• Anleitung
  • |
  • Prof. Dr. med. Lorenz Lampl
  • |
  • 14.10.2005

Akutversorgung von Ertrinkungsunfällen

Gehören auch Sie zu den Sonnenanbetern und Wasserratten? Sobald die Temperaturen auf über 25 °C klettern, verbringen Sie jede freie Minute im Schwimmbad oder am Baggersee? Jäh wird Ihre Urlaubsstimmung zerstört - jemand droht zu ertrinken. Damit Sie nicht hilflos zusehen müssen, gibt Ihnen unser Autor praktische Anleitungen für die Erstversorgung bei Ertrinkungsunfällen.

 

Einführung

Es ist ein sonniger Sommernachmittag. Menschen tummeln sich in entspannter Laune an einem Baggersee. Ganz unvermittelt schreien auf einmal mehrere Leute hektisch durcheinander: Ein 12jähriges Mädchen wird beim Spielen in der Nähe des Ufers plötzlich vermißt. Ein beherzter Badegast vermutet, daß das Kind im Wasser versunken sein könnte. Nach drei bis vier Minuten Tauchens findet er es schließlich in ca. 4 m Tiefe auf dem Grund des Baggersees (der wenige Meter vom Ufer entfernt steil abfällt) und kann es an Land retten. Die Verweildauer unter Wasser muß auf fünf bis eher acht Minuten geschätzt werden.

Das Mädchen ist tief bewußtlos ohne Abwehrreflexe und ausgeprägt zyanotisch; die Spontanatmung ist erhalten, das Kind erbricht heftig. Ersthelfer bringen es in stabile Seitenlage; der Bademeister läßt aus einem nahegelegenen Vorratsraum Sauerstoff herbeibringen. Der zehn Minuten später eintreffende Notarzt überprüft als erste Maßnahme die Atemwege. Er findet reichlich erbrochenen Mageninhalt im Mund-Rachen-Bereich. Über allen Lungenarealen sind grobblasige Rasselgeräusche zu auskultieren. Der Blutdruck liegt um 130/70 mmHg, es besteht eine Sinustachykardie von 140/min; ein deutlich aufgetriebenes Abdomen ist sichtbar, die Körpertemperatur liegt bei 33,4 °C. Wohl mitverursacht durch diese Hypothermie gelingt die Messung der peripheren Sauerstoffsättigung nicht.

Der Notarzt stellt die Diagnosen: Beinahe-Ertrinken in Süßwasser mit ausgeprägter Aspiration; Bewußtlosigkeit aufgrund zerebraler Hypoxie.

 

Mehr als nur nüchterne Zahlen

Nach der Statistik erleiden 1 bis 2 von 100.000 Menschen jährlich einen tödlichen Ertrinkungsunfall. Die Zahl der überlebten sog. "Beinahe-Ertrinkungsunfälle" (near-drowning) liegt schätzungsweise 5- bis 10fach höher. Ein Beinahe-Ertrinken liegt definitionsgemäß dann vor, wenn der Patient den Ertrinkungsunfall um mehr als 24 Stunden überlebt.

Welch große psychologische Belastung für den Helfer hinter diesen nüchternen statistischen Zahlen steckt, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß ein hoher Anteil an den Ertrinkungsopfern Kinder sind; etwa 20% der ertrunkenen Menschen sind jünger als 5 Jahre! Dem gegenüber steht die Abgrenzung des "Todes im Wasser aus anderer Ursache", vor allem bei Erwachsenen und älteren Menschen (z.B. Herzinfarkt, Krampfanfall u.ä.).

 

Was Ertrinken genau bedeutet

Ertrinken bedeutet einen Erstickungstod durch Untertauchen in Flüssigkeit. Es kommt immer zu einer akuten Hypoxie. Anfangs ist diese Hypoxie Folge eines reflektorischen Stimmritzenkrampfes (Laryngospasmus) nach Eindringen von Flüssigkeit in die Atemwege. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt kann es reflektorisch zu einem Kreislaufstillstand und zum Tod des Patienten kommen.

In der großen Mehrzahl der Fälle löst sich der Stimmritzenkrampf infolge der zunehmenden Hypoxie, so daß - abhängig von der dann noch vorhandenen Atemaktivität - Wasser, Schlamm oder auch Erbrochenes aspiriert werden kann. Die Aspiration bzw. der dadurch gestörte pulmonale Gaswechsel verschlimmert die ohnehin bestehende Hypoxie dramatisch - vor allem deren Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem.

Wird der Ertrinkungsunfall überlebt, so können Lungenschäden (Aspiration!) tückischerweise auch nach anfänglich mehr oder weniger unauffälligem Befund Stunden später zum fortschreitenden Lungenversagen bis hin zum Tode führen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer kompromißlosen Therapie durch Ersthelfer ebenso wie Notarzt und aufnehmende Klinik. Für den Ersthelfer von untergeordneter Bedeutung sind die pathophysiologischen Unterschiede, die von der Art der aspirierten Flüssigkeit (z.B. Süß- oder Salzwasser) ausgehen. In jedem Fall resultiert eine gleichartige Endstrecke mit schweren Störungen des pulmonalen Gaswechsels.

Zur vergrößerten Ansicht

 

Immer auch Hypothermie

Regelmäßig bei Ertrinkungspatienten anzutreffen ist eine rasch auftretende und oft ausgeprägte Unterkühlung. Sie ist Folge der hohen Wärmeleitfähigkeit des Wassers. Die Hypothermie umgibt den gesamten pathophysiologischen Ablauf des Ertrinkens und führt ihrerseits zu Komplikationen, beispielsweise Herzrhythmusstörungen. Andererseits reduziert die Unterkühlung den Sauerstoffverbrauch insbesondere des Zentralnervensystems; daraus erklären sich verlängerte Überlebenszeiten nach Kreislaufstillstand, beispielsweise bei Kindern, die ins Eis eingebrochen sind.

Vergleichbar der Schnee- und Lawinenrettung muß daher der Grundsatz beachtet werden, daß bei unterkühlten Patienten der Tod nicht vorschnell festgestellt werden darf. Mit anderen Worten müssen Reanimationsmaßnahmen unbedingt länger als gewöhnlich durchgeführt werden.

Durch Beachtung einfacher Grundregeln kann der Ersthelfer entscheidend dazu beitragen, daß eine effiziente Hilfe für das Ertrinkungsopfer rasch in Gang kommt:

1. Achte auf angemessenen Selbstschutz (z.B. bei starker Strömung)!

2. Veranlassen Sie eine qualifizierte Notfallmeldung, insbesondere mit präziser Angabe des Notfallortes.

3. Überprüfen Sie unverzüglich die beiden vordringlichen Vitalfunktionen des Ertrinkungsopfers:

 

*Atmung:

Mit Hilfe des Esmarch-Handgriffes werden die oberen Atemwege offengehalten; durch gleichzeitige Öffnung des Mundes kann man sehen, ob etwa Erbrochenes im Rachen den Atemweg verlegt und entsprechend entfernt werden muß. Mit Hilfe des über Mund und Nase des Patienten geneigten Ohres wird versucht, evtl. noch vorhandene Eigenatmung zu hören bzw. zu fühlen.

 

*Herz-Kreislauf:

Zeitgleich mit den Maßnahmen zur Überprüfung der Atmung wird an der A. carotis der Puls gefühlt. Dies kann - vor allem bei Bradykardie und Unterkühlung - schwierig sein; es wird empfohlen, im Zweifelsfall bis zu maximal 1 Minute konsequent nach sog. "zentralen" Pulsen (A. carotis, A. femoralis) zu suchen.

4. Ergibt der Erstbefund einen Atem- und Kreislaufstillstand ( = zentrale Pulslosigkeit), so müssen unverzüglich Maßnahmen der kardio-pulmonalen Reanimation begonnen werden.

5. Sind Puls und Atmung erhalten, so muß durch geeignete Lagerung (insbesondere stabile Seitenlage) eine weitere Aspiration verhindert werden.

6. Das wichtigste Notfallmedikament für das Ertrinkungsopfer ist Sauerstoff! Sofern nach den Umständen irgendmöglich, sollte man daher versuchen, so früh wie möglich Sauerstoff zu organisieren (z.B. nahegelegene Wasserwacht).

 

Therapeutische Ziele

In jedem Fall einer respiratorischen Beeinträchtigung im Rahmen des Ertrinkens oder Beinahe-Ertrinkens, auch bei Verdacht oder unklarer Situation, ist neben der großzügigen Gabe von Sauerstoff notärztlich zu prüfen, ob die Indikation zur frühzeitigen endotrachealen Intubation und Beatmung mit positiv-endexspiratorischem Druck (PEEP) gegeben ist. Therapeutische Ziele sind zum einen die Bekämpfung einer akuten Hypoxie, zum anderen sollen die pulmonalen Aspirationsfolgen einschließlich einer sekundären Verschlechterung der Lungenfunktion so gering wie möglich gehalten werden.

Auch scheinbar beschwerdefreie Patienten nach Beinahe-Ertrinken bedürfen der stationären Einweisung und Beobachtung unter Klinikbedingungen, um eine sekundäre Verschlechterung der Lungenfunktion rechtzeitig zu erkennen.

Kardiopulmonale Reanimationsmaßnahmen folgen den allgemein gültigen Richtlinien unter Beachtung der in aller Regel vorliegenden Hypothermie.

 

Erste Hilfe ist entscheidend

Zurück zum einleitenden Ertrinkungsunfall des 12jährigen Mädchens. Die notärztliche Versorgung beginnt mit sofortiger endotrachealer Intubation. Mehrmaliges tracheales Absaugen fördert reichlich Aspirat. Es beginnt eine kontrollierte Beatmung mit 100% Sauerstoff. Wegen des aufgetriebenen Abdomens entschließt sich der Notarzt - als fakultative Einzelfallmaßnahme - zum Legen einer Magensonde, über die große Mengen an Wasser, Mageninhalt und Luft entleert werden. Ebenfalls als präklinisch fakultative Maßnahme erfolgt die Gabe von 40 mg Furosemid zur forcierten Diurese bei Verdacht auf Hämolyse infolge des Süßwasser-Ertrinkens.

In der Klinik folgt eine mehrtägige Intensiv- und insbesondere differenzierte Beatmungstherapie. Darunter bessert sich der pulmonale Befund zusehends, bei nachlassender medikamentöser Sedierung klart das Mädchen schrittweise auf. Es kann letztlich 5 Tage nach dem Unfall mit neurologischer Restitutio ad integrum auf Normalstation verlegt werden.

Selbstkritisch anzumerken bleibt, daß das geschilderte Behandlungsergebnis - vor allem in neurologischer Hinsicht - als ausgesprochen günstig bezeichnet werden muß. Festzuhalten bleibt aber auch, daß der Ausgangspunkt für einen solchen Therapieerfolg grundsätzlich in den richtigen Maßnahmen der Ersthelfer zu sehen ist.

Mein Studienort

Medizinstudenten berichten aus ihren Unistädten

Werde Lokalredakteur Die Unistädte auf Google Maps
Medizin im Ausland

Erfahrungsberichte und Tipps aus über 100 Ländern

Erfahrungsbericht schreiben Auslands-Infopakete
Cookie-Einstellungen