- Bericht
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- Prof. Dr. Dietrich Niethammer
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- 18.02.2016
Umgang mit schwer kranken Kindern – Du sollst nicht lügen!
Wenn ein Kind an einer tödlichen Krankheit leidet, versuchen Erwachsene oft die kleinen Patienten zu „beschützen“, indem sie vor ihnen die wahre Natur ihres Leidens verschleiern. Tatsächlich erreichen sie damit das Gegenteil: Die Kinder fühlen sich belogen, einsam und unverstanden. Der Kinderonkologe Prof. Dr. Dietrich Niethammer zeigt einen Ausweg aus dieser Sprachlosigkeit.
Es war 1964. Ich famulierte in einer Kinderklinik und erlebte eine Geschichte, die mich für mein Berufsleben prägen sollte: Jutta war zwölf. Ihr ganzer Körper war von einem bösartigen Tumor durchsetzt. Sie war schon so schwach, dass sie nicht mehr aufstehen konnte, sie war zum Skelett abgemagert und verweigerte jede Nahrung. Nur ihre großen dunklen Augen schienen noch zu leben. Sie richtete sie auf jeden Besucher, um dann rasch an ihm vorbei ins Leere zu sehen, wenn er sie ansprach. Jutta redete mit niemandem mehr, nicht mit den Ärzten, nicht mit den Schwestern und auch nicht mit ihren Eltern, wenn diese zweimal in der Woche zur Besuchszeit kamen und verzweifelt versuchten, Heiterkeit zu verbreiten.
Dieses Zimmer Nr. 3 war für uns alle unerträglich. Wir gingen nur hinein, wenn unsere Pflichten es verlangten, und verließen es dann fluchtartig wieder. Unsere Worte blieben uns immer öfter im Hals stecken. Eines Morgens war Jutta gestorben, ohne dass jemand bei ihr gewesen war. Die Nachtschwester hatte sie tot im Bett aufgefunden. Ich war erleichtert über ihren Tod – und schämte mich gleichzeitig für dieses Gefühl. Jutta war bereits im Schutze der Nacht von der Station weggebracht worden. Wir sprachen nicht mehr über sie. Es war, als ob es sie nie gegeben hätte.
Schweigen bis zum Tod?
Nach Juttas Tod war mir klar, dass da etwas falsch gelaufen war. Konnte es richtig sein, dass ein Mensch so völlig verlassen und einsam stirbt? Warum hatte das Mädchen mit keinem Menschen mehr kommuniziert? Meine Fragen blieben – zunächst – unbeantwortet. Das Thema Sterben kam damals im Studium nicht vor. Wir lernten nur, dass man todkranken Patienten nie reinen Wein über ihren Zustand einschenken dürfe. Schließlich dürfe man ihnen die Hoffnung nicht nehmen.
Daran änderte sich zunächst wenig: Als ich Anfang der 70er Jahre mit der Betreuung von krebskranken Kindern begann, wurde uns als Basis für ein Betreuungskonzept beigebracht, dass man Kindern nie ihre Diagnose mitteilt. Man beantwortet zwar Fragen. Über Sterben und Tod spricht man aber nicht. Grund für diese Verhaltensanweisung an uns war die damals gültige These Siegmund Freuds, dass Kinder nicht über den Tod nachdenken. Auch nachfolgende Forscher hatten diese Meinung vertreten. Also wichen wir im Umgang mit den Kindern der Wahrheit aus und belogen sie. Ich fühlte mich bei diesem Vorgehen schlecht, denn das ständige Ausweichen, Verschleiern und Beschönigen fiel mir schwer. Zudem erlebte ich weitere Kinder, die – ähnlich wie das bei Jutta passiert war – die Kommunikation mit ihren Eltern und uns weitgehend oder ganz einstellten.
Tabubruch Ehrlichkeit
Den Ausweg aus diesem Dilemma fand ich mithilfe von Regina. Es war 1973, als wir sie aufnahmen, ein zwölfjähriges Mädchen, das an einer akuten lymphoblastischen Leukämie erkrankt war. Regina war ein sehr fröhliches Kind, das sich eigentlich nicht krank fühlte. Die Chemotherapie war nicht sehr belastend. Nach der ersten Behandlung ging sie gut gelaunt nach Hause. Doch als sie wiederkam, war sie völlig verändert. Sie war verschlossen, redete nur das Notwendigste und grübelte meist vor sich hin. Versuche, mit ihr darüber ins Gespräch zu kommen, was sie bedrückte, scheiterten. Schließlich fragte ich die Eltern, ob denn mit ihrer Tochter zu Hause etwas Besonderes vorgefallen sei. Sie verneinten dies, berichteten aber, dass auch sie durch die Veränderungen in Reginas Verhalten sehr beunruhigt waren.
Schließlich konnte ich es nicht mehr ertragen und ich holte Regina in mein Zimmer. Damit brach ich ein Tabu, denn es gehörte sich nicht, dass ein junger Arzt alleine mit einem pubertierenden Mädchen in einem Zimmer war. Der zweite Tabubruch war aber weitaus schwerwiegender: Ich fragte sie ganz direkt: „Weißt du eigentlich, was du hast?“ Ich erinnere mich bis heute, welches Herzklopfen ich dabei hatte, denn ich wusste ja nicht, wie es weitergehen würde. Was hatte ich mir da nur eingebrockt! Regina sah mich direkt an und war offensichtlich überrascht. „Ja“, sagte sie ohne großes Zögern. „Also, was hast du?“, fragte ich weiter – und diese Frage kam mir schwer über die Lippen, denn nie zuvor hatte ich ein solches Gespräch mit einem Kind geführt. „Ich habe eine akute lymphatische Leukämie“, gab sie ruhig zur Antwort.
Jetzt kannte ich die Ursache ihres veränderten Verhaltens. Doch an diesem Punkt konnte ich das Gespräch unmöglich beenden. Wie sollte ich fortfahren? Um Zeit zu gewinnen, fragte ich sie, woher sie das wisse. „Am zweiten Tag wurde ich mit einer Schwester zum Röntgen geschickt. Und als wir dort warten mussten, habe ich auf dem Zettel, den sie in der Hand hatte, meinen Namen und die Diagnose gelesen.“ Ich fragte: „Dann hast du zu Hause nachgeschlagen und gelesen, dass du sterben musst?“ In den für Laien zugänglichen Medizinbüchern konnte man damals noch nichts von den Erfolgen der Behandlung lesen, die akute Leukämie war dort immer eine absolut tödliche Krankheit. Ihre Antwort war wieder ein kurzes „Ja“.
Jetzt wusste ich, wie ich weitermachen musste. Und so führte ich zum ersten Mal mit einem Kind ein Aufklärungs-gespräch über eine tödliche Erkrankung, dem in den nächsten Jahren noch viele folgen sollten. Ich redete nicht um die Tatsache herum, dass ihre Erkrankung in der Tat oft tödlich endet, informierte sie aber auch darüber, dass es Behandlungskonzepte mit einer echten Heilungschance gibt. Es wurde ein langes Gespräch. Die Einzelheiten waren eigentlich nichts Besonderes. Verblüffend war aber für mich, wie Regina herauszufinden versuchte, ob ich auch wirklich ehrlich war oder ob ich ihr nur etwas vormachte. Der Durchbruch kam wohl, als ich ihr versprach, ihr auch dann die Wahrheit zu sagen, wenn wir sehen würden, dass die Therapie nicht erfolgreich ist. Es war das erste Mal, dass ich einem Kind versprach, nie zu lügen.
Der virtuelle Vertrag: Du kannst mir vertrauen!
In den folgenden Tagen sprach ich oft mit meiner Patientin. Alle auf der Station bemerkten, dass Regina wieder zugänglicher wurde. Mir war durch diese Geschichte endgültig bewusst geworden, was wir den Kindern antaten, wenn wir sie belogen. Sie durchschauten uns ohnehin: Eltern und Ärzte mochten sich noch so sehr Mühe geben, Sorglosigkeit zu heucheln – sobald die Diagnose gestellt war, verriet ihre Reaktion den Kindern ganz klar, dass etwas Furchtbares im Gange war. Schnell begriffen sie, dass man ihren Fragen auswich und es deshalb keinen Sinn hatte, weitere zu stellen. Deswegen fragten sie nicht mehr – und die Ärzte interpretierten dieses scheinbare Desinteresse fälschlicherweise als Bestätigung für die These, dass Kinder über ihre Krankheit nicht nachdenken. Und so ließen wir die Kinder in ihrer Not allein.
Nach der Geschichte mit Regina beschlossen wir, die Kinder nicht mehr zu belügen. Prompt erlebten wir, dass sich fast regelhaft intensive Gespräche ergaben und die Kinder viele Fragen stellten. Und niemals mündete diese Offenheit in eine Katastrophe, wie von manchen vorausgesagt, und nie mehr hörte ein Kind vor dem Tod auf zu kommunizieren.
Aufgrund dieser positiven Erfahrungen schlossen wir von nun an immer einen „virtuellen Vertrag“ mit unseren Patienten. Gleich im ersten Gespräch versprachen wir ihnen:
- Du wirst immer alles erfahren, auch wenn es schlechte Nachrichten sind.
- Du kannst immer alles fragen.
- Wir werden nie lügen.
- Wir werden uns immer bemühen, dich und deine Eltern mit euren Problemen nicht alleine zu lassen.
Und mehr ist eigentlich nicht nötig. Wenn die Kinder gelernt haben, dass sich alle an diesen Vertrag halten, können sie sicher sein, dass ihre Eltern nicht mehr wissen als sie. Und wenn der Arzt sagt, dass alles in Ordnung ist, bekommt das für sie einen ganz anderen Stellenwert.
Grundregel: Eltern mit ins Boot
Natürlich muss man zunächst die Eltern davon überzeugen, dass dieses Vorgehen richtig ist. Keinesfalls darf man die Kinder hinter deren Rücken aufklären. Vielen Eltern fällt diese Einwilligung nicht leicht – sei es, weil sie anderes gelernt haben, sei es, weil sie Angst haben, dadurch Gespräche mit ihren Kindern führen zu müssen, denen sie sich nicht gewachsen fühlen, oder sei es, dass sie ihre Kinder vor schlimmen Fakten schützen wollen.
In der ersten Zeit, als ich meiner Sache noch nicht so sicher war, habe ich mich manchmal damit abgefunden, dass Eltern nicht einwilligten. Später, als ich von der Richtigkeit meines Vorgehens überzeugt war, bin ich dazu übergangen, die Behandlung von Kindern abzulehnen, bei denen diese Offenheit nicht hergestellt werden konnte. Vonseiten der Eltern konnte das zunächst zu Aggressionen führen. Auf der anderen Seite bestätigten mir Eltern und Kinder immer wieder, wie wichtig und entlastend diese Offenheit für sie war: Es gab keine unsichtbare Barriere. Sie konnten alles besprechen. Das übliche Theaterspiel, mit dem die Eltern ihren Kindern vorzumachen versuchten, dass alles nicht so schlimm sei, war nicht mehr nötig. Die Kinder ihrerseits mussten keine Kraft darauf verschwenden, vor ihren Eltern zu verbergen, dass sie mit ihrem Tod ohnehin rechnen. So musste keiner die einsame Sprachlosigkeit des jeweils anderen ertragen.
So viele Fragen ... hat ein Kind
Eine derartige offene Kommunikation ist natürlich auch dann besonders hilfreich, wenn schwierige Situationen auftreten, wie ein Rückfall der Erkrankung oder wenn sich abzeichnet, dass ein Kind nun tatsächlich bald sterben wird. Oft ahnen die Kinder ihre Situation schon, und durch das Gespräch wird ihr Wissen nur bestätigt. Ohne Zweifel ist es nie einfach, so ein Gespräch zu beginnen. Aber es muss sein, wenn man den Vertrag ernst nimmt.
Kinder, die wissen, dass sie sterben müssen, treiben viele Fragen um. Zum Beispiel: „Wie geht das Sterben vor sich, und wird es wehtun?“ Ich weiß noch, als mir ein achtjähriger Junge zum ersten Mal diese Frage gestellt hat. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und wollte Zeit gewinnen. „Ich bin noch nicht gestorben“, sagte ich. „Das weiß ich doch, aber was denkst du?“, war seine etwas ungeduldige nächste Frage. Und dann habe ich etwas gesagt, was ich noch vielen Kindern nach ihm sagen sollte: „Ich habe schon oft am Bett eines sterbenden Kindes gesessen, und ich hatte nie den Eindruck, dass es wehtat.“ „Das ist gut“, war seine erleichterte Reaktion.
Am besten ist es, wenn Kinder mit ihren Eltern über solche Fragen sprechen. Doch für diese ist das oft schwierig. Das ahnen die Kinder – und so wenden sie sich oft an andere Erwachsene, denen sie vertrauen. Trotzdem sollten wir alles versuchen, um den Dialog zwischen Eltern und Kind zu fördern, und uns nicht zwischen sie drängen. Den Kindern beizustehen, bedeutet auch Eltern und Geschwistern zu helfen. Nur wenn sie stabil bleiben, können die Kinder viel aushalten.
Aber auch für Ärzte ist die Situation nicht immer einfach. Medizinstudenten haben mich oft gefragt, wie man über-haupt die Kinderonkologie auf Dauer betreiben kann. Ich habe darauf immer geantwortet, dass es drei Dinge gibt, die hilfreich sind. Das Erste ist: Man muss lernen, wie Kinder und Eltern mit der Krankheit umgehen, welche Probleme sie haben und wie sie in den verschiedenen Situationen reagieren. Dann sind Sie als Arzt nur selten hilflos – und haben fast immer eine Idee, wie Sie helfen können.
Zweitens: Sie müssen lernen, die richtige Distanz zu dem kranken Kind einzuhalten. Es ist nicht Ihr eigenes Kind, das sterben muss. Aber es ist auch kein Unbekannter, es ist einfach Ihr Patient. Weder zu nah noch zu fern ist hilfreich für die Kinder, die Familien oder für Sie selbst.
Drittens: Sie brauchen eine gute Partnerschaft – oder zumindest stabile zwischenmenschliche Bindungen. Und wenn Sie doch drohen, in Ihrem eigenen Leid zu ertrinken, dann sollten Sie die Hilfe von einem erfahrenen Kollegen suchen, der Ihnen aus dem Tal heraushilft.
Prof. Dr. med. Dietrich Niethammer
Prof. Dr. med. Dietrich Niethammer war bis zu seiner Pensionierung 2005 Geschäftsführender Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Tübingen.
Kontakt: dietrich.niethammer@t-online.de