- Fachartikel
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- Annika Simon
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- 29.11.2016
Psycho oder somatisch? Die Tücken des Guillain Barré Syndroms
Viele neuromuskuläre Erkrankungen gleichen einem Chamäleon: Sie können andere Erkrankungen imitieren und sind besonders in frühen Stadien und bei milden Verläufen schwer abgrenzbar. Ein Beispiel ist das Guillain Barré Syndrom, das unbehandelt oft tödlich endet.
© Eraxion/istockphoto
Kribbeln überall
Die Anamnese von Frau Kunze war mehr als auffällig: Kribbeln am ganzen Körper und ein roboterhafter Gang seit ein paar Tagen. Angefangen haben die Beschwerden vor vier Wochen, seit vier Tagen sei es besonders schlimm. Bei einer Neurologin sei sie bereits gewesen, doch die habe ihre Symptome auf Stress zurückgeführt und ein MRT in vier Wochen empfohlen. Das war vorgestern.
Jetzt rutschte Frau Kunze nervös auf der Untersuchungsliege hin und her und zeigte bei der neurologischen Untersuchung viele Auffälligkeiten, die sich keinem bestimmten Ort im Nervensystem zuordnen ließen. Ihr Gang war breitbasig und tapsig – passend zu einer Ataxie bei einer Schädigung des Kleinhirns. Das Kribbeln verspürte sie mal im Gesicht, mal an den Armen, die Beine fühlten sich komisch an und sogar im Schritt hätte sie eine Art Taubheit. Ich dachte natürlich gleich an ein Stresssyndrom. Die ambulante Neurologin hatte eine ähnliche Vermutung. Aber Stress ist natürlich nur eine Ausschlussdiagnose. Also nahm ich Frau Kunze stationär auf und ordnete neben Physiotherapie eine Reihe neurologischer und radiologischer Untersuchungen an.
„Die hat doch nichts, oder?“
Die Kernspintomographien der ganzen Wirbelsäule und des Kopfes sowie das Kopf-CT waren – natürlich – unauffällig. Die Beweglichkeit und der Gang der Patientin waren jeden Tag anders, je nachdem ob ich allein im Zimmer war oder der Oberarzt daneben stand. Bei der oberärztlichen Nachuntersuchung dramatisierte die Patientin ihre Symptome bis ins unermessliche und legte bei der Gang-Probe noch eine Schippe drauf.
Mühsam zog sie sich am Bett entlang und musste den Rollator nehmen, um auf die nur zwei Meter vom Bettende entfernte Toilette zu gelangen. Ich konnte mir das Grinsen nur schwer verkneifen, der Oberarzt verzog indes keine Miene und ordnete weitere Untersuchungen an: Messung der Nervenleitgeschwindigkeit und eine Lumbalpunktion, die Entnahme einer Probe von Nervenwasser.
Diagnose GBS
Ich zweifelte noch an der Glaubhaftigkeit der Patientin, als die ersten Ergebnisse der Lumbalpunktion und der Nervenmessung auf Station eintrafen. Die Nervenleitgeschwindigkeit war verzögert und im Liquor lag das Eiweiß deutlich über dem Normbereich. Kombiniert mit den Parästhesien, der Gangstörung und nur schwach auslösbaren Reflexen gab es nun endlich doch eine aufklärende Diagnose: Frau Kurze litt am sogannten Guillain Barré Syndrom (GBS), einer entzündlichen Polyneuropathie, die häufiger nach Infekten wie einer harmlosen Erkältung auftreten kann.
Zu Beginn leiden die Betroffenen an fortschreitenden Paresen, Parästhesien, Areflexie und einem meist symmetrischen Sensibilitätsverlust. Als Ursache vermutet man bis heute einen Autoimmunprozess, bei dem der Körper Antikörper gegen eigene Strukturen bildet und die Nerven dabei angreift. Bei schweren Verläufen kann es innerhalb weniger Stunden zu einem Aufstieg der Lähmung kommen. Betrifft die Lähmung auch die Atemmuskulatur kann das zum Tod durch Ersticken führen. Daher schrillten bei uns im Ärzteteam sofort nachdem die Ergebnisse eingetroffen waren alle Alarmglocken: Eine schnelle Therapie musste her!
Immunglobuline als Wundermittel
Therapie der Wahl ist eine 5-Tages-Behandlung mit Immunglobulinen und/oder eine Plasmapherese, bei der die schädlichen Antikörper aus dem Plasma der Patienten gefiltert werden. Frau Kunze erhielt die Immunglobuline eine knappe Woche lang über die Vene. Dreimal täglich wurde eine Infusion angehängt. Zusätzlich wurde die Patientin täglich nachuntersucht, um eine rasches und beim GBS gefürchtetes Fortschreiten der Erkrankung nicht zu übersehen.
Frau Kunze hatte Glück: Ihr Verlauf war insgesamt eher mild, was im Nachhinein auch die Schwierigkeit der Diagnosestellung erklärt. Schließlich kommen Kribbeln, Erschöpfung und Muskelschwäche manchmal auch nach langen Arbeitstagen vor. Schuld war bei Frau Kunze aber vielmehr eine von ihr als harmlos abgetane Erkältung vor vier Wochen. Die Immunglobuline zeigten die gewünschte Wirkung und Frau Kunze konnte nach zwei Wochen in die ambulante Weiterbetreuung entlassen werden.
Auch wenn mir meine Stress-Fehldiagnose immer noch ein wenig unangenehm ist, habe ich an diesem GBS-Fallbeispiel eine Menge gelernt: Die Beschwerden des Patienten sollte man immer ernst nehmen, denn: auch hinter vermeintlich harmlosen Beschwerden kann sich eine schwere Krankheit verbergen!
Weiterführende Links
Leitlinien der DGN e.V.
Thieme Buchtipp „Checkliste Neurologie“
Lehrvideo auf Englisch über GBS