• Kasuistik
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  • Dr. med. Yvonne Kollrack
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  • 21.11.2014

Auf Eis gelegt – Notfall Amputationsverletzung

Bei einer traumatischen Amputation ist enorm wichtig, dass Ersthelfer nicht nur den Stumpf, sondern auch das Amputat richtig versorgen. Im optimalen Fall kann dann das verlorene Körperteil chirurgisch wieder verbunden werden. Unsere Autorin Dr. Yvonne Kollrack erklärt, was zu tun ist.

Simon* blickt verärgert aus dem Fenster seiner Studentenbude. Der Lärm einer Kreissäge raubt ihm beim Lernen den letzten Nerv. Wie soll er sich da nur konzentriert auf sein Neuroanatomie-Testat vorbereiten? Plötzlich quietscht die Säge kreischend auf, begleitet von einem gellenden Schrei. Dann herrscht gespenstische Ruhe. Simon springt auf und blickt direkt in die Garage seines Vermieters. Eine Gestalt liegt dort auf dem Boden. Sofort rennt der Medizinstudent los.
In der zum Hobbyraum umfunktionierten Garage sitzt Nachbar Herrmann mit dem Rücken an die Wand gelehnt und blickt fassungslos auf sein blutendes linkes Handgelenk – mit Entsetzen sieht Simon, dass die dazugehörige Hand fehlt. Sie liegt neben der auslaufenden Kreissäge und sieht aus wie ein gruseliges Halloween-Requisit.

 

Beruhigen, Notarzt rufen, nicht desinfizieren!

 

Mit klopfendem Herzen kniet sich Simon neben Herrn Herrmann. Weil ihm nichts Besseres einfällt, tastet er den Puls der rechten Hand und redet beruhigend auf den Verletzten ein. Als sein Blick auf den Verbandskasten an der Wand fällt, steht er auf, um ihn zu holen. Im selben Moment betritt eine weitere Nachbarin die Garage: Dr. Natascha Hofer, 32, Notärztin, Unfallchirurgin – und von Simon als heimliches Vorbild verehrt. „Ich habe einen Schrei gehört und dachte ich sehe mal nach, ob … Oje!“ In dieser Sekunde erfasst sie die Situation. Als sie den Verbandskasten in Simons Händen sieht, schlägt sie vor, dass er den Stumpf verbindet, während sie sich um das Amputat kümmert und den Notruf absetzt. Simon muss schlucken. So richtig weiß er nicht, wie man das macht. Weil er das aber nicht zugeben will, greift er beherzt zum Desinfektionsmittel. Das kann ja nicht falsch sein, denkt er sich. Doch Natascha ist da anderer Ansicht: „Amputationsstümpfe dürfen auf keinen Fall mit Desinfektionsmittel behandelt werden“, erklärt sie ihm. „Die schädigen die Gefäßwand zusätzlich. Ich wähle kurz den Notruf und dann versorgen wir den Stumpf gemeinsam.“

 

Blutstillung am Stumpf: Nicht abbinden!

Der Patient ist erstaunlicherweise recht ruhig. Sein Armstumpf blutet auch weit weniger als Simon sich das angesichts seiner Kenntnisse aus diversen Horrorfilmen vorgestellt hatte. Natascha zeigt Simon, wie man die Kompressenpäckchen so öffnet, dass der Inhalt steril bleibt. Dann reicht sie ihm die sterilen Handschuhe. „Hier, schlüpfe in die Handschuhe und lege die Kompressen auf die Wunde“, fordert sie ihren jungen Kollegen auf. Nachdem der Stumpf bedeckt ist, arbeiten die beiden unsteril weiter und legen weitere Kompressen auf. Anschließend nimmt Natascha eine elastische Binde und wickelt diese unter leichtem Zug fest. Jetzt sickert nur noch etwas Blut durch die Kompressen. Simon legt deshalb nochmals eine zusätzliche Schicht Kompressen als Polster auf die durchgesickerte Stelle und Natascha wickelt eine weitere Binde fächerförmig erst um den Stumpf und dann um den Arm. Dabei spannt sie die Binde jeweils leicht vor und wickelt sie dann unter Zug an, bevor sie das Ende mit Pflasterstreifen befestigt. Abgebunden darf der Arm nicht werden, weil dies zu Hypoxieschäden im Gewebe führen würde. Zudem schüttet der Körper in der Schocksituation vasokonstriktives Adrenalin aus. Das sorgt dafür, dass die Gefäßintima sich einrollt und es initial weniger stark blutet als man erwarten würde.

 

Keep cool! – Versorgung des Amputats

Danach versorgt Natascha auch noch das Amputat mit trockenen Kompressen. Üblicherweise wird ein Amputat in feuchte, aber gut ausgedrückte Kompressen geschlagen. Schließlich sollen die Wundränder nicht austrocknen und der Verband nicht ankleben. Die Handchirurgen finden jedoch trockene Kompressen besser, denn durch zu viel Feuchtigkeit quellen die Venen und Arterien auf und das ist zur Anastomosierung kleiner Gefäße kontraproduktiv. In jedem Fall sollte man bei subtotalen Amputationen alle Gewebebrücken erhalten, da hier winzige wichtige Nerven und Gefäße versteckt sein können.

Nachdem sich die beiden vergewissert haben, dass es Herrn Hermann einigermaßen gut geht und er den Stumpf hoch lagern kann, bittet die Notärztin Simon, etwas Eis und zwei Plastikbeutel aus dem Haus zu holen. In den ersten Beutel packt Natascha die mit Kompressen bedeckte Hand und verschließt diesen fest. Dann steckt sie diesen Beutel in eine weitere Plastiktüte, die sie mit 2/3 Wasser und 1/3 Eis füllt und ebenfalls verschließt. „Die meisten RTWs in Deutschland haben spezielle Replantationsbeutel an Bord, aber das tut es auch“, erklärt sie Simon. „Ist das nicht zu kalt?“, wundert sich Simon und erfährt, dass ein Amputat bei ca. 4° Celsius gelagert werden sollte, um die Ischämietoleranzzeit des Gewebes zu verlängern. Muskelnekrosen, die Entwicklung einer lokalen metabolischen Azidose und bakterielles Wachstum werden durch die Kühlung reduziert. Keinesfalls dürfen die Temperaturen aber unter 0°C liegen, sonst kann es zu Gefrierschäden kommen.

 

Gute Chancen auf Replantation

In diesem Moment erklingt die Sirene des Rettungswagens. Natascha übergibt den Patienten und den Beutel mit der abgetrennten Hand an ihren Kollegen. Während sich der Notarzt und seine Assistenten nun um den Patienten kümmern und ihm eine Infusion mit Schmerzmittel geben, will Simon wissen, ob die Hand wohl wieder angenäht werden könne. Natascha glaubt, dass die Chancen für eine Replantation gar nicht schlecht stehen: „Natürlich haben glatte Amputationsränder, wie bei einer Schnittverletzung, bessere Voraussetzungen. Aber auch wenn die Kreissäge mit ihren Zähnen und Schränkungen Weichteile zerrissen und den Knochenrand zersplittert hat, ist davon eigentlich nur der Amputationsrand betroffen. Wesentlich ungünstiger sind da quetsch- oder ausrissbedingte Amputationen.“

Prinzipiell sollte ein Ersthelfer jedes Amputat suchen und vom Notarzt mitnehmen lassen, denn nahezu jede Amputationsverletzung hat eine Chance auf eine erfolgreiche Replantation. In der Klinik fällt bei einem polytraumatisierten Polytrauma dennoch manchmal die Entscheidung „life before limb“, wenn die zum Extremitätenerhalt notwendige OP der Stabilisierung des Patienten entgehen steht.

 

Ab in die Klinik – und in den OP!

Kurz bevor der Rettungswagen abfährt, bedankt sich der Kollege bei den beiden für die professionelle Erstversorgung. Dann schließt er die Türen und der Wagen braust los. „Und was passiert jetzt mit Herrn Hermann und seiner Hand?“, fragt Simon seine Nachbarin. „Na, die fahren jetzt in eine Klinik mit einer speziellen handchirurgischen Abteilung und ständiger Replantationsbereitschaft“, erklärt Natascha. Sie hat selbst schon einige solche Fälle in der Klinik erlebt und kann Simon genau beschreiben, wie die Abläufe dort sind: Im Fokus steht zunächst natürlich die Stabilisierung des Herz-Kreislauf-Systems. Auch der Tetanusschutz darf nicht vergessen werden. Vor Beginn der Operation werden dann Stumpf und Hand steril gereinigt, mit Ringer Lösung oder einem gewebefreundlichen, nicht toxischen, Desinfektionsmittel. Im besten Fall arbeiten zwei Operationsteams parallel, eines am Stumpf, eines am Amputat. Nach Beginn der Narkose wird am Arm zur besseren Übersicht eine Blutleere angelegt. Als erstes werden die zu verbindenden Nerven, Gefäße, Sehnen, Muskeln und Knochen dargestellt und zugeordnet, zerstörtes und avitales Gewebe wird ausreichend, aber sparsam entfernt. Die Versorgung erfolgt in der Reihenfolge Knochen (damit die Stabilität und Länge der Extremität wieder hergestellt ist), Beugesehnen und Strecksehnen, danach Arterien, Venen und Nerven. Die Knochen werden meist etwas gekürzt osteosynthetisiert, um frische Kontaktflächen zu erzielen, aber auch um die Gefäße und Nerven spannungsfrei verbinden zu können. Die Prognose ist relativ gut. Weltweit liegen die Einheilungszahlen von Replantaten zwischen 60% und 90%.

Und wenn die direkte Replantation nicht funktioniert, gibt es mittlerweile die Chance, mittelfristig verlorene Gliedmaße durch Transplantate zu ersetzen. Natascha erzählt Simon ein Beispiel: „Vor sechs Jahren haben Ärzte der TU München einem Landwirt zwei fremde Arme transplantiert! Der Ärmste hatte in einen Maishäcksler gegriffen und dabei beide Arme verloren, die nicht replantiert werden konnten. Fünf Jahre später haben ihm Plastische Chirurgen oberhalb des Ellenbogens die Arme eines Organspenders transplantiert. Jetzt fährt er wieder Traktor (Link).“ Simon ist beeindruckt und könnte Natascha ewig zuhören. Er beschließt, dass er auch später noch aufs Testat lernen kann und meint: „Nach dem Notfall bin ich jetzt echt hungrig … lass uns doch bei mir oben was essen und über die Neuroanatomie der Handnerven plaudern. Vielleicht kannst du mir da noch was beibringen …“

 

*Namen frei erfunden. Die Geschichte beruht auf dem Erfahrungsschatz der Autorin.

**Pressemitteilung Technische Universität München

 


Replantation

Lange Zeit konnten Ärzte bei Amputationsverletzungen nur versuchen, den Stumpf möglichst gut und funktionell zu versorgen. Feldärzte wie Lisfranc oder Larrey wurden für ihre Amputationsversorgungen berühmt. Replantationen wurden erst durch moderne mikrochirurgische Techniken möglich, die eine exakte Anastomosierung von Gefäßen und Nerven erlaubten. Ein Meilenstein war die Entwicklung des Operationsmikroskopes ab 1953, ein anderer die Verfeinerung der Instrumente und des Nahtmaterials. Und 1965 konnte in Japan erstmals ein Daumen erfolgreich replantiert werden. 

 


Behandlung von Amputationsverletzungen bis zur Replantation

 Körperteil  Maßnahme
 Amputationsstumpf  ● keine Reinigungsversuche
● keine Unterbindungen (wenn möglich)
● sterile Kompressionsverbände
 Amputat  ● keine Reinigungsversuche
● kein Einlegen in Lösungen irgendwelcher Art
● trocken einwickeln in sterile Kompressen oder Tücher und wasserdicht verpackt auf Eis
 oder in einem Replantationsbeutel transportieren
● in der Klinik: steril verpackt in + 4 °C kalten Kühlschrank legen

 

 Versorgung Amputat - Abbildung 13.1 aus: Jürgen Rudigier et al., Kurzgefasste Handchirurgie, 6. Auflage 2014

Transport eines Amputats in einem doppelwandigen
Replantationsbeutel.
T 1: Temperatur in Eisnähe: ca. 0 °C
T 2: Temperatur ca. 3–4cm unterhalb der Eisschicht:
+ 2–+3°C
T 3: Temperatur im Abstand von mehr als 6cm von der
Eisschicht: ca. + 4 °C. (Abbildung 13.1 aus: Jürgen Rudigier et al., Kurzgefasste Handchirurgie, 6. Auflage 2014)

 

 

Reihenfolge Replantation - Abbildung 13.7 aus: Jürgen Rudigier et al., Kurzgefasste Handchirurgie, 6. Auflage 2014

 

Reihenfolge der bei einer Replantation zu versorgenden Strukturen. (Abbildung 13.7 aus: Jürgen Rudigier et al., Kurzgefasste Handchirurgie, 6. Auflage 2014)

Kreissägenamputation - Abbildung 13.4 a,b aus: Jürgen Rudigier et al., Kurzgefasste Handchirurgie, 6. Auflage 2014

Replantation bei einer Kreissägenamputation
aller 4 Finger II–V (Patient 62 Jahre).
a) Ausgangssituation. Eindeutige Indikation zur Replantation
von wenigstens 2–3 Fingern.
b) Zustand 6 Monate nach erfolgreicher Replantation
aller 4 Finger II–V. (Abbildung 13.4 a,b aus: Jürgen Rudigier et al., Kurzgefasste Handchirurgie, 6. Auflage 2014)

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