- Fachgebietsreportage
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- Dr. med. Christian Fleischhauer
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- 04.12.2014
Nur Retten ist schöner - Hospitation auf dem Rettungshubschrauber Christoph 61
Notärzte haben ohnehin schon eine Art Heldenimage. Kommen sie dann auch noch mit Hubschraubern daher, steht man innerlich stramm vor so viel mutigem Einsatz für die Menschheit. Dr. Christian Fleischhauer hat auf einem „Christoph“ hospitiert – und beschreibt Vorteile und Perspektiven dieses „schnellsten“ medizinischen Fachs.
Hubschraubereinsatz, Foto: Christian Fleischhauer
Es ist 7.00 Uhr. Über Leipzig geht die Sonne auf. Für das Team des Rettungshubschraubers Christoph 61* beginnt der Dienst – und für mich ein spannender Tag! Heute habe ich die ersten Rettungseinsätze für meine Weiterbildung zum Notarzt. Von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang werden wir mit Christoph 61 in Einsatzbereitschaft sein. Unsere Basis befindet sich im Norden von Leipzig. Zum Einsatzgebiet gehören neben den Städten Leipzig und Halle die Autobahnen A9 und A14 sowie eine Fläche von bis zu 70 km rund um die Station. Da der Hubschrauber so ein großes Gebiet abdeckt, ist das Spektrum der Notfälle vielseitig. Brenzlige Einsätze oder schwere Autobahnunfälle sind nicht selten.
Bevor es losgeht, gibt es erst einmal ein ordentliches Frühstück. Die Kaffeemaschine zischt, frische Brötchen werden gereicht. Der „Retteralltag“ beginnt gemütlich – bis schrill der Funkmeldeempfänger ertönt. „Patientin in Notarkanzlei nicht ansprechbar“, heißt die Meldung. Binnen zwei Minuten sind wir in der Luft. Mit im Einsatz sind Rettungsassistentin Simone Rothe, Pilot Michael Rost und Notarzt Dr. Tomas Gosse.
Meine Gedanken gehen zur Patientin. Wird unser erster Notfall gleich eine Reanimation sein? Nach fünf Minuten Flug sind wir über dem nahe gelegenen Delitzsch. Weil direkt am Einsatzort kein Landeplatz ist, gehen wir auf einem Hof runter. Von dort bringt uns ein Feuerwehrfahrzeug mit Blaulicht und Martinshorn zum Einsatzort. Trotz des „Umstiegs“ sind wir nur wenige Minuten nach dem Alarm in der Kanzlei.
Rettungsflug, Foto: Christian Fleischhauer
Große Augen gucken uns an, als wir hineinstürmen. Bei der Patientin angekommen, erwartet uns eine Überraschung: Der vermeintlich schwer kranken Frau geht es schon deutlich besser. Wahrscheinlich hatte sie durch eine vasovagale Synkope kurzzeitig das Bewusstsein verloren. Zum Glück hat sie sich beim Sturz nicht verletzt. Es besteht nicht einmal eine Erinnerungslücke. Die Rettungsassistenten des ebenfalls alarmierten Rettungswagens messen Blutdruck, EKG und Blutzucker. Alle Befunde sind unauffällig. Mit der Empfehlung, sich heute noch bei ihrem Hausarzt vorzustellen, verlassen wir den Einsatzort und fliegen zurück zu Basis.
Achtung infektiös: Das Rettervirus
Auf dem Rückflug zur Station erzählt mir Dr. Gosse, wie er zur Notfallmedizin kam: Er hat schon im Studium als Rettungssanitäter erste Erfahrungen gesammelt. Als junger Arzt begann er dann seine Weiterbildung zum Anästhesisten und „machte“ nebenher seinen Notarzt. Dieser Weg ist typisch: Meist sind es Anästhesisten, die die Zusatzbezeichnung Notfallmedizin erwerben. „Oft haben diese im Alltag einfach am häufigsten mit Notfallsituationen zu tun“, erklärt Dr. Gosse. „Daneben sind aber auch Kollegen aus anderen Fachrichtungen in der Notfallmedizin vertreten. Neben den Anästhesisten nehmen bei uns vor allem Chirurgen und Internisten regelmäßig am Notarztdienst teil.“
Hubschraubertransport, Foto: Christian Fleischhauer
Dr. Gosse fliegt nicht nur Einsätze. Oft ist er auch mit dem Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) unterwegs. Im Gegensatz zum Rettungshubschrauber (RTH), der von Sonnenauf- bis -untergang fliegt, dauert ein bodengebundener Notarztdienst 24 Stunden. „Bei uns ist es zum Glück so, dass wir in einem Dienst ausschließlich als Notarzt arbeiten“, sagt Dr. Gosse. „In anderen Kliniken arbeiten die Notärzte am Krankenbett und werden durch eine Einsatzmeldung plötzlich aus dem Stationsalltag gerissen.“ Sie müssen dann von einem Moment auf den anderen alles stehen und liegen lassen und die Notarztjacke überstreifen. So eine Konstellation ist natürlich extrem stressig. Denn egal mit was man sich gerade beschäftigt, meist kann die Arbeit nicht einfach so schnell unterbrochen werden!
Was hat dieses Fach, dass Ärzte auch unter manchmal widrigen Umständen gerne in ihm arbeiten? Ein wichtiger Aspekt ist der abwechslungsreiche Alltag: Als Notarzt bewegt man sich nicht den ganzen Tag einen Klinikflur rauf und runter. Man geht raus und behandelt die Patienten dort, wo sie leben. Ein weiterer Vorzug dieses Faches ist, dass man Krankheiten sehr schnell behandelt – und entsprechend schnell auch Effekte erzielt. Vielen jungen Medizinern, die Notarzt werden, ist wichtig, dass sie hier früher als in anderen Fächern selbstständig arbeiten und Entscheidungen treffen können.
Manche genießen auch den Nervenkitzel, der in der Notfallmedizin immer mit dabei ist: Bricht man zu einem Einsatz auf, weiß man nie hundertprozentig, was einen vor Ort erwartet. Und bei den meisten ist es am ehesten eine Melange aus allen diesen Gründen. „Der Rettungsdienst ist fast wie ein Virus, das dich nie wieder richtig los lässt!“, erklärt Dr. Gosse. Er ist jetzt seit 14 Jahren Notarzt – und die Arbeit macht ihm immer noch so viel Spaß wie am ersten Tag.
Der Weg zum Arzt für schnelle Fälle
Viele Medizinstudenten entscheiden sich erst spät für ein Fach, auf das sie sich spezialisieren möchten. Bei „Notfall-Fans“ ist das anders: Für viele, die sich für Rettungsmedizin begeistern, ist die Aussicht, später als Notarzt arbeiten zu können, der Hauptgrund, warum sie überhaupt Medizin studieren. Der Weg zu diesem Ziel ist in der Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer (BÄK) fixiert: Um die Zusatzbezeichnung „Notfallmedizin“ zu erwerben, muss man nach der Approbation als Arzt mindestens 24 Monate in der stationären Patientenversorgung gearbeitet haben – davon wenigstens sechs Monate in der Anästhesiologie, Intensivmedizin oder in der Notfallaufnahme.
Ein weiterer Abschnitt der Ausbildung ist ein 80-stündiger Kurs in allgemeiner und spezieller Notfallbehandlung. In diesem „Notarzt-Kurs“ werden neben rechtlichen und organisatorischen Grundlagen die wichtigsten Krankheiten und Notfallmedikamente behandelt. Nach Abschluss des Kurses steht noch die Hospitation von 50 Notarzteinsätzen an, die in Begleitung eines erfahrenen Notarztes absolviert werden müssen. Möglich sind dabei Einsätze im Notarztwagen, aber auch auf dem Rettungshubschrauber. Danach kann man die Abschlussprüfung vor einer Kommission seiner Landesärztekammer ablegen.
Im Detail können diese Regelungen variieren, denn bisher gibt es weder in den Rettungsdienstgesetzen der Länder noch in den Weiterbildungsordnungen der Landesärztekammern bundesweit einheitliche Anforderungen für Notärzte. So gilt teilweise neben der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin auch noch der Fachkundenachweis Rettungsdienst. Immer wieder wird diskutiert, ob in Deutschland ein Facharzt für Notfallmedizin eingeführt werden sollte. In vielen anderen europäischen Ländern existiert dieser schon seit Jahren. Ein solcher Mediziner wäre kein Konkurrent des im Rettungsdienst tätigen Arztes. Der Facharzt für Notfallmedizin würde in der interdisziplinären Notaufnahme arbeiten und präklinisch bereits versorgte und stabilisierte Patienten adäquat weiter betreuen. Auf diese Weise könnte er das Rettungssystem in Deutschland sinnvoll ergänzen.
Der Patient geht, die Angst kommt …
Nach einer kurzen Kaffeepause sind wir wieder in der Luft. Es geht ins Umland. Eine ältere Dame hat beim Fahrradfahren das Gleichgewicht verloren und ist mit dem Kopf auf einen Bordstein geprallt. Wieder diese Ungewissheit! Was wird uns am Unfallort erwarten? Dr. Gosse bemerkt meine Unruhe und sagt über sein Mikro beruhigend zu mir: „Egal in welche Notfallsituation du als Notarzt kommst, das Wichtigste ist: Versuch immer die Nerven zu bewahren!“
Als wir bei der Patientin ankommen, ist sie ansprechbar, aber benommen. Passanten berichten uns, dass sie nach dem Sturz kurzzeitig bewusstlos war. Sofort macht Dr. Gosse einen Body-Check. Schnell, aber sorgfältig untersucht er jede Körperregion. Vom Kopf abwärts prüft er auf Frakturen und innere Verletzungen. Dabei achtet er vor allem auf den Thorax, das Abdomen und natürlich auf das Becken, über das die Patientin bei einer Fraktur binnen kurzer Zeit sehr viel Blut verlieren könnte.
Einlieferung eines Patienten, Foto: Christian Fleischhauer
Neben einer klaffenden Platzwunde an der rechten Stirn stellt Dr. Gosse keine weiteren äußeren Verletzungen fest. Allerdings fällt uns beiden eine deutliche Pupillendifferenz auf. Damit lautet unsere Verdachtsdiagnose: isoliertes Schädel-Hirn-Trauma mit Verdacht auf intrakranielle Blutung. Zur Sicherheit bekommt die Patientin noch eine Zervikalstütze (Stifneck) angelegt, die die Halswirbel entlasten und so vor weiteren Verletzungen schützen soll. Dann fliegen wir sie in die Notaufnahme der Uniklinik Leipzig. Nach einer Übergabe an den Dienstarzt wird hier sofort die weitere Diagnostik veranlasst – Blutentnahme, EKG und natürlich ein Schädel-CT.
Als die Patientin auf dem Weg ins CT ist, sind wir schon wieder in der Luft. Wie es ihr weiter ergeht, werden wir nicht erfahren. „Das ist einer der Nachteile im Rettungsdienst“, erklärt mir Dr. Gosse auf dem Rückflug. „Der Kontakt zu den Patienten ist kurz. Und danach erfahren wir nur selten, ob unsere erste Diagnose die richtige war.“ Zudem schwingt immer die Angst mit, ob man vielleicht nicht doch etwas übersehen hat. Besonders belastend sind da natürlich die 24-Stunden-Dienste, in denen man eine ganze Reihe von Fällen nacheinander betreuen muss.
„Wahrscheinlich hat jeder Notarzt irgendwann einmal eine Situation, die ihn an seine Grenzen bringt“, erklärt Dr. Gosse. Hilfreich ist, sich klarzumachen: Man kann als Notarzt nicht jede Situation mit Bravour beherrschen. Das wichtigste Ziel in der Notfallmedizin ist, den Patienten zu stabilisieren und transportfähig zu machen. Schafft man das, hat man schon viel erreicht.
Alltagsroutine: Von null auf hundert und zurück
Neben Rettungseinsätzen gehören auch Ambulanz- und Intensivverlegungstransporte zum Spektrum eines Notarztes. Auch für uns ist der nächste Einsatz ein „Sekundäreinsatz“. Wir sollen einen in einem Verkehrsunfall schwer verletzten Patienten aus dem Kreiskrankenhaus Aue in eine neurochirurgische Klinik bringen. Der Verletzte hat nach dem Frontalzusammenstoß ein epidurales Hämatom entwickelt, das schnellstmöglich operativ entlastet werden muss.
Nach 20 Minuten Flug erreichen wir die Klinik. Die ärztlichen Kollegen berichten uns in aller Kürze, aber detailliert, was wir über den Patienten wissen müssen. So muss das in der Notfallmedizin sein: Die Übergaben sollten kernig und präzise erfolgen. Während des Rückflugs sitzt neben Dr. Gosse auch der Rettungsassistent beim Patienten im hinteren Teil des Hubschraubers. Hier könnte er dem Arzt assistieren, wenn der Patient überraschend instabil werden sollte. Doch alles geht gut. Nach gut 30 Minuten landen wir in Leipzig und übergeben den Patienten in die Hände der Fachkollegen.
Zurück in der Basis kommt fast schon Feierabendstimmung auf. Die Sonne neigt sich zum Horizont. Doch dann schellt der Pieper erneut: „Kind von PKW angefahren – Näheres ist nicht bekannt.“ Sofort lassen wir alles stehen und liegen und sprinten zum Helikopter. Als wir in der Luft sind, bemerke ich, dass Dr. Gosse nicht ganz so gelassen ist wie bei den vorherigen Einsätzen. „Kindernotfälle sind niemals Routine“, erklärt er mir.
Binnen Minuten erreichen wir den Einsatzort und verschaffen uns aus der Luft einen ersten Eindruck. Wir sehen zwar eine große Menschenmenge, aber keine verletzte Person. Nach der Landung werden wir von den aufgeregten Eltern empfangen und zu einem kleinen Mädchen gebracht. Das fünfjährige Kind ist beim Kinderfest einer Ferieneinrichtung einem Ball auf die Straße hinterhergerannt. Ein vorbeifahrendes Auto konnte nicht mehr bremsen und erfasste das Kind frontal.
Rettungseinsatz, Foto: Christian Fleischhauer
Sofort spult sich bei Dr. Gosse der immer wiederkehrende Algorithmus aus Anamnese, körperlicher Untersuchung und Diagnostik ab. Nach ein paar Handgriffen und Erheben der Vitalparameter kann er vorerst Entwarnung geben. Offensichtlich hat das kleine Mädchen großes Glück gehabt. Sie scheint nicht schwer verletzt zu sein. Trotzdem bringen wir sie in eine Klinik mit kinderchirurgischer Abteilung. Zwar ist im Moment keine Gefahr erkennbar, eine lebensbedrohliche intrakranielle Blutung kann aber auch erst einige Stunden später symptomatisch werden.
Hubschraubertransport, Foto: Christian Fleischhauer
Wir machen uns auf den Rückflug zum Rettungsstützpunkt. Höchste Zeit, denn mittlerweile ist es dunkel! Aus dem Hubschrauber beobachten wir die zehntausend Lichter des unter uns flutenden Feierabendverkehrs. Der Stress, der da unten jetzt stattfindet, ist für uns ganz weit weg. Der ruhige Flug erscheint mir wie ein Sinnbild für die Notfallmedizin. Der „Retteralltag“ ist ähnlich wie die Fliegerei. Die meiste Zeit ist alles ruhig oder von Routinesituationen geprägt – und dann gerät man plötzlich in Turbulenzen und muss von einem Moment auf den anderen hundert Prozent geben. Wir landen und bremsen auf null Prozent runter.
Der Weg zum Notarzt
Für den Erwerb der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin musst du ...
- 24 Monate in der Klinik gearbeitet haben, davon 6 Monate auf Intensiv, in der Anästhesie oder in der Notfallaufnahme.
- einen 80-stündigen Kurs in allgemeiner und spezieller Notfallmedizin absolvieren („Notarzt-Kurs“).
50 Einsätze im Notarztwagen oder Hubschrauber unter Anleitung eines verantwortlichen Notarztes begleiten.
Linktipps
Auf www.bundesaerztekammer.de finden Sie Übersichten über die für diese Weiterbildung verlangten Qualifikationen.
Infos der Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands (BAND) unter: www.band-online.de
Eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Reanimation, der„notfallartigsten“ aller notärztlichen Maßnahmen, finden Abonnenten unter: www.thieme.de/viamedici/exklusiv/reanimation2/praxis.html