- Kasuistik
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- Ines Elsenhans, Dr. med. Uwe Stedtler
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- 14.08.2014
Tödliches Grün – Colchizin-Vergiftung in suizidaler Absicht
Die Herbstzeitlose gehört zu den gefährlichsten Giftpflanzen in Deutschland. Besonders gemein: Ihre Blätter sehen einer beliebten Speisepflanze zum Verwechseln ähnlich …
Das Colchizin der Herbstzeitlose ist ein Mitosehemmstoff und damit giftig für alle sich teilende Zellen. - Foto: Kirsten Oborny
Was für ein Morgen! Die Sonne blinzelt über den Horizont in einen wolkenlosen Frühlingshimmel. Stationsarzt Tim* schwingt sich auf sein altes Hollandrad und tritt kräftig in die Pedale. In 30 Minuten beginnt die Morgenbesprechung. Zudem hat er Dienst in der Ambulanz. Doch als er am Waldrand entlang fährt, stoppt er kurz. Es duftet herrlich würzig und überall sprießen große saftige Blätter aus dem Boden. Tim hat von Botanik keine Ahnung. Aber das ist bestimmt Bärlauch, oder? Das bringt ihn auf eine Idee: Irgendwann in den nächsten Tagen könnte er davon etwas pflücken und seiner Freundin ein leckeres Bärlauch-Risotto kochen.
In der Klinik angekommen, zieht er sich rasch um und klemmt sich den Ambulanz-Piepser an den Kittel. Kaum hat er sich in die Morgenbesprechung gesetzt – da stört schon der schrille Ton des Piepsers die Runde. Schnell macht Tim sich auf den Weg in die Notaufnahme, wo ihn eine Pflegende gleich abfängt: „In Zimmer 1 sitzt eine Frau, die versucht hat, sich das Leben zu nehmen!“, berichtet die Schwester. „Offenbar hat die irgendwas geschluckt.“ Oje, eine Vergiftung. Das hat Tim gerade noch gefehlt, denn oft schlucken Suizidale in ihrer Verzweiflung einen ganzen Medikamentencocktail und wissen nachher nicht mehr genau, wie viel sie von was zu sich genommen haben. Als er die Zimmertür öffnet, krümmt sich die Frau auf der Untersuchungsliege. Gequält stammelt sie: „Ich wusste es! Dieses Schwein betrügt mich seit Jahren. Gestern Abend habe ich ihn in flagranti erwischt!“ Kaum hat sie den Satz beendet, würgt sie und übergibt sich in die Nierenschale. „Beruhigen Sie sich“, fordert Tim die Frau auf. „Das kann später noch geklärt werden. Jetzt ist wichtig, dass Sie uns sagen, was Sie zu sich genommen haben!“ „Herbstzeitlose!“, stöhnt die Patientin. „Ich hab zwei Knollen davon gegessen und mit Rotwein runtergespült. Die Dinger hab ich immer im Keller, um damit Ratten zu vergiften. Ich dachte, wenn das bei den Viechern funktioniert, klappt das auch bei mir.“ „Und wann war das genau?“, hakt Tim nach. „Gestern Abend so um zehn. Ein paar Stunden später war mir speiübel, seitdem hab ich schreckliche Bauchschmerzen und dieses widerliche Brennen im Hals ...“, erzählt die Patientin. „Und furchtbaren Durchfall“, ergänzt sie und stürmt an Tim vorbei Richtung Toilette.
Resorptionsstopp mit Kohle
Tim hat keinen blassen Schimmer, was der giftige Stoff in Herbstzeitlosen ist und welche Therapieoptionen es gibt. Deshalb ruft er in der Vergiftungs-Informationszentrale (VIZ) an und schildert den Fall. Der Arzt am anderen Ende kann die Sache aufklären: „Der wirksame Inhaltsstoff der Herbstzeitlosen ist der Mitosehemmstoff Colchizin.“ Da fällt bei Tim der Groschen. Den Stoff kennt er gut. Es steckt in geringen Mengen etwa in dem Medikament Colchicum-Dispert®, das zur Behandlung von Gicht-Anfällen verschrieben wird. In größeren Mengen ist es jedoch extrem giftig. Colchizin stört die Ausbildung der Spindelfasern, indem es an freie Mikrotubuli-Untereinheiten bindet und diese so nicht mehr für den Spindelfaseraufbau zur Verfügung stehen. Weil der Spindelapparat fehlt, kommt es nicht zur korrekten äquatorialen Ausrichtung der Chromosomen, wie es in der Metaphase normalerweise der Fall ist. Auch das Aufteilen der Schwesterchromatiden in der Anaphase unterbleibt. Es entstehen nicht lebensfähige Zellen ohne Kern, sowie polyploide Zellen, die ebenfalls absterben. Colchizin ist damit giftig für alle Organe, besonders für diejenigen mit hoher Zellteilungsrate wie die Zellen des Magen-Darm-Trakts oder des Knochenmarks. Deshalb kämpft die Frau auch mit choleraartigem Durchfall und muss ständig erbrechen.
„Gibt‘s gegen Colchizin denn ein Antidot?“, fragt Tim den Arzt vom VIZ. „Nein, darum ist es wichtig, das Gift gründlich zu entfernen, bevor es ins Blut aufgenommen wird. Bei Ihrer Patientin ist eine Magenspülung aber nicht mehr sinnvoll, da die Aufnahme des Giftes bereits etwa elf Stunden her ist und die Patientin mehrmals erbrochen hat. Um im Darm noch verbliebenes Colchizin zu binden, empfehle ich, Aktivkohle in wässriger Suspension zu geben und zwar 0,5 bis 1 g/kg Körpergewicht initial und dann 10 g jede Stunde.“ Wirkprinzip sei die unspezifische Bindung des Gifts an die medizinische Kohle und damit eine verminderte Resorption. Zudem empfiehlt der VIZ-Mitarbeiter, eine Blutprobe ins Labor zu schicken und checken zu lassen, wie viel Colchizin darin enthalten ist.
Worst case: Multiorganversagen
Als die Patientin wieder ins Zimmer kommt, gibt Tim ihr die empfohlene Menge Kohle zu trinken, außerdem Diphenhydramin gegen die Übelkeit und Buscopan gegen die Bauchkrämpfe. Außerdem nimmt er ihr Blut ab und lässt es zur Untersuchung in das empfohlene Labor schicken. Tim nimmt die Frau auf seine Station auf. Weil sie wegen des starken Würgereizes die Kohle nicht im Magen halten kann, veranlasst er, ihr eine Magensonde zu legen, um die Suspension zu verabreichen. Und dann kommt auch schon das Labor: Der Colchizinspiegel liegt zwar „nur“ im hochtherapeutischen Bereich. Es ist aber gut möglich, dass der Maximalspiegel höher war und das Gift zum Teil bereits abgebaut ist. Alles hängt nun davon ab, wie stark das Gift die Körperzellen der Patientin bereits geschädigt hat. Etwa ein bis drei Tage nach einer Colchizin-Vergiftung können multiple Organschäden auftreten: Die Suppression des Knochenmarks führt zur Unterdrückung der Immunabwehr und zu Gerinnungsstörungen. Es drohen Herz-, Nieren- und Leberversagen. Neurologische Konsequenzen können ein Hirnödem, epileptische Anfälle und Lähmungen sein.
Um solche Schäden möglichst früh erkennen zu können, ordnet Tim regelmäßige Laborkontrollen an. Unter anderem: GPT um Leberzellschäden zu erkennen, GOT als allgemeinen Marker für Zelluntergang, Quick um Probleme mit der Gerinnung zu erfassen und Kreatinin als Marker für die Nierenfunktion. Zudem lässt er die Patientin an den EKG-Monitor anschließen und die Ausscheidung überwachen. Würde das Serum-Kreatinin absolut um > 0,3 mg/dl ansteigen und die Urinausscheidung auf < 0,5 ml/kg/h absinken (über sechs Stunden gerechnet), müsste man z. B. eine akute Nierenschädigung vermuten und die Filtrationsfunktion des Organs dann mittels Hämodialyse oder Hämofiltration ersetzen. Überlebt ein Mensch eine schwere Colchizin-Vergiftung, kommt es oft zu Haarausfall. Bis der Betreffende wieder komplett regeneriert ist, können Wochen oder sogar Monate vergehen.
Glück im Unglück
Doch Tims Patientin scheint Glück zu haben. Die Laboruntersuchungen am nächsten Tag zeigen kaum auffällige Befunde – abgesehen von einer erhöhten CK, was ein Hinweis auf einen leichten Muskelschaden ist. Durchfälle hat die Patientin keine mehr. Das brennende Gefühl im Rachen und der Brechreiz bleiben noch, sind einen Tag später aber auch verschwunden. Am dritten Tag ist die Zahl der Thrombozyten im Blut leicht vermindert, die der Erythrozyten ebenfalls. Die Leukozyten, der kritische Parameter bezüglich der Knochenmarkstoxizität bleibt allerdings normal. Nach vier Tagen entlässt Tim die Patientin mit dem Hinweis, nach einer Woche noch mal ein Blutbild machen zu lassen und die Neurologie abzuklären. Zudem empfiehlt er ihr dringend, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Als Tim an diesem Abend am Waldrand vorbeiradelt kommt er endlich dazu, ein paar Büschel von dem Bärlauch zu pflücken, den er schon seit Tagen im Auge hatte. Zuhause angekommen erzählt er seiner Freundin, die im 10. Semester Medizin studiert, von der Patientin, die er heute entlassen hat und wie unglaublich er es findet, dass man sich mit Blumenzwiebeln vergiften kann. „Naja“, antwortet diese. „Das mit den Zwiebeln ist schon besonders. Aber selten sind Colchizin-Vergiftungen nicht. Weißt du nicht, dass in Deutschland jedes Jahr Menschen sterben, weil sie Bärlauch mit Herbstzeitlosen verwechseln?“ Tim macht große Augen. „Echt?“ „Ja klar. Die Blätter sehen recht ähnlich aus – und weißt du, was besonders tückisch ist? Die beiden Pflanzen wachsen sogar an ähnlichen Stellen, zum Beispiel am Waldrand. Es gibt Leute, die pflücken büschelweise Bärlauch – und rupfen dabei zufällig auch ein paar Blätter Herbstzeitlosen ab. Und das kann schon reichen, um sich tödlich zu vergiften!“ Damit schlendert sie in die Küche und macht sich am Kühlschrank zu schaffen. „Und, Schatz?“, ruft sie ihm zu. „Was essen wir heute?“ Tim starrt erschrocken in die Tüte voller wunderbar duftender Blätter. „Ach, weißt du was“, seufzt er, „lass uns ne Pizza bestellen ...“
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* Die Vergiftungskasuistik ist authentisch. Die Rahmenhandlung wurde aus didaktischen Gründen modifiziert.