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- 26.04.2019
Auf der Spur der inneren Uhr
Wer nicht zur richtigen Zeit schläft, kann ernsthaft krank werden. Aber was ist die richtige Zeit? Daten aus Wearables geben Antworten.
Markus Steiner (Name von der Redaktion geändert)
weiß schon im Voraus, dass er am 31. März schlecht
gelaunt aufwachen wird. An diesem Wochenende findet
nämlich die Umstellung von Winter- auf Sommerzeit statt,
und sein Körper wird gegen den Verlust von einer Stunde Schlaf
wieder heftig rebellieren. „Ich brauche meist mehrere Wochen,
um mich halbwegs an die Zeitumstellung zu gewöhnen. Ich bin
jeden Morgen müde und gereizt. So richtig atme ich erst wieder
auf, wenn die Winterzeit anfängt“, sagt Steiner. Das liegt wohl
daran, dass er ein ausgeprägter Nachtmensch ist, im Volksmund
eine Eule. Er muss schon im Winter früher aufstehen, als es
seine innere Uhr vorgibt, und schlafen gehen, wenn er nicht
müde ist. Die Sommerzeit zwingt ihn, noch früher aufzustehen.
So schlecht ergeht es bei der Zeitumstellung nicht jedem.
Doch die doppelte Uhrenumstellung pro Jahr verschärft trotzdem
für Lerchen wie für Eulen und alle Misch-Chronotypen
dazwischen ein grundlegendes Problem: Schlafmangel. Für
Schlafforscher Matthew Walker von der University of California
Berkeley steht fest: Wer nicht genug und erholsam schläft, macht
sich auf Dauer krank, steigert sein Risiko für Krankheiten wie
Diabetes, Alzheimer, Depression und Krebs und verkürzt damit
seine Lebenszeit. Schlafen wir zu wenig, nehmen wir auch leichter
zu und torpedieren Abnehmversuche. Der Brite warnt seit
Jahren in launig präsentierten, aber eindringlichen
Vorträgen vor den Gefahren des Schlafmangels
und appelliert an Ärzte, statt Schlafmitteln
tatsächlich Schlaf zu verschreiben.
Die Studienlage ist so eindeutig, dass auch die Weltgesundheitsorganisation Schlafmangel zur Epidemie erklärt hat. Auch das im Alter nachlassende Erinnerungsvermögen könnte mit daran liegen, dass sich in dieser Zeit unser Schlaf signifikant verschlechtert, schreibt Walker im 2018 erschienenen „Das große Buch vom Schlaf“. Forscher kartierten, wie unsere innere Uhr tickt und wie wir immer mehr den Kontakt zu ihr verloren haben. Das moderne Leben mit seinem elektrischen Licht, der Schichtarbeit, dauernden Erreichbarkeit und den Möglichkeiten nächtlicher Unterhaltung haben uns aus dem Takt gebracht. Wir gehen bis zu zwei Stunden später ins Bett als unsere Vorfahren vor hundert Jahren. Das Problem Schlafmangel hat auch ernsthafte wirtschaftliche Konsequenzen: Weltweit verursacht Schlafmangel jährlich Schäden in Milliardenhöhe (USA: 411 Milliarden Dollar, Japan 138 Milliarden Dollar, Deutschland 60 Milliarden Dollar), schreibt Walker. Wie aber schlafen wir wieder besser? Diese Frage konnten Schlafforscher lange nur in Laboren stellen, in denen Probanden aufwendig verkabelt liegen mussten. Doch nicht alle Antworten lassen sich in einer so fremden Umgebung finden, sagt Chronobiologe Till Roenneberg von der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität. Er ist einer von Deutschlands bekanntesten Experten, wenn es um den circadianen, also den Tag umfassenden Rhythmus von Schlafen und Wachsein geht. Wie viel Schlaf man zum Beispiel braucht und wie man objektiv bestimmen kann, was gute Schlafqualität ausmacht, könne nur eine Langzeitvermessung des Schlafs im eigenen Bett erhellen. Der Blick in Millionen Schlafzimmer gelingt mithilfe von Wearables, also am Körper getragene Minicomputer. Auf diese Weise lassen sich Studien mit riesigen Probandenzahlen durchführen und gleichzeitig individuelle Lösungen für Schlafprobleme finden.
So konnten die Forscher beispielsweise den sogenannten
sozialen Jetlag quantifizieren. Gemeint ist die spätere Zubettgeh-
und Aufstehzeit am Wochenende. Das Ausschlafen mag
sich erholsam anfühlen, tatsächlich jedoch holt man damit das
Schlafdefizit nie ganz auf. Der Wearable-Anbieter Fitbit hat ihn
exakt beziffert: In den USA beträgt die Diskrepanz zwischen
Arbeitstagen und Wochenende im Schnitt 64 Minuten. Wer
am Wochenende gar zwei Stunden länger aufbleibt und genauso
viel länger ruht, schläft insgesamt weniger. Er büßt pro Nacht
eine halbe Stunde ein im Vergleich zu jemandem, der am Wochenende
nur 30 Minuten von der Wochenroutine abweicht.
Um gesünder zu schlafen, sollte man den Experten zufolge jeden
Tag einheitliche Zeiten einhalten.
Auch die von Forschern der University of Michigan entwickelte
Entrain-App hat Nützliches über das Schlafverhalten und
die Einflussgrößen auf die Schlafdauer ganzer Länder zutage
gefördert. Das Team von Daniel Forger untersuchte die Daten von 5000 Nutzern weltweit, die der App etwa ihre Schlafenszeit,
Lichtdauer – und ob natürlich oder künstlich – sowie die Beleuchtungsstärke
anvertrauten. Die Smartphone-Ergebnisse
bestätigten zwar viele Schlaflaborstudien, aber sie förderten
auch Überraschendes zutage.
Forger hatte erwartet, dass die Aufwachzeit durch soziologische
Signale und die Zubettgehzeit durch biologische Einflussgrößen
bestimmt werden. Seine Studie zeigte das genaue
Gegenteil. So gehen viele Brasilianer spät ins Bett, wachen aber
trotzdem zum Sonnenaufgang auf. Australier hingegen gehen
früher schlafen und wachen ebenfalls zur selben Zeit auf, bekommen
also mehr Schlaf. Offenbar beeinflussen nicht nur
künstliche Lichtquellen, sondern auch Gesellschaftsnormen die
Zubettgehzeit und damit die Schlafdauer.
Allerdings ist der Nutzerpool wohl nicht repräsentativ, da
im Verhältnis mehr jüngere Nutzer mit besserer Kaufkraft die
Entrain-App herunterladen. Denn der eigentliche Nutzen der
App ist ihr Versprechen an Reisende, sich schneller an die Zeitverschiebung
anzupassen. Die App nutzt dabei den Einfluss des
Lichts und gibt je nach Zeitzone vor, wie man sich den Lichtverhältnissen
des erreichten Reiseziels annähern soll. So kann sie etwa früher helles Licht empfehlen, wenn es am Ziel noch
Nacht ist, und weniger Licht bis Dunkelheit, wenn es dort noch
Tag ist. Auf diese Weise werden die Weck- und Schlafzeiten
graduell angeglichen.
Diese Möglichkeit sieht Schlafforscher Walker auch beim
sozialen Jetlag. Als ein Auslöser in der Kritik sind die LED-Bildschirme
elektronischer Gadgets. Sie zögern mit ihrem Blauanteil
das Müdewerden hinaus. Die Konsequenz sei aber nicht zwingend,
die Geräte aus dem Schlafzimmer zu verbannen. Diesen
Geist könne man kaum wieder in die Flasche stopfen. Bleibt
nur, die Technik zu unserem Vorteil zu nutzen. So gibt es für
Laptops und Smartphones Apps wie „f.lux“ und „Twilight“, die
den Blauanteil abends herunterfahren. Würde man zudem
Schlaftracker ins vernetzte Haus einbinden, könnte es für jedes
Zimmer die besten Schlafbedingungen ermitteln und etwa die
Licht- und Raumtemperatur passend einstellen.
Langsam entsteht so ein neues Bild über den menschlichen
Schlaf. Eine neue Generation von Wearables verspricht sogar,
klinisch relevante Ergebnisse zu liefern. Sogenannte „pro-sumer
wearables“ haben eine FDA-Zulassung und messen eine ganze
Reihe von Gesundheitsparametern. SleepImage zum Beispiel
soll die Schlafapnoe erkennen helfen. Bei dieser nachts wiederholt
auftretenden Atemstörung verschließt sich der Rachen,
sodass die Atmung aussetzt. Betroffene wachen trotz genügend
Stunden im Bett gerädert auf. Damit steigt etwa das Risiko
für Sekundenschlaf am Steuer. Um das Problem verlässlich zu diagnostizieren, ist die Messung der Bewegung im Schlaf und
der Zeitpunkt für Atemaussetzer zu wenig. SleepImage misst
deshalb auch Herzfrequenz, Atemvolumen und über Gewebevibrationen
das Schnarchen. Dafür bringen Nutzer einen Rekorder
über dem Herzen an sowie weiter unten über den Rippen
Elektroden. Zusammen erlauben die Parameter, vor allem das Verhältnis von Herz- und Atemfrequenz, eine genauere Kartierung
der Schlafphasen. Damit sollen Ärzte die Schlafapnoe
auch von anderen Krankheitsbildern abgrenzen können.
Langsam setzt sich zudem die Erkenntnis durch, dass sich
Schlaf nicht isoliert betrachten lässt. „Die Wissenschaft hat diesen
Fehler gemacht. Aber um objektive Kriterien dafür zu finden,
was gute Schlafqualität ist, reicht der Schlaf allein nicht“,
sagt Roenneberg. Es müsse auch die wach verbrachte Zeit berücksichtigt
werden. Roenneberg nennt das „Lichtverhalten“:
Wie viel Licht „holt man sich am Tag“, wie gut synchronisiert
man also seine innere Uhr mit dem Tag-Nacht-Wechsel.
Für Forscher wäre es daher ein Geschenk, könnten sie
Daten der Wearable-Hersteller und App-Anbieter nutzen, um
diese Zusammenhänge besser zu untersuchen. „Aber kein Hersteller
lässt mich an seine Rohdaten oder Berechnungen ran,
ich weiß deshalb nicht, ob sie stimmen“, sagt der Chronobiologe.
Also macht er sich daran, sein eigenes Wearable-Projekt aufzusetzen.
Schon heute berät Roenneberg Patienten mithilfe von Aktimeter und Lichtsensor. Dabei kann er mitunter auch vermeintliche
Schlafstörungen als völlig gesundes Schlafverhalten
entlarven. So suchte ihn etwa eine Frau auf, die stets um 20 Uhr
müde wurde; und egal wie spät sie ins Bett ging, immer um vier
Uhr morgens wach wurde. Nach der Datenauswertung war sich
Roenneberg sicher, einfach einen ungewöhnlichen Chronotyp
vor sich zu haben, und empfahl ihr, ihrer Familie und Freunden
zu erklären, dass sie ihren Schönheitsschlaf eben früher brauche,
sonst werde sie krank.
Im Rahmen des groß angelegten „Human Sleep Project“ will
Roenneberg diesen Ansatz nun auf Millionen Probanden auf
der ganzen Welt ausweiten. Mit einem Beschleunigungs- und
einem Lichtsensor am Handgelenk will er sie bis zu sechs Wochen
lang beim Schlafen vermessen.
Als Vorarbeit hat Roennebergs Team bereits fast 300 000
Schlaf-Fragebögen über Schlafzeiten gesammelt, um zu bestimmen,
zu welchem Chronotyp die Probanden gehören. In der
zweiten Phase kommen gerade Online-Schlaftagebücher hinzu,
die etwa Wachzeiten und die subjektive Schlafqualität protokollieren.
In der dritten Phase will er mit den Sensoren prüfen,
wie gut Selbstauskünfte und die gemessenen Daten zusammenpassen.
Anhand von mehr als 140 Schlaf- und Umweltparametern
will er so ein objektives Maß für die Schlafqualität finden.
Mit einfachen Spielen auf dem Handy oder Zeichenaufgaben
ließen sich kognitive und motorische Fähigkeiten testen, etwa
Erinnerungsvermögen, Konzentrationsfähigkeit und Feinmotorik.
So ließe sich feststellen, welchen Einfluss das Schlafverhalten auf die Fähigkeiten hat und welche Schlafparameter aussagekräftig
sind. „Wir brauchen ein Bewusstsein für Chronotypen,
genauso wie wir eins dafür entwickelt haben, dass manche
Menschen kein Fleisch essen“, sagt der Forscher.
Mehr noch: Dem Bewusstsein müssten Taten folgen. Millionen Menschen spüren tagtäglich, dass ihre biologische Uhr anders
tickt. Aber die Möglichkeiten, sich nach ihr zu richten, sind
oft begrenzt. Ein Beispiel dafür ist das ewige Thema Zeitumstellung.
Die Europäische Union schlägt vor, die Sommerzeit aufs
ganze Jahr auszuweiten. „Das wäre eine Katastrophe“, schimpft
Roenneberg. Das Gegenteil sei sinnvoll, nämlich ganzjährig zur
Winterzeit zurückzukehren. Aber seine Kritik am Zeitmanagement
der Politik ist viel weitreichender: Die Zeitzonen in
Europa seien völlig durcheinandergeraten. Derzeit müssten sich
etwa Spanien und Frankreich, die im selben Längengrad-Bereich
wie Großbritannien liegen, trotzdem nach dem Sonnenstand
von Deutschland richten. Zur Sommerzeit verschärfe sich das
Problem sogar noch um eine Stunde. Die Lösung wäre, die Länder
gemäß ihrer Chronobiologie einer Zeitzone zuzuordnen. Auf diese Weise wäre die Abweichung der sozialen
Zeit zum Sonnenstand nirgendwo mehr als eine halbe
Stunde. Das würde nicht nur Gesundheitsprobleme lösen,
sondern als Bonus auch den Schlaf verbessern.
Medizin, die mit der Zeit geht
Neben Schlafen und Wachsein unterliegen
auch Körperfunktionen wie der Blutdruck, die
Aktivität von Enzymen, das Ablesen von
Genen und die Ausschüttung von Hormonen
einem eigenen Rhythmus. Sie folgen meist
einem 24-Stunden-Muster. Medikamente
wirken also nicht immer gleich. Je nachdem,
wann etwa die sie abbauenden Leberenzyme
ihre aktivste Phase haben, können sie doppelt
so gut wirken, einfach verpuffen oder sogar
Schaden anrichten.
Bis vor zehn Jahren gab es
gegen diese Chronomedizin
viel Widerstand, weil Ärzte
sie für ein Randphänomen
hielten. Das aber ändert
sich gerade durch eine
wachsende Zahl von
klinischen Studien.
Krebsforscher suchen
etwa nach Uhrzeiten,
zu denen sich nur
Krebszellen, nicht
aber die gesunden Körperzellen teilen.
Dann lässt sich bei
besserer Wirksamkeit
die Wirkstoffmenge
senken und so Nebenwirkungen minimieren. In
einer Studie behandelte Francis
Lévi von der britischen Warwick Medical School Darmkrebspatienten
entweder passend zu ihrem circadianen
Rhythmus oder zu zufälligen Zeiten. In der
ersten Gruppe sprach mehr als die Hälfte der
Probanden auf die Therapie an, bei der
Kontrollgruppe nur 29 Prozent.
In einer weiteren Studie stellte Robert Dallmans Team von der University of Warwick in Mausversuchen fest, dass das Schmerzmittel Paracetamol bei abendlicher Gabe Leberschäden verursachte, während es morgens problemlos wirkte. Wie sich herausstellte, häufte sich bei den Nagern eine giftige Substanz an. Sie entsteht, wenn das Leberenzym CYP2E1 das Paracetamol abbaut. Abends ist das Enzym besonders aktiv. Morgens verläuft der Abbau problemlos, weil ein Antioxidans die giftige Zwischenstufe entschärft. Beim Menschen ist das Enzym genau umgekehrt morgens sehr aktiv. Die Ergebnisse legen nahe, dass man Paracetamol morgens wohl nicht einnehmen sollte.
Bis die Chronotherapie
etabliert ist, dürfte es trotzdem
noch dauern. Auf jede erfolgreiche Studie kommen
welche mit widersprüchlichen
Ergebnissen. Ein
Grund könnte sein, dass
nicht alle Prozesse einem
24-Stunden-Rhythmus
folgen. Umso wichtiger ist
es zu wissen, welche einen
genauen Tagesablauf
haben. John Hogenesch von
der Univer sity of Pennsylvania
nahm die Zielproteine
der 100 meistverschriebenen
US-Medikamente unter die Lupe.
Mehr als die Hälfte der Proteine
hatte einen präzisen Rhythmus. Bei
ihnen hätte eine feste Uhrzeit für die
Medikamentengabe die größte Aussicht auf
Erfolg.
Literatur
Matthew Walker: „Das große Buch vom
Schlaf“, 2018, Goldmann Verlag, 13 Euro
Till Roenneberg: „Das Recht auf Schlaf“,
2019, dtv, 20 Euro
Dies ist ein Artikel aus der Technology Review