- Praxisanleitung
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- Yvonne Kollrack
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- 29.06.2010
Die häufigsten Verletzungen beim Fußball
Endlich wieder ein Fußballgroßereignis! Mediziner aller Fachrichtungen und Hierarchiestufen feiern gemeinsam, und endlich haben Internisten und Chirurgen ein gemeinsames Gesprächsthema. Handelt es sich doch um eine (medizinisch) unheilvolle Kontaktsportart.
Tackling, hohes Bein, Blutgrätsche und ihre Folgen
Während der Spiele sind die Stationen ruhig und die Ambulanzen leer, weil alles gebannt vor dem Fernseher sitzt. Angeblich werden die Spieltermine der Deutschen Mannschaft sogar von manchen Kollegen beharrlich bei der Dienstplangestaltung freigekämpft. Und wenn es die fußballbegeisterte Medizinerin dann zum Private oder Public viewing geschafft hat - womit kann sie die 11 Freunde viel mehr beeindrucken, als mit dem fehlerfreien Erklären der Abseitsregel? Indem sie locker die passende Diagnose raushaut, wenn mal wieder einer der Spieler mit schmerzverzehrtem Gesicht auf dem Boden liegt.
Noch schnell in der Zeitlupe den Unfallhergang analysiert und los geht's mit den häufigsten Fußballverletzungen.
Aufwärmen: Zunächst einmal zu den Grundlagen
Interessanterweise ist jede vierte Verletzung eine erneute Verletzung der gleichen in der Vergangenheit schon einmal betroffenen Band,- Gelenk- oder Muskelstruktur. Pro Spiel verletzen sich statistisch zwei Fußballer, und im Wettkampf passieren viermal so häufig Verletzungen wie im Training. Dabei ist eine Verletzung so definiert, dass das Spiel unter- oder abgebrochen werden muss.
Die Hälfte aller Verletzungen entstehen mit "Hilfe" eines Gegenspielers - ob unabsichtlich oder als Foul in Form einer Blutgrätsche sei dahingestellt, und die Entscheidung des Zuschauers darüber hängt vom Spielstand und dem Biergehalt ab.
Bei den Verletzungsarten führen Prellungen mit 50% vor Verstauchungen mit 20% und Muskelverletzungen mit 10%. Unterscheidet man die Verletzungen nach Körperregionen, so ist die untere Extremität am häufigsten betroffen, hier dominieren Spunggelenksverletzungen vor Kniegelenkstraumata. Am dritthäufigsten ist der Kopf des Spielers betroffen, wobei keine Unterschiede gemacht werden, ob es eher Möller/Matthäus/Basler-Modell ist oder ein intellektuelles Exemplar à la Lahm, Scholl oder Ballack.
Schwerwiegende Verletzungen der Wirbelsäule und hier besonders der HWS sind selten, können aber dramatische Auswirkungen haben.
So genug aufgewärmt, jetzt geht das Spiel los!
1) Anstoß: Das Sprunggelenk und DIE Syndesmose
Das Sprunggelenk ist der Literatur zufolge das beim Fußball am häufigsten verletzte Gelenk. Ursache dafür sind Distorsionstraumata, vor allem Inversions-Rotationsmechanismen bei fixiertem Fuß oder beim Umknicken in der Bewegung. Der Außenbandapparat ist hier besonderem Stress unterworfen, meistens als Ruptur des Ligamentum talofibulare anterius und des Ligamentum calcaneo-fibulare. Drei-Band-Rupturen sind selten. Bei medialen Bandverletzungen liegt ein Pronations-Rotationstrauma zugrunde, ist dieses von höherer Gewalt, führt es zur Außenknöchelfraktur der Klassifikation Weber B und C. Am besten kann mittels der Lauge-Hansen Klassifikation vom Unfallmechanismus auf das Verletzungsmuster- und ausmaß geschlossen werden.
Klassifikation nach Lauge-Hansen: Je nach Richtungder einwirkenden Gewalt werden 4 Frakturtypen unterschieden. Der Supinations-Außenrotations-Bruch tritt am häufigsten auf. Die Kenntnis der Frakturentstehung ist beim Repositionsmanöver und der anschließenden Gipsruhigstellung hilfreich.
Unser Kapitän Michael Ballack erlitt dummerweise vor der WM 2010 in Südafrika einen Innenbandriss und eine Ruptur der vorderen Syndesmose. Den Begriff Syndesmose hatte bis dahin außer Fachpersonal niemand gehört - doch nun wollte jeder Fußballfan von seinem medizinisch vorgebildeten Mannschaftskollegen, und wenn´s ein Dermatologe war, eine genaue Erklärung.
Bei in Pronation fixiertem Fuß kommt es mit zunehmender Auswärtsdrehung zu einer Drehung und Kippung des Talus in der engen Knöchelgabel. Bei Herrn Ballack drückte nun zunächst der Talus gegen den Innenknöchel - das Innenband gab nach und riss - und anschließend drehte sich der Talus weiter und spannte vordere Syndesmose so lange, bis auch sie riss. Zum Glück ließ zu diesem Zeitpunkt der Gegner Boateng von Michael Ballack ab und der Talus entspannte sich wieder. Sonst hätte es bei weiterem Stress des Talus auch für die Fibula und die hintere Syndesmose dumm geendet.
Die Therapie frischer Bandverletzungen sollte zunächst konservativ erfolgen. Studien haben gezeigt, dass eine operative Therapie keine Vorteile hinsichtlich Heilungsverlauf und Stabilität aufweist. Kommt es trotz adäquater, in der Regel sechswöchiger Ruhigstellung in einer entsprechenden Orthese unter Vollbelastung zur Bandinstabilität, kann eine Bandplastik z.B. mittels der Peroneus brevis Sehne erfolgen. Weber B und C sowie dislozierte Weber A und Innenknöchelfrakturen sollten operativ versorgt werden.
Das Sprunggelenk eines ambitionierten Fußballers ist auch gerne Opfer chronischer Schäden. Wiederholte Mikroschädigungen führen zu einer Entzündungsrektion der vorderen Gelenkkapsel des OSG. Auf dem seitlichen Röntgenbild lasssen sich dann osteophytäre Ausziehungen an der Tibiavorderkante und der ventralen Talusfläche erkennen, bisweilen auch freie Verkalkungen. Wer das weiß, kann seine Patienten damit beeindrucken und ihm mit einem Blick auf den Röntgenschirm auf den Kopf zusagen, dass er in seinem Leben wohl viel Fußball gespielt hat.
2) Erste Halbzeit: Das Kniegelenk - immer aufs Kreuzband?
Das Kniegelenk ist beim Fussball eher „unhappy“ – denn Distorsions-Rotationstraumata wie ein Flexions-Valgus-Rotationsmechanismus bei fixiertem Fuss schaden Meniskus, Seitenbändern und Kreuzbändern und führen in ihrer schlimmsten Ausprägung zur sogenannaten "unhappy triad" - Innenmeniskusschaden, Innenbandläsion und Ruptur des vorderen Kreuzbandes. Zwar ist das Kniegelenk "nur" am zweithäufigsten betroffen, aber dafür oft mit längerwierigem Ausfall des Spielers als bei Sprunggelenksverletzungen.
Meistens ist das vordere Kreuzband gerissen und während der Nationaltorwart der 80iger Jahre, Toni Schumacher, jahrelang seine Oberschenkelmuskulatur derart aufbaute, dass er ohne Kreuzband sein Knie stabilisieren konnte, geht nach der verlorenen WM 1986 der Trend zum Kreuzbandersatz - nicht nur beim Torwart.
Die frische Kreuzbandruptur zeigt sich mit einem raschen Kniegelenkserguss, Bewegungseinschränkung und Instabilitätsgefühl. Eine primäre Kreuzbandnaht zeigt schlechte Ergebnisse und gilt als obsolet, Goldstandard ist der Kreuzbandersatz mittel mittlerem Patellasehnendrittel oder Semitendinosus/Gracilis-Sehne.
Streit besteht unter Experten um den optimalen Operationszeitpunkt - sofort nach Verletzung zeitgleich mit Versorgung eines begleitenden Meniskusschadens oder nach Abschwellen und "Beruhigung" des Kniegelenkes 2-3 Monate später. Da diese Wartezeit und auch die optimale Rehabilitationszeit von 9 Monaten vom Profi oft nicht eingehalten werden wollen oder können, muss es meist schneller gehen, und es wird umgehend ein Flug zu einem Kreuzbandpapst in den USA gebucht.
Meniskusverletzungen können Folge eines akuten Ereignisses oder degenerative Genese sein. Klinisch zeigen sich Schmerzen in Gelenkspalthöhe, rezidivierende Gelenkergüsse oder Einklemmungsphänomene. Letztere sollten rasch operativ behoben werden. Frische basisnahe Rupturen sollten frühzeitig durch Naht versorgt werden, was meistens arthroskopisch minimal-invasiv möglich ist. Da Profi-Fußballer jedoch unter hohen Zeitdruck stehen, kann die notwendige längere Entlastungsphase oft nicht toleriert werden und eine (Teil)resektion des Meniskus wird vorgezogen. Nach Karriereende muss der Spieler vor allem bei einer Komplettresektion allerdings mit der rascheren Entwicklung einer Gonarthrose rechnen.
Das gleiche Problem stellt sich in der Behandlung von Knorpelverletzungen, sogenannten flake fractures. Hier ist zwar eine Knorpel-Knochentransplantation oder eine autologe Chondrozytentransplantation möglich, dies bedeutet aber eine Spielpause von bis zu einem Jahr.
3) Zweite Halbzeit: Der Kopf(ball)
Sind Fußballer dumm, weil sie dauernd repetetive Mikro-Gehrinerschütterungen beim Kopfball erleiden? Einige Studien gehen dem nach.
Auf jeden Fall ist die Commotio cerebri eine der häufigeren Verletzungen beim Fußball. Ursache sind weniger die Annahme des Balles mit dem Kopf als Anprälle gegen selbigen des Gegners oder dessen Ellbogen. Bisweilen konzentriert sich der Spieler auch so auf den Ball, dass er alle Vorsicht bei der Landung nach dem Kopfball vergisst.
Ein Spieler mit Zeichen einer Gehirnerschütterung oder nur dem Verdacht darauf sollte sofort ausgewechselt werden.
Spektakulär machen sich auf dem Bildschirm Wundversorgungen von Platzwunden am Spielfeldrand. Da Nähen zu lange dauert, wird geklammert und das auch noch ohne Betäubung. Voraussetzung zum Weiterspielen: Die Wunde muss trocken und dicht sein - in Zeiten von HIV werden wir keine Spieler mehr mit blutverschmiertem Gesicht über dem Platz rennen sehen.
4) Verlängerung: Muskeln und ihre Fasern
Fast ein Drittel aller Fußballverletzungen sind Muskelverletzungen. Die einfachste Variante ist der gemeine Muskelkater, die gröbste der komplette Muskelriss. Ein trainierter und gut aufgewärmter Muskel ist weniger verletzungsanfällig als ein ermüdeter oder "kalter" Muskel. Auch der fußballtypische Leistenschmerz - mit immerhin 5% aller fußballspezifischen Gesundheitsprobleme fußt auf einem Muskelproblem und stellt eine Ansatztendinose des Musculus ileopsoas, Musculus adductor oder rectus femoris dar.
Von einer direkten Muskelquetschung durch Gegnereinwirkung (Tritt) ist meist der Musculus quadriceps betroffen, von einer Überdehnung - Muskelfaserriss - meistens der Hamstring. In beiden Fällen kommt es zu Einblutungen, die sich bei Fortsetzung des Spiels bis zu einer kompartmentwürdigen Blutung verschlimmern können. Daher ist Ruhe angesagt - oder im englischsprachigen Raum RICE: rest - ice- compression- elevation.
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel: Exoten
Unvergessen: Klinsmanns Kieferbruch in der englischen Premier League 1998 vor der WM . Zitat der Teamkameraden:" Wir dachten, er stirbt"… Zitat des Physiotherapeuten: "Sein Kieferknochen steckte im Mund"… Im Hospital allerdings wurde "lediglich" ein Haarriss im Unterkiefer diagnostiziert. Was für eine Gelegenheit für den ärztlichen Fußballfan, da seinen Senf zuzugeben!
Und nun viel Spaß bei der WM!
Die Autorin Dr.med. Yvonne Kollrack ist Fachärztin für Chirurgie/Unfallchirurgie/Notfallmedizin und Oberärztin Abteilung Unfallchirurgie und Orthopädische Chirurgie in der Raphaelsklinik Münster.