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- KATJA RIDDERBUSCH
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- 15.07.2019
Besuch in der Körperfabrik
Eine US-Firma baut täuschend echte Dummys für die medizinische Ausbildung – und trifft damit auf eine Marktlücke.
Herz, Leber, Gehirn. Sehnen, Muskeln, Nervenstränge. Haut und Fett, Schädel und Schlüsselbein, Arterien und Venen, Zungen. Wer das unauffällige Gebäude am Rand von Tampa in Florida betritt, in der Nähe einer breiten Ausfallstraße zwischen Lagerhäusern und Datenzentren, muss sich wappnen. Er landet in einer irren Mischung aus kreativer Requisiten-Werkstatt, surrealer Klonmanufaktur und Frankensteins Labor.
Auf Regalen reihen sich Gussformen und Abdrucke von Körperteilen. Dutzende von 3D-Druckern surren geschäftig. Eine Halle weiter werkeln Mitarbeiter, die meisten jung, mit Tattoos, Piercings und Headphones, an Knochen, Muskeln, Blutgefäßen und Organen – mit Pinseln, Schabern, Pinzetten und Lötlampen. Auf den Tischen stehen Kochtöpfe, rote, braune und gelbe Flüssigkeiten schwappen über die Ränder. Daneben liegt, auf Küchenpapier, ein Gehirn, milchig weiß und feucht, mit dunkelrot schimmernden Adern.
Es gibt kaum ein Organ oder Gewebe, das Christopher Sakezles in seinem Labor nicht herstellen kann – bis hin zum kompletten Menschen, und das alles aus Wasser, Salz und Faserstoffen. Er ist Gründer und CEO von SynDaver Labs und Schöpfer synthetischer Menschenkörper. Er baut nicht etwa Requisiten für Hollywood (auch wenn sein künstlicher Mensch Gastauftritte bei „Grey’s Anatomy“ und anderen US-Fernsehserien hatte), sondern für die Wissenschaft. Seine Produkte kommen bei der Ausbildung von Ärzten, Pflegern und Sanitätern zum Einsatz sowie in der Forschung.
SynDaver ist nicht das erste und nicht das einzige Unternehmen, das anatomische Modelle, animierte Trainingspuppen und interaktive Simulatoren entwickelt. Unter den Wettbewerbern sind das norwegische Unternehmen Laerdal und 3B Scientific aus Deutschland. Doch SynDaver behauptet von sich, „fundamental anders“ zu arbeiten. Da ist durchaus etwas dran. „Wir bauen echtes Gewebe in seinen zahlreichen und komplexen Details nach“, so Sakezles. Und zwar möglichst so, dass die Kopie nicht nur so aussieht und sich so anfühlt, sondern vor allem: sich auch so verhält wie das Original. Der Name SynDaver, eine Kurzform von „synthetischer Kadaver“, sei eigentlich nicht ganz richtig, sagt Sakezles, denn die Produkte wollten keine Toten nach bauen, sondern Lebende.
Sakezles (sprich: Säkelies) – 53, groß, jungenhafter Typ –
trägt einen dunkelblauen OP-Kittel und weiße Sportsocken.
Schuhe wird er den ganzen Besuch über nicht anziehen. Er ist selbstsicher auf eine lakonische Weise, hat entweder ein sehr
ernstes Naturell oder einen staubtrockenen Humor. Jedenfalls
ist ihm während des Gesprächs kaum ein Lachen zu entlocken.
Andererseits: Was ist schon lustig an einem Produktkatalog
mit mehr als 200 Einzelteilen menschlicher oder tierischer Körper?
Bestellen kann man Fettlappen für 39 Dollar, eine Herzklappe
für 198 Dollar, einen Dickdarm für 499 Dollar, einen
Satz arterieller Blutgefäße für 5500 Dollar und – als Flaggschiff
– komplette synthetische Menschen. Sie kosten zwischen 70 000
und 180 000 Dollar und kommen je nach Bedarf als anatomische
oder chirurgische Teil- oder Ganzkörpermodelle, als Mann oder
Frau, Hund oder Katze, mit oder ohne Haut.
Sie haben Skelett, Muskeln, Organe, Sehnen, Nerven und Blutgefäße. Modelle für das Training von Operationen und für die Notfallversorgung haben dank integrierter Pumpen und Sensoren einen Herzschlag und einen Blutdruck, sie können atmen, bluten und mithilfe einer Software, die auf verschiedene Szenarien programmiert ist, in einen Schockzustand fallen.
Neben den Katalogprodukten fertigt
SynDaver auch maßgeschneiderte Körperteile,
oft hochspezialisierte Auftragsarbeiten.
Gerade entwickelte das Unternehmen für die Harvard-
Universität ein weibliches Becken im Zustand
unmittelbar nach der Geburt, zum Test neuartiger Ballonkatheter zur Behandlung von Gebärmutterblutungen. „Selbst
hochwertige Standardmodelle helfen uns dabei nicht“, sagt Projektleiter
Thomas Burke, Notfallmediziner am Massachusetts
General Hospital in Boston, dem Lehrkrankenhaus von Harvard.
Deshalb beauftragte er SynDaver. Sein Urteil: „Das synthetische
Gebärmuttergewebe fühlt sich fast unheimlich echt an.“
Die Idee für seine Firma kam Sakezles am Ende seines Studiums.
Der Ingenieur mit Schwerpunkt Werkstoff- und Polymerwissenschaften
arbeitete an der Entwicklung eines neuartigen Intubationsschlauchs. Die künstliche Luftröhre, die sein
Doktorvater bestellte, sei „ein Witz“ gewesen: eine Röhre aus
Hartplastik, völlig unbrauchbar, um das Gerät halbwegs realistisch
zu testen. Er entwickelte sein eigenes Modell aus Kunststofffasern.
Aber erst nach einem Intermezzo als Angestellter
verschiedener medizintechnischer Firmen machte er sich selbstständig
und begann, synthetische Gewebe zu entwickeln.
In den ersten Jahren arbeitete er allein, in einer Garage zwischen Werkbank und Waschmaschine, hielt sich mit Kleinkrediten von Freunden und Familienmitgliedern über Wasser. 2009 fühlte er sich schließlich bereit, SynDaver zu gründen und Mitarbeiter anzuheuern. Die ersten Kunden waren medizintechnische Unternehmen, aber im Laufe der Jahre kamen immer mehr Colleges und Universitäten hinzu, darunter Harvard, Yale und Stanford. Außerdem das US-Militär. Heute hat SynDaver gut 100 Mitarbeiter. Unter ihnen sind neben Ingenieuren, Chemikern, Betriebswirten und Sanitätern auch ein Veterinär sowie Künstler und Designer.
Der Umsatz des Unternehmens wächst Sakezles zufolge jedes Jahr um 60 Prozent, und in ein paar Jahren will er an die Börse gehen. Wie sie hergestellt werden und aus welchen Bestandteilen die synthetischen Gewebe genau bestehen, ist Betriebsgeheimnis. „Wasser, Salz und Kunstfaserstoffe“ lautet Sakezles’ Standardformel. Alle Gewebe seien im Prinzip aus Verbundmaterial gefertigt, sagt er. Die Zusammensetzung richte sich nach den physikalischen Eigenschaften des Originals und danach, wozu das Gewebe dienen soll: „Ist es besonderem Druck ausgesetzt, soll es dehnbar, abrieb- und einstichfest sein?“
Als er durch die Fabrik führt, trägt er noch immer keine
Schuhe. In Metallregalen stehen Plastikboxen mit aufgeklebten
Labeln – „Mägen“ steht auf einem Schild, „Gallenblasen“, „Patellasehnen“
und „Serratusmuskeln“ auf anderen. Bereit für die
Endmontage, schwimmen in grünen Plastikwannen Arme,
Oberschenkel, Füße, Köpfe. An einem langen Tisch näht eine
junge Frau im roten Kapuzenpulli mit dicken gelben Fäden
Muskel um Muskel an ein Skelett.
Spätestens am Ende der Tour hat man vergessen, dass hier ausschließlich synthetische Menschen gefertigt werden. Und genau so soll es sein. „Wenn die Leute nicht schaudern, wenn sie mit unseren Produkten in Berührung kommen, haben wir unseren Job nicht gut gemacht“, findet Ole Oleson, leitender Ingenieur bei SynDaver und der erste Mitarbeiter, den Sakezles einstellte. Oleson, 40, mit Pferdeschwanz, Hipster-Bart und lustigen Augen, ist von Haus aus Veterinärtechniker und war mehrere Jahre lang bei der Küstenwache. Er findet, dass „eine emotionale und auch körperliche Stressreaktion wichtig für eine realistische Simulation ist“, vor allem bei der Ausbildung von Chirurgen, Notfallmedizinern und Militärsanitätern.
Er erinnert sich an eines seiner ersten Trainingsmodelle. Oleson hatte dem Dummy für einen Testlauf mit dem Kunden, der US-Armee, eine Uniform angezogen. Als die Atmung flacher wurde, der Puls langsamer und die Pupillen starrer, als der Dummy „starb“, musste Oleson für einen Moment aus dem Raum gehen. „Niemand wusste besser als ich, wie fake die Szene war“, sagt er. „Aber es hat mich trotzdem getroffen.“ Das Ziel ist es, menschliche Leichen und lebende Tiere für die medizinische Ausbildung und medizintechnische Forschung weitgehend durch synthetische Körper zu ersetzen. „Weil synthetische Körper auf Sicht billiger sind, weil man sie reparieren und reproduzieren kann“, sagt Sakezles. „Aber vor allem, weil sie einfach besser sind.“
Nicht jeder teilt diese Einschätzung. Mag sein, dass synthetisch
Modelle beim Notfalltraining und für Chirurgen ihre Funktion haben, sagt Callum Ross, Anatomieprofessor an der Universität
von Chicago. Aber in Präparierkursen für Medizinstudenten
könne selbst das raffinierteste Modell nicht abbilden, was
ein künftiger Arzt lernen müsse: „Dass der Mensch in Variationen
kommt. Dass jeder anders ist. Dass das Innere eines Menschen
nicht so ordentlich ist wie die Zeichnungen im Anatomiebuch“
– oder eben ein synthetischer Körper. Hinzu kommt: Das
Sezieren von Toten sei ein Schlüsselerlebnis für Studenten. „Sie
müssen sich ihrem Unbehagen stellen“, sagt Ross.
Menschliche Leichen sind allerdings knapp. In vielen Teilen der USA ist die Zahl der Spenderkörper rückläufig. Ferner muss ein Anatomielabor für das Sezieren menschlicher Leichen, die mit Chemikalien wie Formaldehyd konserviert wurden, spezielle Ventilationssysteme haben. Eine echte Leiche ist mit etwa 2000 Dollar zwar immer noch deutlich billiger als die von SynDaver. Aber bei guter Pflege – die Körper müssen stets feucht gelagert werden – „können wir synthetische Kadaver immer wieder verwenden“, sagt Mary McDade, Lehrbeauftragte für Biologie an der University of Northern Iowa. Das ist bei echten Leichen nicht der Fall. Auch werden bei anatomischen Ganzkörpermodellen die Organe nicht zerschnitten, sondern lassen sich an vorbereiteten Nahtstellen aus dem Körper trennen und anschließend wieder einsetzen. Wenn ein Körperteil kaputtgeht, wird es repariert. Ersatzteile lassen sich nachbestellen.
Hinzu kommt, dass „die meisten meiner Studenten sehr jung sind“,sagt McDade. Einige wollen Krankenpfleger oder Physiotherapeut werden, andere belegen Vorbereitungskurse für ein Medizinstudium. „Sie sind mental häufig noch nicht bereit, an einer menschlichen Leiche zu lernen.“ Für ihre Anfängerkurse in Anatomie hat McDade daher vier Ganzkörpermodelle bestellt: Fred, Gomer, Daphne und Eliza. SynDaver versieht alle seine Ganzkörpermodelle mit Namensschildern, die an den Fußgelenken baumeln.
Die Vorteile der künstlichen Körper nutzt
auch Galina Hayes, Veterinärmedizinerin an der
Cornell University in New York. Sie arbeitet mit
einem SynDaver-Hund sowie zwei Unterleibssimulatoren und ordert zu Beginn eines jeden Semesters
je einen Satz Mägen und Därme. „Die Studenten
üben daran die gängigsten Operationen
beim Hund“ – etwa wenn ein verschluckter Gegenstand
chirurgisch aus Magen oder Dünndarm entfernt
werden muss. Wenn sich mehrere Studenten
an dem Eingriff versucht haben, sind Magen und
Darm zerstört, und Hayes tauscht die Organe aus.
Sie habe viele Jahre lang mit Kadavern gearbeitet.
„Meiner Meinung nach simulieren die synthetischen
Körper lebendes Gewebe besser als echte
Kadaver.“ Weil Leichen chemisch präpariert werden
müssen, sind ihre Muskeln häufig härter, das
Gewebe ist zäher. Viele von Hayes’ Kollegen aus
der Humanmedizin sehen das ähnlich. In der Realität
sollen Chirurgen schließlich an lebenden
Patienten operieren und nicht an toten, meint
Christopher Sakezles und verzieht den Mund endlich
zu einem dünnen Lächeln.
Dies ist ein Artikel aus der Technology Review