht über die Aufnahmen der letzten Nacht steht Oberarzt Dr. Tillmann auf und stellt Jessica vor. „Vielleicht wäre es gut, wenn unsere neue Kollegin zunächst die Ambulanz kennen lernt. Kümmern Sie sich bitte darum, Dr. Seiter?“ Mit diesen Worten nickt der Oberarzt einem jungen Assistenzarzt mit verwuschelten Haaren zu, der bisher einen recht verschlafenen Eindruck gemacht hatte, jetzt aber plötzlich kerzengerade sitzt. Gleich nach der Besprechung stürmt er auf Jessica zu: „Hallo! Ich bin der Heiko“, stellt er sich vor. „Fang doch schon einmal mit den Patienten in der Ambulanz an. Ich komme nach.“ Im Gehen zwinkert er ihr zu.

 

Stoffwechsel auf Hochtouren

Zuerst fühlt sich Jessica noch ziemlich unsicher. Aber dann bringt ihre erste Patientin sie schlagartig auf andere Gedanken. Bei der Begrüßung fühlt sie, dass die Handfläche der 49-Jährigen seltsam warm und feucht ist. Kaum hat sich die Patientin hingesetzt, erzählt sie aufgeregt von einer inneren Unruhe, die seit Wochen ständig zunehme. Außerdem schlafe sie schlecht. Normalerweise treibe sie gerne Sport, in letzter Zeit fühle sie sich aber dafür zu schwach. Vor etwa vier Wochen habe sie festgestellt, dass sie Wasser in den Beinen habe. Beim schnellen Gehen auf dem Laufband sei ihr Puls auf 185/min erhöht und sie habe oft Herzklopfen. Früher sei das nicht so gewesen. Jessica denkt scharf nach: Herzklopfen, Schlafstörungen, Pulssteigerung, feuchte Hände – das ist doch typisch für eine Hyperthyreose!

 

Differentialdiagnose: Hyperthyreose und Hypothyreose

 
Wirkungsbereich Hyperthyreose Hypothyreose
Typisches klinisches Erscheinungsbild Merseburger Trias: Struma (bei ca. 80% der Patienten), Exophthalmus (endokrine Orbitopathie), Tachykardie (erhöhte Katecholamin-Empfindlichkeit!) Körperlicher und geistiger Leistungsabfall, Müdigkeit, Bradykardie, heisere, raue Stimme, bei Kindern: geistige Retardierung und Zwergwuchs
Haut und Haare evtl. prätibiales Myxödem, warme und feuchte Hände, Haarausfall, brüchige Fingernägel, warme Haut generalisierteres Myxödem (teigig aufgetriebene, kühle, blasse, trockene Haut), dünne, struppige Haare
Grundumsatz und Gesamtstoffwechsel gesteigerter Appetit und Durst, Gewichtsverlust, Schwitzen, Wärmeintoleranz, Hyperglykämie Gewichtszunahme, Kälteempfindlichkeit, Anämie, Hypercholesterinämie
Verdauung Diarrhoe Obstipation
ZNS Tremor, Schlaflosigkeit, Kopfschmerz, Unruhe Apathie, Schwerhörigkeit, Parästhesien, Taubheit in den Fingerspitzen, verlangsamte Reflexe
Bewegungsapparat Muskelschwäche, Adynamie, evtl. Osteoporose Muskelschwäche, Karpaltunnelsyndrom
Gynäkologie Menorrhagien, Libido- und Potenzverlust, gesteigerte Östrogensynthese, Zyklusstörungen und erhöhte Abort- und Totgeburtenrate bei schweren Formen: Hyperprolaktinämie, Galaktorrhö, Zyklusstörungen

 

Also fragt sie die Patientin nach Symptomen, die ihren Verdacht stützen könnten. Aber das Ergebnis ist enttäuschend: Die Patientin verneint die Frage nach Gewichtsverlust ebenso wie die Frage nach Kopfschmerzen. Die Menstruation, die bei Schilddrüsenüberfunktion oft schwächer wird, sei unverändert. Auch die klinische Untersuchung bringt Jessica nicht weiter: Der Blutdruck ist mit 110/60 mmHg eher erniedrigt als erhöht. Bei der Tastuntersuchung ist sich Jessica nicht sicher, ob die Schilddrüse vergrößert ist. Als sie die Haut am Schienbein der Patientin eindrückt, geht der Fingerabdruck sofort zurück. Also kann es sich nicht um ein prätibiales Myxödem handeln.

 

Abb. 1: Kommt es bei einerHyperthyreose zu einem Myxödem,zeigt es sich typischerweiseprätibial und in Verbindung miteiner endokrinen Orbitopathie.

 

Und einen Exophthalmus hat die Patientin auch nicht. Dann entdeckt Jessica aber doch noch ein typisches Symptom, das ihren Verdacht stützt: Die Patientin erzählt, dass sie in letzter Zeit an Haarausfall leide.

 

Unvollständige Trias

Jessica findet, dies seien genügend Gründe, die Schilddrüsenhormone untersuchen zu lassen. Während die Patientin zur Blutentnahme in den Nachbarraum geht, streckt Heiko seinen Kopf in die Tür: „Und? Schon eingelebt?“, fragt er grinsend. Jessica ist dankbar für die Unterstützung und erzählt ihm von ihrer Patientin. Heiko pflichtet ihrer Verdachtsdiagnose bei. „Außerdem solltest du aber auch ein Hypophysenadenom und ein Phäochromozytom im Hinterkopf behalten“, ergänzt er. „Wobei ein Phäochromozytom eher unwahrscheinlich ist, weil der Blutdruck nicht erhöht ist. Die Ödeme sind wohl eher kardialen Ursprungs.“

Wenig später haben die beiden Ärzte die Labor-Ergebnisse und den Sono- Befund vorliegen: Im Ultraschall ist die Schilddrüse dunkel, leicht vergrößert, und die Duplexsonographie zeigt eine diffuse Hyperperfusion.

 

Abb. 2: Eine in der Duplexsonographiesichtbare diffuse Hypervaskularisierung isttypisch für den Morbus Basedow und lässtsich mit dem Stethoskop über der Schilddrüseals „Schwirren“ auskultieren.

 

Nichts weist auf einen Herd hin, der ein autonomes Adenom sein könnte.

 

Abb. 3: Neben dem MorbusBasedow sind auch autonomeAdenome eine wichtige Ursacheprimärer Hyperthyreosen. Dieserjunge Mann leidet an einemautonomen Adenom, das sich inder Szintigraphie als „warmer“bzw. „heißer“ Knoten darstellt.Solange die Hormon-Produktiondes Adenoms durch eine Minderproduktiondes gesunden Gewebesausgeglichen werden kann, kommtes allerdings zu keinen klinischenBeschwerden.

 

Das TSH liegt mit unter 0,02 mU/l deutlich unter dem Normalbereich von 0,2–4,0 mU/l. Der freie T3-Wert beträgt 16,3 ng/l, der freie T4-Wert 4 ng/dl. Damit sind beide etwa doppelt so hoch wie die Norm. „Und?“, fragt Heiko. „Ist das eine primäre, sekundäre oder tertiäre Hyperthyreose?“

 

Ursachen von Hyper- und Hypothyreosen

Hyperthyreose Hypothyreose
primär: - Immunthyreopathien (Morbus Basedow und Hashimoto-Thyreoiditis) - Schilddrüsenautonomie (solitär, multilokulär, diffus) - Schilddrüsenentzündung - Hyperthyreosis factitia (z.B. durch Überdosierung) primär: - Anlagedefekt (z.B. Aplasie) - Jodfehlverwertung oder -mangel - Zust. nach Hashimoto-Thyreoiditis - nach Radiojodtherapie oder OP - Malignome - Thyreostatika
sekundär: - TSH-Exzess (hypophysär und paraneoplastisch) sekundär: - TSH-Mangel (hypophysär oder hypothalamisch, z.B. durch Tumor oder Entzündung)
tertiär: - TRH-Exzess (hypothalamisch) tertiär: - TRH-Mangel (hypothalamisch, z.B. durch Anlagedefekt, Tumor oder Entzündung)

 

Jessica überlegt kurz: „Die Schilddrüse produziert zu viel freies T3 und T4. Das unterdrückt die TSH-Ausschüttung in der Hypophyse. Die Ursache liegt also in der Schilddrüse selbst. Das ist eine primäre Hyperthyreose.“ „Ja, genau“, lobt Heiko, hat aber sofort die nächste Frage parat: „Und was ist die häufigste Ursache für eine primäre Hyperthyreose?“ Die junge Ärztin erinnert sich: „Morbus Basedow ... Aber das ist doch überhaupt nicht eindeutig. Die Patientin hat zwar eine Tachykardie, aber keine tastbare Struma und keinen Exophthalmus!“ Heiko erklärt Jessica, dass die beiden Symptome zu Beginn der Erkrankung manchmal fehlen können. Die typische Symptomen-Trias des M. Basedow aus Exophthalmus, Struma und Tachykardie muss nicht immer vollständig sein. Andererseits kann man bei einer endokrinen Orbitopathie mit Protrusio bulborum, Augenschmerzen, Doppelbildern oder sogar einer Optikusatrophie fast sicher von einem Morbus Basedow ausgehen.

 

 

Abb. 4: Der Exophthalmus ist typisch für eine Hyperthyreose –wenn er fehlt, kann allerdings trotzdem ein Morbus Basedow vorliegen.

 

Therapie: Schilddrüse drosseln

Zur Überprüfung des Verdachts ordnet Heiko eine Messung der TSH-Rezeptor-Antikörper (TRAK) im Serum an. Da im Sono keine Herde gesehen wurden, ist eine Szintigraphie nicht notwendig. „Sind die TRAK erhöht, können wir die Diagnose ‚Morbus Basedow‘ stellen.“ Auf Heikos Frage nach der Therapie antwortet Jessica prompt: „Mit Thiamazol. Das hemmt den Jodeinbau und damit die Synthese von T3 und T4!“ Heiko ist das nicht genug: „Thiamazol ist richtig, aber nicht alles: Die Patientin braucht Ruhe, Flüssigkeit und hochkalorische Ernährung. Wenn sie raucht, sollte sie aufhören: Raucher entwickeln bei M. Basedow nämlich häufiger eine endokrine Orbitopathie als Nichtraucher. Da Thiamazol in der Leber metabolisiert wird, müssen während der Therapie gammaGT und GPT kontrolliert werden. Und ganz wichtig: Eine seltene Nebenwirkung von Thiamazol ist die Agranulozytose. Deswegen müssen wir regelmäßig das Blutbild kontrollieren!“ Heiko verschreibt der Patientin eine Tablette Thiamazol 20 mg täglich für vier Wochen. „In der Initialtherapie dosieren wir Thiamazol recht hoch“, erklärt er. „Danach erhalten wir den Effekt mit etwa 5 mg Thiamazol täglich für ein oder zwei Jahre.“

Dann lächelt er Jessica zu: „Du hast dich für deinen ersten Fall echt gut geschlagen“, schmeichelt er ihr. „Mit dem nächsten Patienten kommst du bestimmt auch alleine klar, oder?“ Und bevor sie etwas entgegnen kann, ist der Kollege schon wieder zur Tür hinaus.

Hypothyreose ohne Hormonmangel?

Eine 45-jährige Frau betritt das Untersuchungszimmer. Im Gegensatz zur ersten Patientin schildert sie ihre Symptome nicht sofort, sondern erst auf Jessicas Nachfrage, als würde ihr das Sprechen Mühe bereiten. Seit einigen Wochen sei sie müde und könne sich nicht konzentrieren. Ihr Hausarzt habe zuerst an eine Depression gedacht, sie aber schließlich in die Endokrinologie überwiesen.

Jessica liest den Bericht des Allgemeinmediziners: „Abklärung Hypothyreose“ steht da als Überweisungsgrund. Beigefügt sind unauffällige Blutbildwerte, die vor zwei Monaten bestimmt wurden. Sie fragt die Patientin nach weiteren Symptomen der Hypothyreose: Diese bestätigt, dass ihr oft kalt und ihre Haut immer trocken sei. Seit Wochen nehme sie ständig zu, obwohl sie nicht mehr Appetit habe als sonst. Bei der körperlichen Untersuchung stellt Jessica eine Herzfrequenz von 56/min fest. Der Blutdruck beträgt 130/80 mmHg. Ein Myxödem – die für eine Hypothyreose typischen Schwellungen im Gesicht und an Hand- und Fußrücken – fehlt.

 

Abb. 5: Bei Menschen, deren Gesicht desinteressiert undaufgetrieben wirkt, sollte man an eine Hypothyreose denken.

 

Die Schilddrüse ist nicht vergrößert. Jessica kreuzt auf einem Blutentnahme-Schein TSH, fT3 und fT4 an. Genau in dem Moment kommt Schwester Bettina ins Zimmer und legt ihr die Blutwerte der Patientin auf den Tisch: „Heiko hat sie vor zwei Stunden schon abgenommen“, erklärt sie. Sofort macht sich Jessica daran, das Datenblatt zu studieren. Ihr fällt auf, dass der Gesamt-Cholesterinwert mit 387 mg/dl deutlich höher liegt als die Norm (unter 200 mg/dl). Die Triglyzeride, die normalerweise unter 160 mg/dl sein sollten, liegen bei 329 mg/dl. Der basale TSH-Wert ist mit 38,2 mU/l um ein Vielfaches erhöht. Die Werte für fT3 und fT4 liegen allerdings im Normbereich. Da sie sich nicht sicher ist, wie sie diese Befunde deuten soll, schickt sie die Patientin ins Wartezimmer und piepst Heiko an.

 

Medizin im Regelkreis

Wenige Augenblicke später steht der Kollege mit erwartungsfroher Miene neben ihr. „Schau dir mal die Werte an“, fordert sie ihn auf. „Was denkst du? Das ist doch eine Hypothyreose, oder? Aber wie kann man die näher definieren?“ Während Heiko das Labor studiert, berichtet sie ihm von der Patientin. Heiko überlegt kurz und erklärt ihr dann, dass ein erhöhter TSH-Wert zweierlei bedeuten kann: Entweder produziert die Hypophyse das Hormon autonom in zu großen Mengen oder über einen Rückkopplungsmechanismus. Ist das fT4 erhöht, kann es sich um ein TSH-produzierendes Hypophysenadenom handeln. Diese Erkrankung ist allerdings äußerst selten und die Patientin hätte Symptome einer Hyperthyreose. Da die Patientin aber Symptome einer Hypothyreose zeigt, handelt es sich um einen Rückkopplungseffekt. Die stark erhöhte TSH-Produktion kann das fT4-Defizit bisher noch kompensieren. Deswegen spricht man von einer latenten Hypothyreose.

Trotzdem entschließen sich die beiden, die Patientin zu behandeln. Zum einen hat sie bereits Symptome und zum anderen kann eine latente Hypothyreose leicht in eine manifeste übergehen. Auch die Hypercholesterinämie hängt wahrscheinlich mit der Schilddrüsenunterfunktion zusammen. „Und die Ursache der Erkrankung?“, fragt sich Jessica. „Könnte es eine iatrogene Hypothyreose sein – zum Beispiel nach Strumektomie?“ Heiko schüttelt den Kopf: „Die Patientin hat in der Anamnese keine Schilddrüsenprobleme. Eine Struma-OP oder Thyreostatika-Behandlung wurde bei ihr nicht durchgeführt. Deswegen sollte man eine Hashimoto-Thyreoiditis abklären! Die Patientin ist in einem für diese Krankheit typischen Alter. Dieses Autoimmunleiden zerstört nach und nach das Schilddrüsengewebe. Um das abzuklären, müssen wir die Anti-Schilddrüsenperoxidase-Antikörper – die Anti-TPO – bestimmen.“ Für die Therapie schlägt Heiko eine Hormonsubstitution mit Levothyroxin vor. In der Regel werden 100–150 mg Levothyroxin pro Tag einmal am Morgen verabreicht. Die Therapie beginnt man einschleichend mit 50 mg/Tag. Wenn der TSH-Wert die untere Normgrenze erreicht, ist die Hormonsubstitution optimal.

 

Schilddrüse in der Jod-Falle

Plötzlich klingelt das Telefon. Jessica solle sofort wegen eines Notfalls in die Kardiologie kommen, tönt die Stimme des Oberarztes aus dem Hörer. Dr. Seiter könne die Ambulanz jetzt mal alleine managen. Sofort eilt Jessica los. Als sie die kardiologische Abteilung erreicht, kommt sie gerade rechtzeitig, um das Gespräch zwischen Oberarzt Dr. Tillmann und dem Stationsarzt verfolgen zu können. Der Arzt berichtet, dass bei dem 75-jährigen Herrn Matt, der für eine Herzkatheter-Untersuchung stationär war, plötzlich Angina pectoris-Symptome und Vorhofflimmern aufgetreten seien. Das Notfall-Labor habe einen fT4-Wert von 98 ng/dl und einen fT3-Wert von 8 ng/l ergeben. „Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass der Normwert für fT4 bei 0,8–1,8 ng/dl liegt“, brummelt Dr. Tillmann.

Als sie das Patientenzimmer betreten, finden sie den 75-Jährigen schweißnass im Krankenbett vor. Zwar ist der Patient orientiert und reagiert adäquat auf Ansprache, aber er ist agitiert, nervös und zittert am ganzen Körper. Die Herzfrequenz beträgt 140 Schläge in der Minute. Während er den Puls misst, wendet sich der Oberarzt an Jessica: „Was Sie hier sehen, ist ein Patient mit einer thyreotoxischen Krise im Stadium I. Möglicherweise liegt eine Jodkontamination vor.“ Dr. Tillmanns Frage, ob man dem Patienten jodhaltiges Kontrastmittel gespritzt habe, wird vom Stationsarzt verneint. Die Herzkatheter-Untersuchung sei erst für morgen geplant. Der Patient nehme dauerhaft Marcumar®, Beloc Zok® (Metoprolol) und Novodigal® (Digoxin). Allerdings sei vor drei Tagen die antiarrhythmische Therapie durch Cordarex® abgelöst worden. Bei diesem Medikament horcht der Endokrinologe auf: „Das könnte die Ursache sein! Cordarex® ist Amiodaron. Dieses Klasse III-Antiarrhythmikum enthält große Mengen Jod und ist wahrscheinlich für diese thyreotoxische Krise verantwortlich.“

Dr. Tillmann handelt sofort: Amiodaron wird abgesetzt. Gegen die kardialen Symptome bekommt der Patient i.v. Propanolol, einen nichtselektiven ß-Blocker, der die Katecholamine am Rezeptor verdrängt. Um die Synthese von Schilddrüsenhormonen zu stoppen, wird alle acht Stunden 40 mg Thiamazol i.v. gespritzt. Zusätzlich erhält der Patient Perchlorat, das die Iodid-Aufnahme in die Schilddrüse hemmt. Außerdem verordnet der Oberarzt eine hochkalorische Ernährung und ermahnt die Schwester, darauf zu achten, dass der Flüssigkeitsund Elektrolythaushalt nicht aus dem Ruder läuft.

 

Ultima ratio: Thyreoidektomie

„Solche durch Amiodaron induzierten thyreotoxischen Krisen sind gar nicht so selten – vor allem bei älteren Patienten!“, erklärt der Oberarzt Jessica auf dem Rückweg in die Ambulanz. „Viele von ihnen haben eine Struma, die bei plötzlichem Überangebot an Jod wie verrückt Schilddrüsenhormone produziert. Dann ist Vorsicht geboten: Die Patienten nehmen Amiodaron wegen rezidivierenden, supraventrikulären Herzrhythmusstörungen ein. Wenn das Antiarrhythmikum aber eine thyreotoxische Krise verursacht, geraten sie ins Vorhofflimmern. Und gerade bei diesen Patienten kann das böse enden, wenn das Flimmern auf die Kammern übergeht“, erzählt der erfahrene Endokrinologe.

„Das ist ganz schön paradox“, wundert sich Jessica. „Ein Antiarrhythmikum, das über Jod zu Herzrhythmusstörungen führen kann ... und wie geht es weiter, wenn die Therapie nicht anschlägt?“, fragt sie. „Geht es unserem Patienten in zwei Tagen nicht besser, werden
wir eine Notfall-Thyreoidektomie durchführen müssen“, antwortet Dr. Tillmann. „Das ist eine heikle Operation, die mit einem sehr hohen Risiko verbunden ist. Aber bei einer therapieresistenten Amiodaroninduzierten Thyreotoxikose ist das Risiko eines Eingriffs immer noch geringer als das Risiko, an einer Herzrhythmusstörung zu sterben.“

 

Regelkreisfaktor Patient

In der Ambulanz hat Heiko fast alle Patienten, die für den Vormittag eingeplant waren, abgearbeitet. Nur eine Patientin fehlt ihm noch. „Komischer Fall“, erklärt er Jessica, über die Akte gebeugt. „Der Frau hat man vor ein paar Jahren ein autonomes Schilddrüsenadenom entfernt. Seither ist sie mit 100 µg L-Thyroxin eingestellt, damit das TSH nicht zu hoch steigt. Jetzt sind alle Parameter normal, aber die Frau klagt über typische Hyperthyreose-Symptome wie Herzjagen und Schlafstörungen. Aber sie hat nichts.“ Heiko zeigt ihr die Befunde: Die Patientin hat weder ein neues Adenom noch die für eine Immunhyperthyreose typischen Antikörper. TSH ist normal, fT3 und fT4 nur leicht erhöht.

„Na, ich hätte da schon eine Idee“, sinniert Jessica. „Hast du sie mal gefragt, ob sie nach der OP Gewichtsprobleme hatte?“ Jetzt fällt auch bei Heiko der Groschen. Mit der flachen Hand schlägt er sich an die Stirn und verschwindet mit der Akte im Untersuchungszimmer. Als er wenig später wieder herauskommt, schaut er leicht verstimmt aus der Wäsche. „Sie hat gemeint, dass es ihr leid täte“, grummelt er vor sich hin. „Aber es habe einfach zu gut funktioniert. Nach der Operation habe sie einiges an Gewicht zugelegt – klar, sie hatte ja nun auch viel weniger Schilddrüsenhormon im Blut! Und als sie dann merkte, dass sich mit dem L-Thyroxin hervorragend das Gewicht reduzieren lässt, habe sie es ein bisschen überdosiert. Sie habe statt einer Tablette einfach jeden Tag drei eingenommen, und die zehn
Kilo, die sie zugelegt hatte, seien sofort wieder weg gewesen.“

„Siehst du“, stichelt Jessica. „Der schönste Regelkreis hilft dir nix, wenn der Patient nicht mitspielt!“ Ziemlich zufrieden mit sich registriert sie, dass Heiko sie anerkennend mustert. Dann grinst Jessica über beide Ohren und merkt plötzlich, dass sie sich in der Endokrinologie pudelwohl fühlt.

 

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: aus: W. Siegenthaler, Differentialdiagnose innerer Krankheiten, Thieme Verlag

Abb. 2: aus: M. Hofer, Teaching Manual of Color Duplex Sonography,Thieme Verlag

Abb. 3: Szintigraphie modifiziert ausU. Büll, Nuklearmedizin, ThiemeVerlag, Foto: Archiv, Montage: D. Schmid

Abb. 4: aus: W. Siegenthaler,Differentialdiagnose innerer Krankheiten, Thieme Verlag

Abb. 5: aus: Duale Reihe Innere Medizin, Thieme Verlag

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