• Kasuistik
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  • Dr. Johannes-Martin Hahn
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  • 01.08.2011

Akute Leukämie

Jedes Jahr müssen 4.000 Menschen in Deutschland von ihrem Arzt erfahren, dass sie an einer Leukämie leiden. Die Hälfte der Betroffenen sind Kinder und Jugendliche. Manchen Patienten kann allein durch die Chemotherapie geholfen werden. Für die meisten bringt aber nur die Transplantation von Knochenmark eines gesunden Spenders die erhoffte Heilung. Dr. Johannes-Martin Hahn, Chefarzt in der Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus Tübingen und Facharzt für Innere Medizin, schildert Ihnen in dieser Kasuistik Symptome und Therapie einer akuten Leukämie.

Blut ist Leben - Ein Bericht

Fotos: Dr. Johannes-Martin Hahn

Blasten mit Auerstäbchen im Blut eines Patienten mit myeloblastärer M2-Leukämie

 

Brittas Stimme klang so, als kenne sie die Antwort auf ihre Frage schon. Wolfgang schaute sie müde an und antwortete wie erwartet: "Nein, mir geht es immer noch nicht so gut. Ich habe eher den Eindruck, dass es jeden Tag schlimmer wird!"

Britta und Wolfgang waren seit vier Jahren befreundet. Britta studierte Medizin und hatte gerade ihr 1. Staatsexamen geschafft. Wolfgang studierte im 7. Semester Informatik. Vor drei Wochen waren beide von einem Kenia-Urlaub zurückgekommen. Kurz danach war Wolfgang krank geworden. Zuerst hatte alles nach einer einfachen Grippe ausgesehen. Nach ein paar Tagen waren der Schnupfen und Husten wieder etwas besser geworden. Ein leichtes Fiebergefühl war aber geblieben. In den letzten Tagen war er nachts immer wieder schweißgebadet aufgewacht. Da Wolfgang eher ungern einen Arzt aufsuchte, hatte er Aspirin gekauft, das er bei Bedarf einnahm. Es waren ja Semesterferien. Da konnte er sich wenigstens noch etwas schonen.

Am nächsten Morgen erzählte Wolfgang seiner Freundin, dass ihm schon seit ein paar Tagen beim Zähneputzen das Zahnfleisch blute und es dann immer gar nicht mehr aufhöre. Außerdem seien seine Mandeln immer noch so dick geschwollen wie vor ein paar Wochen, als er sich diesen Infekt eingefangen hatte. Britta wurde die Sache langsam unheimlich. Besorgt dachte sie an die Symptome und Folgen der Tropenkrankheiten, die sie während des Mikrobiologie-Praktikums im letzten Semester kennengelernt hatte. Dann erinnerte sie ihren Freund daran, dass er seine Tabletten zur Malariavorbeugung entgegen der Empfehlung ihres Hausarztes gleich nach der Rückkehr aus Kenia abgesetzt hatte. Wolfgang, der sich bisher um seine Gesundheit keine wesentlichen Gedanken gemacht hatte, verdrehte genervt die Augen. Aber dann erklärte er sich doch bereit, zum Arzt zu gehen.

Klinik: uncharakteristisch

Am nächsten Tag suchte er seinen Hausarzt auf. Die Anamnese ergab außer der Urlaubsreise und der eher unspezifischen Symptome keine Besonderheiten. Der Arzt bemerkte, dass Wolfgang ziemlich blass war, was dieser aber damit erklärte, dass er jeden Tag ziemlich viel vor dem Computer sitze. Bei der klinischen Untersuchung fand er einzelne Petechien an den Beinen, bei der Mundinspektion vergrößerte und gerötete Tonsillen. Die Auskultation des Herzens ergab ein leises Systolikum über dem Erb’schen Punkt. Die Lungen waren auskultatorisch frei, das Abdomen weich. In beiden Leisten fanden sich tastbare Lymphknoten, was allerdings kein Anlass zur Sorge war, da diese dort häufig auch bei Gesunden vorkommen. Weitere Lymphknoten waren nicht vergrößert. Der Ultraschall ergab jedoch eine Splenomegalie. Insgesamt waren die Ergebnisse der Untersuchung uncharakteristisch und wiesen am ehesten auf einen unspezifischen Virusinfekt hin. Wegen des unklaren Fiebers und des Tropenaufenthaltes musste eine Malaria ausgeschlossen werden. Außerdem hielt Wolfgangs Arzt auch eine Mononukleose für denkbar. Deswegen ordnete er neben der Untersuchung der Blutsenkungsgeschwindigkeit und des Blutbildes einschließlich eines Differenzial-Blutbildes auch einen Mononukleose-Schnelltest an und ein "dicker Tropfen" wurde ins zuständige Tropeninstitut versandt.

Am falschen Ort: Blasten im Blutbild

Als der Hausarzt wenige Tage später die Ergebnisse der Laboruntersuchungen mit ihm besprach, war Wolfgang zunächst erleichtert, da sich der Verdacht auf eine Malaria nicht bestätigt hatte. Auch der Mononukleose-Schnelltest war negativ. Beunruhigend war der mit 10 mg/dl deutlich verminderte Hämoglobinwert. Die Leukozyten waren mit über 50.000/µl massiv erhöht. Was dem Arzt aber die meisten Sorgen machte, war das Differenzial-Blutbild. Darin waren vor allem Blasten, also unreife Blutzellen, festgestellt worden, die normalerweise im peripheren Blut nichts verloren haben. Vorsichtig erklärte er seinem Patienten, dass der dringende Verdacht auf eine "Blutkrankheit" besteht und er ihm deshalb die sofortige Vorstellung bei einem Spezialisten empfehle.

Obwohl Wolfgang nie ein besonders ängstlicher Typ gewesen war, hatte er doch ein flaues Gefühl in der Magengrube, als er am nächsten Tag die hämatologische Ambulanz des Zentralklinikums aufsuchte. Seine Freundin hatte ganz komisch reagiert, als er ihr erzählt hatte, dass man bei ihm eine "Blutkrankheit" vermute. Und jetzt war da noch das Wartezimmer, in dem einige kahlköpfige oder mit Perücken bekleidete Patienten warteten, bei denen man kein Hellseher sein musste, um zu erraten, dass sie nicht wegen eines Schnupfens hier in Behandlung waren. Zum Glück wurde er von Britta begleitet. Sie hatte immer ein beruhigendes Wort für ihn übrig.

Knochenmarkpunktion – die Stunde der Wahrheit

Dr. Müller, der Oberarzt der hämatologischen Ambulanz, war sehr freundlich. Nach eingehender Aufklärung sagte er Wolfgang, dass die genaue Diagnose nur durch eine Punktion des Knochenmarks zu stellen sei, die, um keine Zeit zu verlieren, sofort durchgeführt werden müsse. "War eigentlich gar nicht so schlimm", sagte Wolfgang nach der Punktion zu Britta. Wolfgang versuchte sich locker zu geben, doch Britta wusste genau, wie es in ihm aussah. Die Zeit, die beide im Wartezimmer verbrachten, während sich Dr. Müller die Ausstriche unter dem Mikroskop ansah, verging wie in Zeitlupe. Endlich wurden sie aufgerufen.

Dr. Müller nahm kein Blatt vor den Mund und erklärte Wolfgang, dass er an einer akuten myeloischen Leukämie erkrankt sei. Die genaue Typisierung der Zellen werde noch erfolgen. Dann nahm er sich viel Zeit. Er erklärte den beiden, wie die weitere Behandlung ablaufen wird und dass trotz der ernsten Diagnose die Chancen auf eine Vollremission bei entsprechender Therapie gut seien. Zuerst war Wolfgang schockiert, doch dann schwankten seine Gefühle zwischen der Angst vor dem, was auf ihn zukommt, und der Erleichterung, endlich zu wissen, was mit ihm los ist. Es handelte sich zwar offensichtlich um eine bösartige Erkrankung, doch er wusste, dass er eine reelle Chance hatte, wieder gesund zu werden.

Therapieziel: Vollremission

Am nächsten Tag wurde Wolfgang in der hämatologisch-onkologischen Abteilung der Uniklinik aufgenommen. Zunächst wurden mit seinen Blutproben noch einige weitere Untersuchungen durchgeführt, mit denen der Subtyp der Leukämie bestimmt wurde. Dabei erfolgt entsprechend der WHO-Klassifikation eine Einteilung nach morphologischen, immunphänotypischen und genetischen Merkmalen.

Grundsätzlich wird die Therapie der AML in zwei Phasen durchgeführt. Ziel des ersten Therapieabschnittes bei einer akuten Leukämie, der sogenannten Induktionstherapie, ist die komplette Remission, d.h. die Reduktion der Leukämiezellen unter die lichtmikroskopische Nachweisgrenze von weniger als 5% Blasten und die Wiederherstellung der normalen Blutbildung. Die weltweit am meisten benutzte Induktionstherapie ist die kombinierte Chemotherapie mit einem Anthrazyklin, vorzugsweise Daunorubicin, und Cytosin-Arabinosid. Damit können Remissionsraten von bis zu 75% erzielt werden.

Sicher ist sicher: Die Postremissionstherapie

Um genügend Stammzellen zu erhalten, genügt ein Liter Knochenmark

 

Mit der darauf folgenden Postremissionstherapie wird versucht, die Remission zu erhalten und das Überleben zu verlängern. Dafür gibt es unterschiedliche Strategien. Die konventionelle "Konsolidierungstherapie" besteht aus einer Chemotherapie mit in der Regel den gleichen Zytostatika, die auch während der Induktionstherapie eingesetzt wurden. Leider geraten trotzdem die meisten Leukämiepatienten früher oder später in ein Rezidiv. Deswegen ist von den Patienten, die ausschließlich mit einer Chemotherapie behandelt werden, nach fünf Jahren nur noch etwa jeder fünfte am Leben.

Gespendetes Leben

Eine Therapieoption, die eine deutliche bessere Prognose aufweist, ist die Knochenmark-oder Stammzelltransplantation. Diese Verfahren ermöglichen eine hochdosierte Zytostatikagabe und Ganzkörperbestrahlung mit dem Ziel der Auslöschung aller leukämischen Zellen. Auch die verbliebenen gesunden Blutzellen des Patienten werden bei dieser "Konditionierungstherapie" praktisch vollständig abgetötet. Deswegen würde der Patient nach dieser Behandlung normalerweise sterben. Durch die anschließende Transplantation der hämopoetischen Stammzellen eines Spenders kann sich das Knochenmark jedoch erholen und neue Blutzellen bilden.

Die Knochenmark- bzw. Stammzelltransplantation wird im Rahmen der Postremissionstherapie durchgeführt oder bei einem Rezidiv bzw. beim Erreichen einer zweiten Remission. Bei einer Knochenmarkspende wird das Mark unter Vollnarkose durch Punktion mit einer Hohlnadel aus dem Beckenkamm gewonnen. Der Spender wird dadurch gesundheitlich nicht beeinträchtigt. Es wird zum einen nur ein gewisser Anteil des Marks entnommen, zum anderen bildet der Körper diese Menge in einem Zeitraum von ein bis zwei Wochen wieder vollständig neu. Vor einer Stammzelltransplantation werden die Stammzellen aus dem peripheren Blut gewonnen, was weniger belastend ist und auch ambulant durchgeführt werden kann.

Allogen oder autolog?

Stammen das Mark bzw. die Stammzellen von einem histokompatiblen Spender, so spricht man von einer allogenen Knochenmark- bzw. Stammzelltransplantation. Im Idealfall gibt es einen Spender in der Familie. Bei Geschwistern beträgt die Wahrscheinlichkeit einer Histokompatibilität immerhin 25%. Andernfalls muss ein kompatibler Fremdspender gesucht werden. Wegen der immensen Kombinationsmöglichkeiten der HLA-Antigene ist es allerdings notwendig, eine möglichst große Anzahl potentieller freiwilliger Knochenmarkspender zu registrieren. Die Suche nach einem geeigneten Spender gleicht oft der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.

In Deutschland übernimmt dies z.B. die DKMS, die Deutsche Knochenmarkspenderdatei in Tübingen. Mittlerweile ist diese Datei, die erst seit 1991 arbeitet mit 918.641 (Stand 20.08.2002) potentiellen Lebensspendern zum weltweit größten Verzeichnis dieser Art angewachsen. Ausser der DKMS gibt es noch 38 weitere, kleinere Knochenmarkspender-Dateien in der Bundesrepublik Deutschland. Diese leiten alle Ihre Daten in anonymisierter Form an eine zentrale Stelle, das Zentrale Knochenmarkspenderregister (ZKRD) in Ulm, weiter. Trotzdem bleibt noch immer knapp 30% aller Leukämiekranken die Hoffnung auf ein neues Leben mit gesunden Stammzellen unerfüllt, weil kein passender Spender gefunden werden kann.

Eine andere Therapieoption bietet die sogenannte autologe Transplantation, bei der das Knochenmark bzw. die Stammzellen vom Patienten selbst gewonnen werden und nach einer Konditionierungsbehandlung wieder reinfundiert werden. Dieses Verfahren hat gegenüber der allogenen Transplantation den Nachteil, dass es sehr viel häufiger zu einem Rezidiv kommt. Da aber die allogene gegenüber der autologen Transplantation therapiebedingt eine höhere Komplikationsrate hat, bleibt sie Patienten unter 60 Jahren vorbehalten.

Der kleine Bruder als Lebensretter

Wolfgang hatte Glück. Die Induktionstherapie und der Aufenthalt in der Isolationseinheit waren zwar sehr belastend für ihn, führten letztlich aber zu einer kompletten Remission.

Während der Konditionierungstherapie leben die Patienten einige Wochen in einer fast keimfreien Isolationseinheit.

 

Dann wurde festgestellt, dass sein Bruder Alexander dieselben HLA-Merkmale wie er aufweist. Damit hatte er den HLA-kompatiblen Spender in der Familie. Alexander überlegte nicht lange und erklärte sich zu einer Knochenmarkspende bereit. Deshalb konnte nach einer Konditionierungsbehandlung eine allogene Stammzelltransplantation durchgeführt werden. Erfreulicherweise traten dabei keine wesentlichen Komplikationen auf. Dr. Müller erklärte ihm, dass die Prognose nun sehr gut sei. Die Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs bei dieser Therapieform betrage lediglich 10 bis 20%.

Früher hätte sich Wolfgang nie träumen lassen, dass sein kleiner Bruder ihm mit seinem Blut einmal das Leben retten würde. Auch Britta hätte ihm sofort als Spenderin geholfen, aber wie erwartet, passten ihre HLA-Merkmale nicht zu denen ihres Freundes. Trotzdem war eine Sache für sie selbstverständlich, an die sie vor wenigen Monaten noch keinen Gedanken verschwendet hätte. Als sich die ganze Aufregung um Wolfgang gelegt hatte und klar war, dass er mit Hilfe des Knochenmarks seines Bruders wieder ganz gesund werden würde, ließ sie sich als Spenderin in das Register der Deutschen Knochenmarkspenderdatei eintragen.

 

Organmanifestationen bei akuter Leukämie

Haut Petechien, leukämische Infiltrate, allergisch-toxische Veränderungen
Lymphknoten Lymphome
Augen Blutungen, Infiltrate am Augenhintergrund, Infektionen
Ohren Otitis externa/interna
Nervensystem Meningitis leucaemica, Hirnblutung, Polyneuropathie
Respirationstrakt und Mediastinum Epistaxis, Mukositis, Tonsillitis, Schleimhautblutungen, Gingivahyperplasie, Infekte, allergisch-toxische Effekte, ARDS, Lungenembolie, Mediastinalturmor
Magen-Darm-Trakt Gastrointestinale Blutungen, Infektionen
Leber Leukämische Infiltration, medikamentös-toxische Veränderungen, septische Herde
Milz Leukämischer Befall, Splenomegalie
Bewegungsapparat Knocheninfiltration, Gelenkerguss

Spender gesucht!

Immer noch finden 30% der Patienten, die auf eine Stammzelltransplantation angewiesen sind, keinen passenden Spender. Darum ist die Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS) ständig auf der Suche nach Menschen, die sich als potentieller Spender registrieren lassen. Möchten Sie helfen?

Hier die Adresse:
DKMS
Biesingerstr.10
72070 Tübingen
Tel.07071/943-30

http://www.dkms.de/de/

Zum Autor

Dr. Johannes-Martin Hahn ist Autor der Checkliste Innere Medizin und Chefarzt der Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus in Tübingen.

 

Fotos: D. Schmid/Med. Kliniken der Uniklinik Tübingen

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