- Fachartikel
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- Dr. Petra Plößer
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- 25.02.2008
Rückenschmerzen
Rückenschmerzen und langweilig? Von wegen. Die Behandlung von Rückenschmerzen erfordert viel Fingerspitzengefühl und Fachwissen. Dass Rückenschmerzen ein spannendes Thema sind und höchste Ansprüche an Ärzte stellt, bewies das Symposium "Chronische Rückenschmerzen" auf dem Kongress "Medizin 2004" in Stuttgart.
Rückenschmerzen sind die häufigste Beratungsursache im deutschen Praxisalltag und unlängst ein volkswirtschaftliches Problem: 20 Milliarden Euro - rund 1% des deutschen Bruttosozialprodukts - werden jährlich für Rückenschmerzpatienten ausgegeben. Dabei geht es nicht nur um die Kosten für Diagnostik und Behandlung, sondern auch um Folgekosten, die aufgrund von Arbeitsunfähigkeit und frühzeitiger Berentung entstehen.
Chronische Rückenschmerzen: ein Problem - viele Ursachen
Rückenschmerzpatienten klagen über unterschiedliche Schmerzen zwischen Nacken- und Beckenbereich. „Rückenschmerzen an sich sind aber keine Diagnose, sondern ein Symptomenkomplex“, so Prof. Dr. Marcus Schiltenwolf von der Orthopädischen Uniklinik Heidelberg. Denn chronische Rückenschmerzen können viele Ursachen haben: biologische, psychische und soziale Komponenten spielen dabei eine Rolle. Rückenschmerzpatienten benötigen daher eine umfassende medizinische Betreuung. Orthopäden, Neurologen und Psychothera-peuten sind gleichermaßen gefragt. Erst wenn klar ist, woher die Schmerzen kommen, kann richtig vorgebeugt und gezielt behandelt werden.Chronische Rückenschmerzen: ein biopsychosoziales Problem!
Biologische Faktoren nur bedingt verantwortlich
Körpergröße, Körpermassenindex, falsche Haltung, anlagebedingte Störungen des Wirbelsäulenaufbaus, altersbedingte Verschleißer-scheinungen? Biologische Faktoren als alleinige Urheber von Rückenschmerzen sind Schnee von gestern. Heute weiß man, dass nur ein geringer Anteil von chronischen Rückenschmerzen durch biologische Faktoren ausgelöst wird. Denn obwohl die Verschleißerscheinungen ab dem 60. Lebensjahr zunehmen, nimmt die Anzahl der Rückenschmerzpatienten ab diesem Lebensalter ab.
Biologische Faktoren sind nicht allein verantwortlich!
Viele Rückenschmerzen werden auch durch sogenannte Triggerpunkte verursacht, die sich häufig im Schulterbereich befinden.Triggerpunkte sind kleine druckschmerzhafte Knoten in der Muskulatur und können Schmerzen in weit entfernte Gebiete weiterleiten. Der Druck auf einen Triggerpunkt im Schulterbereich kann zu einem ausstrahlenden Schmerz in den Hinterkopf bis hin zur Stirn führen.
Monotone Haltungsarbeiten, z. B. die Arbeit an einem Computer, muskuläre Überanspruchungen mit kurzfristiger maximaler Muskelanspannung, aber auch körperliche Inaktivität, Streß sowie Infekte begünstigen das Auftreten von Triggerpunkten. Ein durch Triggerpunkte ausgelöster Rückenschmerz kann bis ins Bein hineinstrahlen und einem durch einen Bandscheibenvorfall hervorgerufenen Schmerz täuschend ähnlich sein.
Triggerpunkte sind in etwa 80% identisch mit den Akupunkturpunkten der chinesischen Medizin.
Körperliche Bewegung ist gesund, stärkt den Rücken und hilft chronischen Rückenschmerzen vorzubeugen. Hat sich der Mensch vor Jahrzehnten im Durchschnitt noch 20 km pro Tag bewegt, kommt er heute gerade mal auf 900 m. „Ein Großteil unserer Gesellschaft verbringt den Tag fast nur noch im Sitzen. Das betrifft nicht nur berufstätige Erwachsene, auch Kinder bewegen sich immer weniger und sitzen stundenlang vor Fernseher und Computer anstatt draußen herumzutollen“, so Frau Dahl von der Landesärztekammer Stuttgart.
No brain, no pain!
Chronische Rückenschmerzen können psychosomatisch bedingt sein, zum Beispiel durch Somatisierungsstörungen, Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungen. Die Behandlung von chronischen Rückenschmerzen nach psychologischen Gesichtspunkten hat daher neue und wichtige therapeutische Möglichkeiten eröffnet.
„Manche Röntgenaufnahme und so manches Schichtröntgen sind schlichtweg überflüssig.
Ein nachgewiesener Bandscheibenvorfall oder auch sogenannte Verschleißerscheinungen sind schlicht und ergreifend nur ein Zufalls-befund“, meint Prof. Schiltenwolf.
„Bei der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen müssen neurologische sowie psychologische Aspekte berücksichtigt werden“, so Dr. Maier-Janson, Neurologe und Psychologe aus Ravensburg.
Auch soziale Faktoren müssen berücksichtigt werden. Die Patienten sind teilweise unzufrieden mit ihrem Arbeitsplatz oder haben Angst vor Stellenabbau. Krankheitsbedingter Arbeitsausfall stößt nicht unbedingt auf große Freude am Arbeitsplatz. Der drohende Arbeitsverlust kreist wie ein Damoklesschwert über dem Patient. Hinzu kommen die ständigen Besuche bei Arzt A, B oder C, immer auf der Suche nach demjenigen, der einem jetzt „richtig“ hilft. Sektorales Denken auf Seiten der Ärzte und das Dilemma der Patienten zwischen Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung begünstigen das Fortschreiten der chronischen Rückenschmerzen und führen häufig zu Arbeitsunfähigkeit und vorzeitiger Berentung.
Ergo: 80% der Gesamtaufwendungen für Rückenschmerzen entstehen durch soziale Folgekosten!
Wichtig ist auch der Umgang des Patienten mit dem Schmerz
Welche Gedanken habe ich bei Schmerz? Macht mir Schmerz Angst?
Rückenschmerzpatienten benötigen Hilfe beim Umgang mit der Belastung. „Chronischer Schmerz erscheint sinnlos, die Patienten suchen nach der Ursache. Sie suchen nach dem Grund für diese Strafe, die ihnen auferlegt wurde“, kommentiert Maier-Janson. „Gefühle der Angst und Enttäuschung, dass nichts hilft, führen oft zu Depressionen. Die Betroffenen bringen sich letztendlich um das, was ihnen wirklich hilft: positive soziale Kontakte. Zwischen Arzt und Patient sollte daher ein stabiles Arbeitsbündnis hergestellt werden. Ärzte sollten davon abkommen, Rückenschmerzpatienten angstbringende Diagnosen zu stellen. Sie sollten den Patienten Mut machen.“
Eine Diagnostik und Therapie nach biopsychosozialen Gesichtspunkten oder sogenannte Schmerzzentren sind in Deutschland noch nicht flächendeckend vorhanden.
Nicht vom Schmerzpatienten, sondern vom Therapeuten darf ein ganzheitliches Krankheitsverständnis erwartet werden!
Rückenschmerzen richtig behandeln!
Rückenschmerzpatienten werden geradezu mit Diagnosen überhäuft. Wichtig ist, dass der Arzt erkennt, ob es sich um gewöhnliche, radikuläre oder komplizierte Rückenschmerzen handelt.
Über 80% aller Patienten kommen mit unkomplizierten Rückenschmerzen zum Arzt. Rund 5% klagen über Rückenschmerzen, die beispielsweise bei einem Bandscheibenvorfall auftreten und sich durch Taubheitsgefühl und einseitigen Schmerzen im Bein bemerkbar machen. Diese Patienten sollten wenn möglich Bettruhe meiden und weiterhin körperlich aktiv bleiben, denn durch Bewegung verschwinden die Schmerzen meist von selbst. Einfache Schmerzmittel, lokale Wärme und evt. manuelle Therapie wirken unterstützend. Bei länger andauernden Beschwerden sind Krankengymnastik oder die Teilnahme an Rückenschulprogrammen nötig, die die Rückenmuskulatur stärken und die Beweglichkeit im Rücken fördern.
Etwa 1% der Patienten leiden unter komplizierten Rückenschmerzen. Wichtig ist, dass der behandelnde Arzt komplizierte Rückenschmerzen sofort erkennt und handelt. Warnhinweise auf komplizierte Rückenschmerzen sind die sogenannten red flags.
Red flags: Warnhinweise auf komplizierte Rückenschmerzen
- zusätzliches Fieber
- Lähmungserscheinungen an Blase, Mastdarm oder Beinen
- sich stark verschlimmernde Rückenschmerzen
- Erkrankungen wie Osteoporose und Krebs
- entzündliche rheumatische Erkrankung
Wenn nicht erkannt wird, woher die Rückenschmerzen kommen, kann das fatale Folgen für den Patienten haben. Oft erfolgen Operationen, in nicht seltenen Fällen fehlindizierte Eingriffe, so dass die Schmerzen nach der Operation schlimmer sind als vorher. Solch eine iatrogene - also durch ärztliche Behandlung entstandene - Chronifizierung soll gerade vermieden werden.
Medikamente sollten in der Rückenschmerztherapie nur eine unterstützende Funktion einnehmen!
„Oft werden Medikamente verschrieben, aber die sind nunmal kein Allheilmittel. Der Einsatz von Medikamenten wird oft überbewertet und spielt bei der Behandlung keine Rolle“, urteilt Schiltenwolf. „Häufig verlangen Patienten eine passive Behandlung, sprich Massagen, Spritzen und Antirheumatika. Dabei wird außer acht gelassen, dass es im Hinblick auf das Spritzen von Antirheumatika durchschnittlich 5 bis 10 Todesfälle pro Jahr gibt“, berichtet Prof. Niebling, niedergelassener Allgemeinarzt in Titisee und Lehrbeauftragter an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Chronische Rückenschmerzen
Erste Etappen einer Chronifizierung von Rückenschmerzen kennzeichnen sich durch länger anhaltende oder rezidivierende Schmerzen, Zunahme von Schmerzintensität, Ausdehung des Schmerzes. Von chronischen Rückenschmerzen sind in Deutschland mittlerweile 500.000 Menschen betroffen. Warnhinweise auf chronische Verläufe sind die sogenannten yellow flags.
Yellow flags: Warnhinweise auf chronische Verläufe
- anhaltende und wiederkehrende Beschwerden
- starke radikuläre Schmerzen (eingeklemmte Nerven)
- Arbeitsunfähigkeit für mehr als 4 bis 6 Wochen
- psychosoziale Faktoren wie berufliche Unzufriedenheit, anhaltende Belastungen im Alltag, starkes Schmerzerleben
Patienten mit chronischen Rückenschmerzen benötigen sogenannte multimodale Programme, die ein intensives Training, Physiotherapie und Rückenschule sowie Psycho- bzw. Verhaltenstherapie vorsehen.
Eine Chronifizierung von Rückenschmerzen wird nur dann in ausreichendem Maße einzudämmen sein, wenn sich die Behandlungsbedingungen verändern und Rückenschmerzen endlich als ganzheitliches Problem erkannt werden!
Was können Krankenkassen dazu beitragen?
Dr. Boesen, Geschäftsführer der Kassenärztlichen Vereinigung Nord-Württemberg, stellte klar, dass bezüglich Rückenschmerzen der Bürger normalerweise im Zentrum stehen sollte, bevor er zum Patienten wird. Die „Rückenschule“ im Rahmen der Primärprävention wurde 1995 im sogenannten „Präventionsvertrag“ aufgenommen, jedoch 1997 von der damaligen Regierung wieder aus dem Katalog gestrichen. Nur noch Personen mit chronischen Rückenschmerzen dürfen an der „Rückenschule“ teilnehmen. Da generell das Budget der Krankenkassen überstrapaziert ist, ist die Primärprävention problematisch. Finanzielle „Nischen“ könnte er sich durchaus vorstellen, sind aber schwierig umzusetzen.
Wie Herr Vogt von der Landesvertretung der Techniker Krankenkasse Baden-Württemberg, verweist auch Dr. Boesen auf das Modellprojekt “Interdisziplinäre Schmerzkonferenzen“, das momentan in Nord-Württemberg läuft. Das Modellprojekt ist auf eine gemeinsame Initiative der AOK Baden-Württemberg, der Techniker Krankenkasse und der Kassenärztlichen Vereinigung Nord-Württemberg hin entstanden. In interdisziplinären Schmerzkonferenzen arbeiten auf örtlicher Ebene neben dem behandelnden Haus- oder Facharzt speziell ausgebildete Schmerztherapeuten und weitere Ärzte wie beispielsweise Neurologen, Psychiater, Anästhesisten und Orthopäden sowie bei Bedarf auch Psychologen und Physiotherapeuten zusammen. Das Modellprojekt soll Klarheit bringen, ob und unter welchen Voraussetzungen interdisziplinäre Schmerzkonferenzen geeignet sind, die Behandlung und Schmerzpatienten zu verbessern, die Zahl der Klinikaufenthalte zu senken und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu vermindern.
Hilfen für Ärzte und Patienten
Verschiedene Organisationen haben sich mit dem Problem „Chronische Rückenschmerzen“ auseinander gesetzt und Leitlinien für Ärzte und Patienten erarbeitet.
Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) hat in diesem Zusammenhang die evidenzbasierte Leitlinie „Kreuzschmerzen“ herausgegeben, die wichtige Informationen für Patienten, Ärzte und Interessierte enthält.
Die Internationale Gesellschaft für Orthopädische Schmerztherapie (IGOST) hat bezüglich chronischer Rückenschmerzen eine Leitlinie für Orthopäden erarbeitet sowie einen Fragebogen für Patienten zusammengestellt.
Aktionsprogramm des Schmerzforums Baden-Württemberg
Das Schmerzforum Baden-Württemberg hat das Aktionsprogramm 2004 zur Verhinderung chronischer Rückenschmerzen ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Patienten über Rückenschmerzen und die verbesserten Möglichkeiten der Vorbeugung und Behandlung zu informieren. Das Aktionsprogramm wird von Ärzten, Krankenkassen, Kongressen, dem Sozialministerium, Medien sowie verschiedenen Firmen unterstützt.
Grundsätzlich gilt: Gegen Rückenschmerzen sollte möglichst früh etwas unternommen werden, um einer Chronifizierung vorzubeugen!
(Artikel erstellt im März 2004)