• Kasuistik
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  • Yen-Ying Wu-Brückner, Torben Brückner
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  • 27.01.2012

Notfall: Obere gastrointestinale Blutung

Die obere gastrointestinale Blutung ist der häufigste Notfall in der Gastroenterologie. Grund genug, sich Alarmzeichen und Therapie genau einzuprägen. Aber Vorsicht: Die wenigsten Fälle verlaufen wie im Lehrbuch - denn auch bei GI-Blutungen stimmen Schein und Sein nicht immer überein.

 

Helicobacter pylori - Foto: J. Carr CDC

 

Heute ist Kais* erster Tag als Arzt in der internistischen Notaufnahme. Seit Wochen weiß er, dass dieser Tag kommen wird. Trotzdem hat er ein flaues Gefühl im Magen. Er hat nicht einmal gefrühstückt. "Ich glaube, ich weiß gar nichts", seufzt er, als die Schleusen der Notaufnahme sich öffnen. Seine Kollegin Stephanie versucht ihn aufzumuntern: "Verlass dich einfach darauf, was dir dein Bauch sagt ... und der des Patienten", rät ihm die erfahrene Assistenzärztin. Auf einer Trage schieben zwei Rettungsassistenten und der Notarzt eine ältere Dame mit Brechtüte herein. Die Übergabe ist klar und knapp: "Die 80-jährige Frau Malaga kommt aus dem Heim. Marcumar-Patientin bei Vorhofflimmern, wirkt verwirrt, wohl dement. Seit heute Morgen wiederholt Kaffeesatzerbrechen. Puls liegt bei 120, Blutdruck 90/50 mmHg, Verdacht auf obere Gastrointestinalblutung."

Stephanie übernimmt routiniert und erklärt Kai, wie sie weiter vorgehen: "Wir schließen sie an den Monitor an, legen noch einen zweiten Zugang, geben ihr eine Ringer-Infusion und kreuzen zwei Erythrozytenkonzentrate. Außerdem müssen wir den Gerinnungshemmer mit Vitamin K antagonisieren, gib doch schon mal eine Ampulle Konakion. Vielleicht braucht sie auch noch Gerinnungsfaktoren." Stephanie versichert der Patientin, dass sie sich keine Sorgen machen braucht, und palpiert vorsichtig ihr Abdomen. Frau Malaga möchte etwas sagen, erbricht dann aber plötzlich schwarze Flüssigkeit. In diesem Moment ruft die Aufnahmeschwester von der anderen Seite: "Wir haben hier noch eine Patientin ... " Die Ärztin blickt zu ihrem Kollegen. "Kannst du das da drüben übernehmen?" Kai nickt, auch wenn er lieber mehr vom akuten Notfall lernen würde.

 

Nur eine kleine Gastroenteritis ...

Am Aufnahmetresen steht eine sehr blasse, junge Frau, die Kai flüchtig vom Sehen kennt - sie ist Famulantin in der Gynäkologie. "Ich habe mir gestern eine Gastroenteritis eingefangen", erklärt sie ihm. "Etwas für die Übelkeit hatten die Schwestern oben auf der Station. Könntest du mir noch was für den Durchfall geben? Dann geh ich gleich wieder." Kai überlegt kurz, welche Medikamente geeignet sind. "Wir nehmen erst mal Blut ab, messen die Vitalzeichen, und ich untersuche den Bauch, ja?" Bis alles fertig ist, will er schnell mit Stephanie reden. Die Studentin ist nicht begeistert über so viel Fürsorge. "Ich habe eigentlich gar keine Zeit, muss noch für eine Nachprüfung lernen", sagt sie. "Dieser ganze Stress bringt mich noch um - Studium, Prüfungen, und die Famulatur ist auch anstrengender, als ich dachte." Vorerkrankungen verneint sie, nur den Blinddarm sei sie mit elf Jahren losgeworden. Allerdings nimmt sie wegen des Stresses seit einem Jahr den Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Citalopram und seit ein paar Tagen auch Azetylsalizylsäure (ASS) gegen ihre Kopf- und Bauchschmerzen. "Ich hänge eine Infusion an, dein Blutdruck ist gerade mal bei 100/60 mmHg", erklärt Kai und wünscht sich, er wäre wieder im PJ, als er jederzeit einen Arzt fragen konnte, wenn er nicht weiterwusste.

 

Notfall aus der Nase

Im großen Untersuchungsraum liest Stephanie gerade die Laborwerte durch. "Hämoglobin 12,8 g/dl, Hämatokrit 38% - beides noch im Referenzbereich. Wir können gleich eine Gastroskopie machen." Da ertönt leise die Stimme von Frau Malaga: "Eine Magenspiegelung? Warum denn das?" Die Assistenzärztin dreht sich zur alten Dame um, die dank der Infusion nun wieder etwas rosiger aussieht. "Weil Sie aus dem Magen bluten!" Doch Frau Malaga schüttelt den Kopf: "Ich will aber nicht!" Am Schrank mit den Infusionen denkt sich Kai: Die Arme, versteht bei ihrer Demenz nicht, worum es geht. Er lässt beinahe die Ringerlösung fallen, als sie fortfährt: "Eine Gastro ist nicht nötig, ich habe keine obere GI-Blutung, sondern Nasenbluten! Liebe Frau Doktor, ich war über 50 Jahre Krankenschwester, ich weiß, wovon ich spreche. Heute Morgen bin ich mit Nasenbluten aufgewacht und habe reichlich Blut verschluckt. Aber mir hört ja niemand zu. Alles muss so schnell gehen heutzutage." Verdutzt erwidert Stephanie: "Die Spiegelung sollten wir vielleicht trotzdem machen, es könnte ja doch eine GI-Blutung da sein. Ihre Vitalzeichen ..." Die 80-Jährige winkt ab: "Ich habe gestern vergessen, meine Betablocker einzunehmen, deshalb bin ich so tachykard. Und der Blutdruck ist immer so. Bin ja kein junges Mädel mehr."

 

Ernste Blutung statt harmloser "Itis"

Kai fällt seine Patientin wieder ein. Sicher sind ihre Blutwerte jetzt auch fertig. Er klickt ihr Labor an und wird blass: Sie hat nur noch ein Hämoglobin von 7 g/dl. Plötzlich ertönt ein Würgen aus dem anderen Untersuchungsraum. Sie finden die Famulatin vornübergebeugt auf der Untersuchungsliege, vor ihr eine große Lache mit schwarzem Erbrochenem. "Auch Nasenbluten?", ruft Stephanie und drückt eine Taste auf dem Monitor, um den Blutdruck neu zu messen. "Nein, Gastroenteritis", antwortet Kai. Aber es ist unübersehbar, dass aus der vermeintlich harmlosen "Itis" nun ein Kaffesatzerbrechen mit starkem Verdacht auf eine obere gastrointestinale Blutung geworden ist. Eine Schwester schaut in den Raum: "Die Endoskopie ruft wegen Frau Malaga an. Soll ich absagen?" Stephanie schüttelt den Kopf. "Wir kommen, aber mit einer anderen Patientin." Sie sieht Kai an, der herunterrasselt: "Zweiter Zugang, Infusionen, Blut kreuzen, oder?" Stephanie nickt: "Genau. Und wenn sie stabil ist, begleitest du sie zur Gastro."

 

Antibiose mit Hintergedanken

Eine Stunde später sitzt Kai mit dem Befundzettel und den Gastroskopiebildern wieder in der Notaufnahme. Die Famulantin liegt nun auf der Überwachungsstation, und der junge Arzt muss eine ganze Menge neues Wissen verdauen. Unter anderem konnte er sich nicht erklären, warum ihn der Endoskopiearzt fragte, ob sie der Patientin schon das Antibiotikum Erythromycin gegeben hätten. Aber Stephanies Erklärung leuchtet ihm ein: Bei Notfallgastroskopien gibt man in der Regel zum Protonenpumpenhemmer gegen die Magensäure noch 250 mg Erythromycin i.v. Dabei nutzt man eine Nebenwirkung dieses Antibiotikums: Es regt die Darmmotilität an. Denn sind noch Speisereste im Magen, ist die Gastroskopie erschwert. Kai bläut sich deshalb ein, immer jeden Patienten zu fragen, ob er etwas gegessen hat - wenn alles nicht so dringend ist, verschiebt man die Untersuchung dann lieber auf später.

In Gedanken wiederholt Kai noch einmal, woran man festmacht, ob eine Gastroskopie wirklich dringend ist. Die wichtigsten Kriterien sind die Vitalzeichen: Ist der Blutdruck niedrig und rast der Puls, sollte man den Patienten rasch stabilisieren und möglichst bald gastroskopieren. Sind diese Werte gut, kann die Untersuchung auch mal bis zum nächsten Tag warten. Vorsicht mit unauffälligen Hämoglobin- oder Hämatokrit-Werten! Die können in die Irre führen: Bei rascherem Blutverlust kann es Stunden dauern, bis das Blutvolumen mit Flüssigkeit aus dem Extravasalraum angefüllt ist. Deshalb sollte man die Werte regelmäßig kontrollieren. Bei einem Hämoglobin von unter 10 g/dl oder bei einem Abfall um mehr als 2 g/dl muss eine rasche Spiegelung erfolgen.

 

Woher kommt das Blut?

Was Kai sich immer schon gut merken konnte, sind die Überlegungen zu den unterschiedlichen Blutungslokalisationen: Wenn der Patient helles Blut erbricht, ist eine Ösophagusvarizenblutung, meist bei Leberzirrhose, oder eine Mallory-Weiss-Läsion, also ein longitudinaler Schleimhautriss der Speiseröhre, wahrscheinlich. Vermischt sich Blut mit Magensäure, wird es schwarz. Das kann zwar auch bei Nasenbluten passieren, doch viel wahrscheinlicher ist ein Ulkus im Magen oder Dünndarm. Ein weiterer Anhalt ist schwarzer Stuhl (Teerstuhl). Setzt der Patient helles Blut ab, ist eine untere GI-Blutung wahrscheinlicher; ganz ausgeschlossen ist die obere Lokalisation aber nicht, denn bei einer heftigen Magenblutung kann auch helles Blut auftreten.
Die Grenze zwischen oberer und unterer GI-Blutung liegt am Treitz-Band, am Übergang vom Duodenum ins Jejunum. Bei Verdacht auf eine GI-Blutung sollte man immer erst eine Gastroskopie machen, denn obere Blutungen sind meist lebensbedrohlicher. Die unteren limitieren sich meist von selbst. Zudem muss der Patient für eine gute Koloskopie ausreichend abführen, sonst sieht man nichts.

 

ASS und SSRI - gefährliche Gefährten

"Na, was hatte unsere Famulantin für eine Blutung?" Stephanie schreckt Kai aus seinen Gedanken. "Forest Ib", sprudelt es aus ihm heraus (Tabelle, S. 53). "Ich bin froh, dass ich überhaupt etwas erkannt habe. Überall im Magen war Blut." Kai erzählt, wie der Oberarzt schließlich zwei Stellen mit aktiver Sickerblutung fand, lokal Adrenalin spritzte und Clips setzte. Wäre es eine Ösophagusvarizenblutung gewesen, hätte er eine Gummibandligatur gemacht und i.v. Terlipressin gespritzt, um den Pfortaderdruck zu senken.

Auf der Überwachungsstation läuft bei der Studentin jetzt zur Säurehemmung ein Perfusor mit Protonenpumpenhemmer. So ist die Fibrinolyse ungestört, und der neu gebildete Blutkoagel wird nicht ständig gereizt. Bei sehr schlechten Vitalzeichen und niedrigem Hämoglobin würde sie auch Erythrozytenkonzentrate bekommen. Wegen der Nebenwirkungen, etwa allergischen Reaktionen, gibt man diese jedoch nicht grundsätzlich. Eine weitere mögliche Therapie wäre eine Helicobacter-Pylori-Eradikation mittels Antibiotika (Kasten): Diesen Keim findet man bei mehr als der Hälfte aller oberen GI-Blutungen, besonders im Duodenum. Blutungsrezidive kann man so von zehn Prozent auf ein Prozent drücken. Erneute Blutungen treten gern innerhalb der nächsten drei Tage auf. Bei ständigen Rezidiven oder endoskopisch nicht zu stoppender Blutung müsste man sogar an eine Magenteilresektion denken.

Stephanie seufzt: "Ich hoffe, künftig lässt sie die Finger von Zigaretten und Alkohol. Sobald es ihr besser geht, sollten wir ihr unbedingt erklären, dass sie ihr Risiko für eine GI-Blutung mit der Kombination ASS und SSRI auf das Neunfache erhöht. Dass schon nichtsteroidale Antiphlogistika allein Gastrointestinalulzera verursachen können, müsste sie als Medizinstudentin eigentlich wissen. Eine gute Therapie wäre bestimmt auch, ihre Nachprüfung zu verschieben. Der Magen ist eben schon ein sehr sensibles Organ ..." Das erinnert Kai an seinen eigenen Bauch. Erfreut stellt er fest, dass das flaue Gefühl endlich weg ist. Dafür hat er jetzt Hunger wie ein Bär.

*Name von der Redaktion geändert

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