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  • Von Katja Ridderbusch; Mitarbeit: Inge Wünnenberg
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  • 27.02.2018

Kräuter gegen Keime

Cassandra Quave nimmt mit alten Pflanzenrezepten den Kampf gegen antibiotikaresistente Bakterien auf. Mehrere Wirkstoffkandidaten hat die amerikanische Ethnobotanikerin bereits gefunden.

 

Diese Geschichte könnte erzählen, wie ein Mädchen seine Liebe zur Natur mit dem Interesse für alte Kräuterarzneien kombiniert und später zu seinem Beruf macht. Dann würde sie im Südwesten Floridas in einem Städtchen mit dem idyllischen Namen Arcadia beginnen. 8000 Einwohner, im Osten schlängelt sich der Peace River vorbei, im Westen liegen Felder, so weit das Auge reicht. Die Mutter war Lehrerin, der Vater besaß ein Rodungsunternehmen. Als Kind spielte Cassandra Quave fast nur draußen, kletterte auf Bäume, stöberte in Büschen und sammelte Beeren. Die unvermeidlichen Schürfwunden behandelte sie mit dem Saft einer Aloe-Pflanze aus dem elterlichen Garten.

Aber die Geschichte beginnt mit schweren Knochenfehlbildungen im rechten Bein. Das Mädchen kam ohne Wadenbein und nur mit einem halben Oberschenkelknochen zur Welt, auch im Fuß fehlten mehrere Knochen. Als sie drei Jahre alt war, amputierten Ärzte das Bein unterhalb des Knies. Doch nach wenigen Tagen entwickelte sie eine lebensgefährliche Infektion mit Staphylokokken. Deshalb musste sie mehrere Wochen lang täglich einige Stunden in einer Betadin-Lösung sitzen. Wegen der braunroten Farbe des Desinfektionsmittels sei es ihr damals vorgekommen, „als säße ich in einem Blubberbad aus Blut“. Weitere Operationen folgten. „Ich hatte meinen Tanz mit dem Tod“, sagt Quave sachlich und lapidar.  

Nach dieser Erfahrung wollte sie eigentlich Ärztin werden. Doch eine Expedition in die Amazonasgebiete Perus während der Vorbereitung auf das Medizinstudium führte sie auf einen neuen Weg. Zusammen mit anderen Teilnehmern erforschte sie mehrere Monate lang die Methoden traditioneller Naturheiler und studierte alte Medizinbücher. „Der Amazonas hat mich verändert“, sagt sie. Anstatt Medizin zu studieren, machte sie an der Florida International University in Miami ihren PhD in Biologie mit dem Schwerpunkt Ethnobotanik. 

Seitdem arbeitet Quave daran, mit Heilmitteln aus der Natur antibiotikaresistente Superkeime zu besiegen. Die 39-Jährige, die an der Emory University in Atlanta lehrt und forscht, gehört zu den bekanntesten Vertretern ihres Fachs. „Die Wissenschaft muss neue Wege einschlagen“, sagt sie. „Sie muss sich von
dem Gedanken verabschieden, dass die einzige Methode, eine Infektion zu besiegen, die Vernichtung der Keime ist.“

Eine Alternative besteht darin, die Wirkungsmechanismen der Bakterien außer Kraft zu setzen. Im vergangenen Jahr veröffentlichte Quave dazu einen Artikel im Fachmagazin „Nature“, der unter wissenschaftlern für Aufsehen sorgte: Quave und ihr Team hatten Mäuse mit multiresistenten Bakterien des Typs MRSA (Methicillin resistenter Staphylococcus aureus) infiziert, indem sie den Tieren ein Serum in die Haut auf dem Rücken spritzten. Eine äußerliche Behandlung mit einem Extrakt aus den Beeren des Brasilianischen Pfefferbaums (Schinus terebinthifolius) verhinderte jedoch, dass die Mäuse Wunden entwickelten.

„Anstatt die Bakterien flächendeckend zu töten, blockiert der Pfefferbaum-Wirkstoff ihre Fähigkeit, miteinander zu kommunizieren“, sagt die Forscherin. Bakterien nehmen über chemische Signalwege Verbindung auf und verabreden sich zur kollektiven Produktion von Giftstoffen, um das Gewebe zu attackieren. Bleiben die Signale aus, verharren die Bakterien im Wartestand. „Wir entwaffnen die Bakterien gewissermaßen“, sagt Quave. Der Pfefferbaum-Extrakt verfügt nicht als einziger über diesen Effekt: Ganz ähnlich wirken Quave zufolge auch die Blätter des europäischen Kastanienbaums. Nach sieben Jahren intensiver Forschung ist sie überzeugt: „Wir befinden uns mitten in einem Paradigmenwechsel.“

Der wäre notwendig: Konventionelle Antibiotika verlieren zunehmend an Kraft, während die Zahl der antibiotikaresistenten Keime zunimmt. Die Pharmaforschung hinkt hinterher. Seit Mitte der 1980er-Jahre haben die Unternehmen nicht mehr in neue Klassen von Antibiotika investiert. Deshalb sterben heute
nach Schätzungen der Uno jedes Jahr etwa 700 000 Menschen weltweit an Infektionen, die von immunen Keimen verursacht werden. 2050 könnten es sogar zehn Millionen Opfer jährlich sein. Selbst hochdosierte Reserveantibiotika, die nur im Notfall zum Einsatz kommen, versagen immer häufiger. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte voriges Jahr eine Liste mit zwölf besonders resistenten Killerkeimen, darunter gängige Erreger wie Staphylococcus aureus, Salmonellen und das Darmbakterium E. coli.

Die Krise bietet Quave zufolge eine Chance für alternative Ansätze und Therapien. Die müssten Antibiotika nicht notwendigerweise ersetzen, könnten sie aber ergänzen und ihre Wirksamkeit verstärken. Das trifft vor allem auf Pflanzenwirkstoffe zu, die Schutzmechanismen von Bakterien schwächen oder ausschalten und die Keime damit für Antibiotika empfänglicher machen. Die Mikrobiologin Freya Harrison von der University of Warwick, die nicht an dieser Forschung beteiligt ist, begrüßt besonders diesen Aspekt von Quaves Arbeit: Wenn dadurch die „Funktionstüchtigkeit der heute zur Verfügung stehenden Medikamente erweitert“ werden kann, lassen sich künftig etwa auch gefährliche Hautentzündungen durch Staphylococcus aureus behandeln, die invasiv werden und sogar zu einer Sepsis führen können.

Die Britin hat selbst 2015 mit Kollegen unterschiedlicher Disziplinen eine sogenannte Wikinger-Arznei auf der Basis einer 1000 Jahre alten Rezep tur aus einer altenglischen medizinischen Handschrift hergestellt. Das Mittel zerstörte im Labor zuverlässig Staphy lokokken. „Pflanzen sind fantastische chemische Fabriken, die bakterielle Infektionen ebenso abwehren müssen wie der Mensch.“

Auch Quave greift für ihre Suche nach neuen Wirkstoffen auf die Erfahrungen alter Naturheiler zurück. „Die Menschen würden kaum Rezepturen von Generation zu Generation weitergeben, wenn sie nicht wirkten“, argumentiert die Ethnobotanikerin. „Dies sind keine Ammenmärchen, das ist kein Voodoo. Da
lohnt es sich zuzuhören.“ Auf ihren Expeditionen nach Lateinamerika, Italien, Albanien oder in den Kosovo sitzt sie dann an der Mole eines Fischerdorfs und lässt sich berichten, wie alte Frauen und deren Vorfahren wilde Pflanzen gesammelt und als Medizin genutzt haben.

So lernte sie, wie Menschen aus der Balkanregion seit Generationen ein Johanniskrautserum gegen Wundinfektionen zubereiten: Sie tauchen die Pflanzen in ein Glas Olivenöl. Anschließend lassen sie das Gefäß 40 Tage in der prallen Sonne stehen, bis die Flüssigkeit eine leuchtend rote Farbe angenommen
hat. „Normalerweise kann Johanniskraut die Haut empfindlicher gegen Sonneneinstrahlung machen“, sagt Quave. „Aber das Ölbad neutralisiert die toxische Fotoreaktion.

Sogar ihr Mann und ihre drei Kinder, zwölf, zehn und vier Jahre alt, helfen bei der Suche mit. Vergangenen Sommer zum Beispiel unternahm die Forscherin eine Expedition auf die Ägadischen
Inseln vor der Westküste Siziliens: „An einem Tag haben wir auf Maultieren eine zerklüftete Bergregion durchstreift und kamen alle üppig beladen mit Pflanzen zurück.“

Zurück im Labor, zerlegt Quaves Mannschaft die Pflanzenextrakte, analysiert die biochemische Zusammensetzung und destilliert einzelne Bausteine heraus. Getestet werden dann sowohl die Wechselwirkungen zwischen ihnen wie auch der Effekt auf verschiedene Bakteriengruppen und unterschiedliche Infektionsszenarien – von Sepsis über Protheseninfektionen bis hin zum diabetischen Fuß. Noch steht die Forschung für den modernen Einsatz von Heilpflanzen am Anfang. So fehlen
Erkenntnisse darüber, wie die Substanzen genau wirken und wie sie am besten dosiert und verabreicht werden sollten.

Michael Bell, Infektionsexperte bei der US-Gesundheits- und Seuchenschutzbehörde CDC, warnt vor mögli chen Risiken. „Immer wenn man in die Interaktion von Organismen – in diesem Fall Bakterien – eingreift, ist schwer abzuschätzen, was die indirekten Konsequenzen sind“, sagt er. „Wir haben bislang
einfach wenig Erfahrung mit diesen Substanzen.“ Für die Forscher ist es ein Puzzlespiel – das noch dadurch erschwert werden kann, „dass die Wirkung auf dem Zusammenspiel der verschiedenen
antimikrobiellen Bestandteile beruht“, sagt Freya Harrison. Das hätten ihre Versuche mit dem Wikinger-Extrakt gezeigt.

50 Forscher arbeiten in Quaves Labor, um die Puzzleteile zusammenzusetzen. Ihr Team sitzt im dritten Stock des Anthropologie-Gebäudes mitten auf dem Campus der Emory University. Inzwischen hat die Ethnobotanikerin rund 500 Pflanzenspezies gesammelt und im Herbarium der Universität eingelagert. Auf den Tischen in dem lang gezogenen Raum, die vollgepackt sind mit Mörsern, Petrischalen und Reagenzgläsern, ratternden Zentrifugen und brummenden Trockenöfen, sind mittlerweile etwa 1200 Pflanzenextrakte entstanden.

Weitere Funde aus dem Quave-Labor sind etwa die Wurzeln der Ulmenblatt-Brombeere (Rubus ulmifolius) sowie das Extrakt aus der Rinde der Zerreiche (Quercus cerris). Bereits 2012 stellte sie ihre Forschungsergebnisse im Online-Fachblatt „PLoS One“ sowie im „Journal of Ethnopharmacology“ vor.
Anders als beim Pfefferbaum blockieren die Wirkstoffe dieser Mittelmeerpflanzen nicht die Angriffsmechanismen der Bakterien. Sie schalten vielmehr deren Defensive aus – also deren Fähigkeit, sich zu einem Schutzschild zusammenzuschließen. „Die Wirkstoffe verhindern, dass Bakterien einen Biofilm bilden“, sagt Quave. 2014 ließ sie sich das Präparat auf der Basis der Ulmenblatt-Brombeere patentieren.

Wie gut sich die Laborfunde auf Menschen übertragen lassen, muss sich zeigen. Quave weiß, dass selbst vielversprechende Wirkstoffe oft scheitern. Das ist einer der Gründe für das Zögern der Pharmakologen. Darüber hinaus aber stellen die Pflanzenstoffe von der Isolierung über die Wirkweise bis hin zum Zusammenspiel verschiedener Bausteine im Vergleich zu synthetisch hergestellten Arzneien eine noch zeitraubendere und kostenintensivere Herausforderung für die Pharmaindustrie dar. So steckt Quaves Arbeit derzeit in einer zähen Phase. Im „Tal des Todes“, sagt sie mit einem kleinen Lachen, „der Ort,
an dem Medikamente sterben, noch bevor sie geboren werden“. 

dem Medikamente sterben, noch bevor sie geboren werden“. Pflanzenbasierte Heilmittel können bei der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zwar ein Schnellverfahren durchlaufen. Ohne kostspielige vorklinische Studien zu Sicherheit, Dosierung, Wechselwirkungen und Risiken der Medikamente
geht es aber auch bei der Pflanzenforschung nicht. „Nicht alles, was aus der Natur kommt, ist harmlos und sicher“, sagt Quave. „Es gibt wunderbare, hochwirksame Pflanzen, die – falsch angewendet – tödlich sein können.“ Für die Studien bekommt Quaves Team Zuschüsse, unter anderem von der US-Gesundheitsbehörde National Institutes of Health, doch für umfassendere Forschung braucht sie mehr Mittel.

Aufgeben kommt für Quave nicht infrage. Unterstützung erhält sie auch vom CDC-Experten Bell. Er sieht in ihren innovativen Therapien ein enormes Potenzial“. Schließlich hätten die meisten großen Medikamentenklassen ihr Vorbild in der Natur. Penicillin zum Beispiel, eines der ersten und wichtigsten Antibiotika, ist ursprünglich ein Stoffwechselprodukt des Schimmelpilzes. Vielleicht gelingt es also Quave, mithilfe der Natur die nächste Antibiotika-Revolution anzustoßen.

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