- Interview
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- Christina Liebermann
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- 18.11.2014
Retten als Hobby
Notfallmedizin – was ist so faszinierend an diesem Fach, in dem man Leben um Leben rettet und doch von Patienten fast nie ein „Danke“ erntet? Prof. Peter Sefrin ist seit über 40 Jahren leidenschaftlicher Notarzt. Wie sich sein Fach im letzten halben Jahrhundert verändert hat und warum er seinen Ruhestand lieber mit Blaulicht als Golfschläger verbringt, berichtet er im Interview.
Prof. Sefrin ist seit über 40 Jahren Notarzt aus Leidenschaft.
> Herr Prof. Sefrin, Sie sind seit über 40 Jahren Notarzt. Wie kamen Sie als junger Arzt zu der Entscheidung, diese Richtung einzuschlagen? War das schon immer ein Traum von Ihnen?
Das ging bei mir in den ersten Semestern des Medizinstudiums los. Den Anstoß gab, dass ich damals schon leidenschaftlich gerne Auto fuhr und als Student eine Nebentätigkeit suchte. Die fand ich beim Roten Kreuz. 1961 war ich dort einen Monat lang Aushilfsfahrer beim Krankentransport. Dabei merkte ich, dass mich dieses Thema reizt. Deswegen durchlief ich parallel zum Studium die für den Rettungsdienst übliche Laufbahn und machte eine Ausbildung als Rettungssanitäter. Als ich mit dem Medizinstudium fertig war, hatte mich die Notfallmedizin komplett infiziert. Zunächst wollte ich eigentlich Kinderchirurg werden, aber man sagte mir, das gehe mit meinem Rücken nicht. Also habe ich meinen Facharzt in der Anästhesie gemacht und mich in diesem Fach mit dem Thema Polytrauma habilitiert, das ja relativ nah an der Notfallmedizin ist.
In Würzburg habe ich dann den Notarztdienst aufgebaut und bin auch die ersten Notarzteinsätze gefahren. Die dafür erforderlichen Informationen hatte ich mir von den Vätern der damaligen Notfallmedizin geholt. Das waren Prof. Gögler in Heidelberg und Prof. Frey in Mainz. Die ersten „Norarztwagen“ bekamen wir in Würzburg vom Roten Kreuz aus der Katastrophenhilfe zur Verfügung gestellt. Nach Etablierung im Rettungsdienst und einem wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Notfallmedizin wurde an der Universität Würzburg der ersten Lehrstuhl für Notfallmedizin in Deutschland die Sektion für präklinische Notfallmedizin eingerichtet, deren Leiter ich wurde.
> Was reizt sie an ihrem Beruf am besonders?
Ganz einfach: Wir konnten Menschen, die sonst am Unfallort gestorben wären, durch unsere Maßnahmen retten. Das war eine Herausforderung, deren Erfolg man dann auch direkt vor Augen hat. Arbeitet man in einer Klinik, stellt sich der Behandlungserfolg ja erst nach längerer Zeit ein. Andererseits war natürlich der Rettungsdienst ein Betätigungsfeld, das zu der Zeit vollkommen neu war für Ärzte.
> Welches sind die einschneidenden fachlichen Veränderungen, wenn Sie sich angucken, wie die Notfallmedizin vor 40 Jahren ablief?
Anfänglich waren es ja nur Verkehrsunfälle. Das hat sich in der Zwischenzeit vollkommen geändert. Die traumatologischen Notfälle sind deutlich zurückgegangen zugunsten bzw. zulasten von internistischen Notfällen. Betrachtet man heute den Rettungsdienst, dann geht es nicht nur um die momentane Abwendung der akuten Lebensgefahr, sondern auch um den Beginn einer vorgezogenen Intensivmedizin bis zur Klinik. Es wird also – sei es beim Schlaganfall oder beim Myokardinfarkt – eine Rettungskette aufbaut. Die Schnittstelle zur Klinik hat sich verändert. Wir geben den Patienten nicht einfach an einer Stelle ab, sondern bringen ihn z.B. gleich an die entsprechende Spezialstelle, sei es das Herzkatheterlabor beim Myokardinfarkt oder das CT beim Schlaganfallpatienten.
Früher bestand auch eine erhebliche Skepsis bei den Klinikärzten, wenn ein Notarzt eine Diagnose gestellt hat, nach dem Motto: „ Da müssen wir aber erstmal gucken“. Wenn wir einen Patienten gebracht haben, kam zunächst der „Heilgehilfe“ – damals der Krankenpfleger – und hat sich das ganze angeschaut. Wenn der dann meinte, das sei etwas Akutes, hat er den jüngsten Assistenzarzt gerufen, der dann wiederum seinen Oberarzt rief. Das bedeutet also, an der Schnittstelle zwischen Rettungsdienst und Klinik hat sich etwas ganz Wesentliches getan. Hier spielen heute die zentralen Notaufnahmen eine ganz entscheidende Rolle.
> Sie haben erwähnt, dass sich die Gewichtung von den Verkehrsunfällen auf internistische Notfälle verlagert hat – sind Herzinfarkt und Schlaganfall heutzutage die häufigsten Notfälle?
Ja. Wir haben 30% akute kardiologische Ereignisse und 20–30% neurologische. Es gab eine Verschiebung auf bis zu 70% nicht-traumatologische Notfälle. Der Verkehrsunfall, der früher auch in der Öffentlichkeit die Tätigkeit des Notarztes verdeutlicht hat, macht heute nur noch etwa 12% aus.
> Hat es Sie in Ihrer Laufbahn manchmal gestört, dass Sie vielen Menschen, denen Sie geholfen haben, denen Sie möglicherweise das Leben gerettet haben, danach nicht mehr begegnen? Suchen die Patienten nach ihrer Genesung manchmal noch den Kontakt zu dem Notfallteam, das sie gerettet hat?
Nein, überhaupt nicht. Das ist eine Rarität, wenn so etwas passiert. In meinem ganzen beruflichen Leben hatte ich nur zu zwei oder drei Patienten danach noch Kontakt. An eine Patientin erinnere ich mich sehr gut, weil sie mir jedes Jahr zu ihrem zweiten Geburtstag gratuliert hat – der Tag, an dem wir sie reanimiert haben. Durch die Tatsache, dass diese Patientin auf unsere anästhesiologische Intensivstation kam und ich zu dieser Zeit dort als Assistenzarzt tätig war, gab es eine Verbindung. Ansonsten müssen wir uns mit der Tatsache abfinden, dass eine erfolgreiche Reanimation für lange Zeit als Motivation dienen muss und man nicht damit rechnen kann, dass sich Patienten bei einem bedanken.
> Gab es denn in ihrer Laufbahn ein besonders prägendes Erlebnis, sei es ein schlimmes oder auch ein positives, an das Sie bis heute zurückdenken?
Da ist mal eine Burg eingestürzt und mehrere Menschen waren darunter begraben. Der Einsatz war weit außerhalb von Würzburg. Wir mussten eine lange Strecke anfahren und die Rettung hat Stunden gedauert. Der Unfall passierte morgens und erst nachts hatten wir den letzten Patienten aus den Trümmern gerettet. Ich bin da auch unter die Trümmer gekrabbelt und habe eine eingeklemmte Patientin versorgt, obwohl ich nicht gesichert war und Material jederzeit hätte nachrutschen können. Ich war damals noch sehr jung. Heute würde ich das nie wieder ohne eine entsprechende Absicherung tun. Das ist ein Erlebnis, das im negativen Sinne hängengeblieben ist. Wir sagen unseren Notärzten auch immer wieder: Eigene Sicherheit geht vor Hilfeleistung.
> Ein Notarzt sieht in seiner Laufbahn viele schlimme Dinge, kommt in Grenzsituationen. Wie lernt man, diese Erlebnisse emotional zu verarbeiten? Haben Sie das eher mit sich selbst ausgemacht oder mit anderen darüber gesprochen?
Ich habe das mit mir selbst ausgemacht. Das kommt aber auf die persönliche Einstellung an. Ich habe mir immer gesagt: Das ist meine Aufgabe. Und wenn etwas negativ verläuft, dann muss man fragen, was kann ich das nächste Mal besser machen. Und wenn man so viel erlebt hat, ist das einzelne Ereignis mit der Zeit auch nicht mehr ganz so prägend. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch Kollegen, die das mit anderen besprechen müssen. Es gibt Balintgruppen, die sich nach Einsätzen zusammentun. Ich kenne auch Kollegen, die nach ein oder zwei Jahren, wenn sie so ein negatives Erlebnis hatten, aufgehört und gesagt haben. „Das ist für mich keine Tätigkeit.“
> Würden Sie sagen, dass es einen speziellen Menschenschlag Notfallmediziner gibt? Muss man für diesen Beruf besonders „cool“ oder „hart im Nehmen“ sein?
Nein. Der „coole“ Mediziner, der „Macho“ das ist nicht der Mann, der für den Notarztdienst geeignet ist. Gute Notfallmediziner machen ihren Job nicht aus Abenteuerlust, sondern aus einer Verantwortung gegenüber dem Patienten heraus. Leider muss ich feststellen, dass dieser Aspekt immer weniger wichtig wird. Eine Reihe von Kollegen machen diesen Job auch aus finanziellen Gründen und sagen sich „Ja, da kann ich als Assistenzarzt oder Niedergelassener noch was dazu verdienen“. Das ist natürlich nicht die Grundeinstellung, die ich von einem Notarzt erwarte. Wobei ich es aber auch nicht verurteile, wenn jemand sagt, er kann dabei auch Geld verdienen.
> Ist Notfallmedizin eher eine Männerdomäne oder entscheiden sich auch viele Frauen dafür?
Zumindest in der Anfangszeit sind schon vor allem Männer Notarzt geworden, aber die Emanzipation der Ärztinnen hat auch da Platz gegriffen. Heute haben wir 30-40% Frauen im Notarztdienst, das ist allerdings regional ganz verschieden.
> Sieht man denn als Notfallmediziner mehr Tote als in anderen Fachbereichen?
Das kommt ganz auf den Fachbereich an. Ein Palliativmediziner hat bestimmt mehr Tote als ein Notarzt. Allerdings hat sich das Kollektiv der Patienten, zu denen wir gerufen werden, geändert. Früher hatten wir Tote eigentlich nur im Rahmen schwerer Verkehrsunfälle. Heute werden wir teilweise zu bereits Verstorbenen gerufen, weil sich die Angehörigen nicht mit dem Tod abfinden wollen. Das Extrem der Situation ist, dass wir sogar in Altersheime gerufen werden, um dort eine Reanimation durchzuführen. Wenn wir dann fragen „Wieso rufen Sie uns?“, erhalten wir die Antwort: „Die Angehörigen bestehen darauf, dass für ihren Opa oder die Oma alles getan wird.“
Daher haben wir heute zwar mehr Tote im Notarztdienst als früher – diese sind oft aber gar nicht als typische Notfallpatienten anzusehen. Das hängt auch damit zusammen, dass wir heutzutage mitunter als Ersatz des Hausarztes agieren. Der ist in bestimmten Zeiten einfach nicht erreichbar und der ärztliche Bereitschaftsdienst braucht lange. Und dann wird eben schnell die 112 gewählt.
> Passiert es Ihnen bei Einsätzen noch manchmal, dass Sie einen Notfall haben, bei dem Sie sich mit einer Situation auseinander setzen müssen, die Ihnen noch nie zuvor begegnet ist?
Ja, das gibt es tatsächlich auch heute noch. Was mir neulich passiert ist (lacht): Ein Patient mit akuten Schmerzen im Bauchraum sitzt auf der Toilette. Wie ich dann feststelle, hatte er einen Kotstein. Ich konnte ihm dadurch helfen, dass ich manuell den After ausgeräumt habe. Das habe ich in meinem Leben als Notarzt noch nie gemacht – eine manuelle Kotsteinentfernung als notärztliche Maßnahme. Dafür gibt es dann auch keine entsprechende Abrechnungsziffer. Da braucht es schon manchmal 50 Jahre bis man zu so etwas kommt.
> Haben Sie noch eine Art „Einsatzangst“, wenn Sie zu Notfällen kommen?
Nein, das habe und hatte ich nicht. Für mich ist die notärztliche Tätigkeit ein Hobby und wenn man sich einem Hobby verschrieben hat, sollte man dabei keine Angst haben. Das hat nichts mit „Coolness“ zu tun. Bekommt man von der Leitstelle einen Notarzteinsatz im Altenheim zugewiesen, dann ist das aber natürlich nicht so emotional fordernd wie die Reanimation bei einem Kind. Das hatte ich vor vier Wochen. Und wenn man ein zehnjähriges Kind reanimieren muss, treibt es einen schon um.
> Was schätzen Sie, wieviele Menschen haben Sie in Ihrer Laufbahn reanimiert?
(lacht) Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, ich habe zwölf Kinder im Rettungswagen zur Welt gebracht. Die Reanimationen habe ich nicht gezählt.
> Gab es mal einen Fall, wo Sie selbst überrascht waren, dass die Reanimation erfolgreich verlief?
Es gab einen Fall in einem Altersheim. Wir hatten eine Anfahrtszeit von 12–13 Minuten und ich dachte, da ist wahrscheinlich nicht mehr viel zu machen. Als wir dort ankamen, hat eine Pflegeperson die Basisreanimation durchgeführt. Ich habe dann übernommen und erstaunlicherweise führte diese Reanimation zum Erfolg – bei einem 86jährigen Patienten. Ich habe die Pflegeperson gefragt: „Wie kommen Sie dazu, man ist ja nicht gewohnt, dass im Altenheim irgendetwas gemacht wird?“ Wie sich herausstellte, war sie Intensivpflegekraft, die auf Altenpflege umgesiedelt hatte. Sie sagte mir, der Patient habe sein Essen aspiriert und da müsse man doch was machen .Und nachdem sie eine suffiziente Basisreanimation durchgeführt hatte, konnten wir den Patienten auch erfolgreich reanimieren. Er hat das ganze ohne einen Schaden überstanden.
> Wie sehen Sie selbst das Thema Reanimation? Denken Sie, dass die aktuellen Regelungen (z.B. 30:2) das letzte Wort sind oder wird sich an den Vorgaben bald wieder etwas ändern?
Da wird sich wahrscheinlich noch mehr ändern im Laufe der Zeit. Was, kann ich allerdings nicht sagen. Ich gehöre nicht zu dieser internationalen Gruppe. Ich bin nur derjenige, der die Entscheidungen hinterher auf nationaler Ebene umsetzt und dafür sorgt, dass sie verbreitet werden. Das mache ich in meiner Funktion als Bundesarzt des Deutschen Roten Kreuzes.
> Wissen Sie, woran zurzeit speziell geforscht wird?
Nein. Das ist eine internationale geschlossene Gruppe, die keine Einblicke gewährt und bis zu einem bestimmten Tag auch keine Publikationen erlaubt. Diejenigen, die dieser Gruppe angehören, müssen sich verpflichten, dass sie nichts nach außen geben. Also ergeben sich da auch für uns immer wieder Überraschungen. Rein subjektiv könnte ich mir jedoch vorstellen, dass die Herzdruckmassage mit 30 Mal drücken verlängert werden könnten.
> Täuscht der Eindruck, dass verglichen mit früher bei der Reanimation immer weniger Medikamente eingesetzt werden?
Ja, das ist eindeutig so. Einerseits, weil es nicht evaluiert ist, andererseits weil es für den Nichtnotfallmediziner sehr kompliziert ist. Die Reanimation soll ja nicht nur Aufgabe des Notarztes sein, sondern von jedem niedergelassenen Arzt durchgeführt werden können. Auf der einen Seite ist es also eine Simplifizierung mit der Chance, dass das ganze besser akzeptiert wird und auf der anderen Seite ist die Frage, inwieweit eine spezielle Medikation überhaupt zu einem besseren Erfolg führt. Für Adrenalin haben wir zum Beispiel keine plazebokontrollierten Studien, sondern nur die praktische Erfahrung. Bei anderen Medikamenten gibt es weder eine Evidenz noch eine praktische Erfahrung, so dass man sie aus dem Repertoire streichen kann.
> Eine eher politische Frage: Wie sehen Sie die Pläne, evtl. einen Facharzt für Notfallmedizin einzuführen? Brauchen wir in Deutschland ein solches Berufsbild?
Man muss hier zwischen dem klinischen und präklinischen Bereich unterscheiden: Die Frage hat sich ja durch die Neueinrichtung der zentralen Notaufnahmen ergeben. Prinzipiell braucht man nicht für jede neue Einrichtung im klinischen Bereich gleich einen Facharzt. Zumindest für die Kollegen, die so eine Einrichtung lebenslang leiten, wäre evtl. ein eigener Facharzt nützlich. Der präklinische Bereich ist typischerweise keine lebenslange Beschäftigung, sondern meist eine zeitlich limitierte Tätigkeit, die der ein oder andere länger oder weniger lang durchführt. Deswegen braucht man hier keinen Facharzt. Es geht dabei aber weniger um den Titel als um die Qualifikation. So wie wir für den präklinischen Bereich eine spezielle Qualifikation brauchen, brauchen wir diese natürlich auch für den klinischen.
> Sie sind ja zur Zeit trotz Ruhestand noch immer als Notarzt tätig. Wieviele Einsätze haben Sie denn noch, wöchentlich zum Beispiel?
Das kann ich so nicht sagen (lacht). Am Samstag zum Beispiel hatte ich sechs Einsätze am Tag und zwei in der Nacht, aber wie viele es in einer definierten Zeit sind, habe ich nicht zusammengezählt. Das ist auch innerhalb einzelner Schichten ganz verschieden.