- Bericht
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- Maren Hönig
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- 23.03.2022
Mein erster Nachtdienst in der Gynäkologie
Als Famulant*in am Nachtdienst teilzunehmen ist meist kein Standard. Da die meisten Babys aber eher in den Abendstunden zur Welt kommen, wollte ich mir diese Gelegenheit in meiner Gyn-Famulatur nicht entgehen lassen. Meine Erwartung? Vielleicht zwei Geburten, ein paar Notfälle mit „Jucken und Beißen“, bisschen Kaffeetrinken, eventuell sogar mal ein kleines Nickerchen machen. Die Realität? Lest selbst, wie turbulent es war.
„Das Kind ist tot“, sagt die junge Assistenzärztin und blickt mir in die Augen. Mein Magen krampft sich zusammen, wir beide scheinen gleichzeitig die Luft anzuhalten, während ich das Gefühl habe, dass die Zeit für einen Moment stehen bleibt. Doch die digitale Uhr über uns an der Wand schlägt just in diesem Moment gnadenlos von 00:43 Uhr auf 00:44 Uhr. Ich starre auf die roten Ziffern und mein Kopf ist leer.
Da macht die Ärztin neben mir einen Schritt ins Arztbüro, sodass wir nicht mehr planlos auf dem Flur herumstehen. Wie betäubt folge ich ihr, wir setzen uns nebeneinander vor unsere Computer, an denen wir noch vor zwei Stunden unter Witzeleien und mit dem ersten Kaffee der Nacht Austrittsberichte fertiggestellt haben.
„Es ist tot. Oh Gott“, sagt sie noch einmal.
„Ja, ich habe während des Schallens auch schon gedacht, dass da etwas ganz und gar nicht stimmt“, finde ich nun endlich meine Worte wieder.
„Ich werde jetzt die Oberärztin anrufen, sie soll vorbeikommen und in Ruhe mit der Familie sprechen, damit jemand da ist, der nicht mitten im Gespräch zu einem Notfall gerufen werden kann.“ Stumm verfolge ich den Anruf mit der Oberärztin, die sich sogleich auf den Weg macht.
Langsam fassen wir uns beide wieder und die Assistenzärztin fährt fort: „Ich habe noch nie einen IUFT (intrauterinen Fruchttod) diagnostiziert. Nun ja…
Dann geht sie über zur nächsten Patientin. Frau B. wird vermutlich bald einen Kaiserschnitt brauchen, wenn das CTG weiterhin solche Dezelerationen zeigt und sie so langsam nicht mehr Mithilfe beim Gebären an den Tag legt.“
Back to Business, denke ich und versuche mich an die anderen Patientinnen zu erinnern, die wir diese Nacht bereits auf dem Notfall gesehen haben und diejenigen, die mit Wehen bei uns im Gebärsaal liegen und innerhalb der nächsten Stunden ihren Nachwuchs zur Welt bringen werden.
Die Patientin mit bakterieller Vaginose von 20:53 Uhr und danach diejenige mit Hyperemesis gravidarum, bei der wir gerade das Rezept ausstellten, als der Anruf kam, scheinen mir ewig weit weg. In Gedanken gehe ich alles noch mal durch.
00:21 Uhr: Die Hebamme ruft auf dem Diensttelefon an und teilt uns mit, dass sie beim Versuch das CTG anzulegen die Herztöne des Kindes nicht finden kann und wir schnellstmöglich, aber ohne der Patientin Aufregung zu vermitteln, einen Ultraschall machen sollen. Die Schwangere in der 39+6. Woche war wegen einsetzender Wehen und heftiger Kindsbewegungen gekommen. Letzter spüre sie seit der Autofahrt ins Spital aber nicht mehr wirklich.
Unser Stichwort ist „abnehmende Kindsbewegungen“. Wir sprinten sofort ein Stockwerk höher zu der werdenden Mutter und machen den standardisierten Ultraschall des Babys. Während ich versuche, die üblichen Strukturen zu erkennen, das pumpende Herzchen zu sehen und warte, dass die Ärztin auch nur das geringste Dopplersignal von den Nabelschnurgefäßen ableiten kann, erzählt uns die Frau, dass ihre beiden Töchter sich schon sehr auf ihr Brüderchen freuen. Ihr Mann hält ihre Hand, lächelt und strahlt eine angenehme Ruhe aus. Vermutlich, weil er schon weiß, was ihn beim dritten Kind erwartet.
Mit Blick auf den Bildschirm des Sono-Gerätes wird mir in diesem Moment allerdings langsam klar, dass er nichts mehr zu erwarten hat.
Zurück im Hier und Jetzt spüre ich wieder das flaue Gefühl in meiner Magengegend, doch des Nachts alleine (bzw. durch meine Anwesenheit zu ein-einhalbt) den Gebärsaal und die gynäkologische Station zu betreuen, lässt nun mal keine Zeit für große Gefühle. Ich bewundere, wie die junge Assistenzärztin den Fall des intrauterinen Fruchttods an die gerufene Oberärztin abgibt und ihre gedankliche To-do Liste für die Nacht weiterverfolgt. Nächster Punkt in diesem Fall: Frau B. mit dem schlechten CTG und vermeintlichen Geburtsstillstand. Mein erstes Learning nach fünf Stunden Nachtdienst: The show must go on!
03:25 Uhr: Plötzlich stehe ich allein im Gebärsaal 2. Welche Verkettungen genau dazu geführt haben, verschwimmt in meiner Erinnerung komplett. Die Patientin mit dem IUFT, zu der meine Gedanken immer wieder abdriften, wird von der Oberärztin und einer Hebamme betreut und bekommt vermutlich gerade Infos über psychologische Unterstützung sowie die Aufklärung darüber, dass sie ihr Ungeborenes tot zur Welt bringen muss.
Die Assistenzärztin, die ich diese Woche im Nachtdienst begleite, befindet sich nun tatsächlich mit dem aus dem Hintergrund-Dienst gerufenen Oberarzt im OP bei der Not-Sectio von Frau B. und die zweite Nacht-Hebamme ist bei einer Geburt in Saal 1. Übrig geblieben bin also nur noch ich für die 20-jährige Erst-Gravida in Zimmer 2.
Vor mir liegt die Schwangere in Heavy-Metal-Shirt und pinker Blümchenunterhose. Mit ihren 3 cm langen, pinken Fingernägeln krallt sie sich am Bettgestell fest. Währenddessen fleht sie abwechselnd nach ihrer Mama und einer PDA. Ihre Stirn ist schweißnass. Am Kopf streicht ihr der Freund (ebenfalls im Heavy-Metal Dress) die Haare aus ihrem Gesicht. Jedoch sagt er kein Wort.
Die Situation erscheint mir surreal, doch ich zögere nicht und lege der Frau erst mal das CTG an. Wenigstens eine Sache, mit der ich mich in diesem Moment ein bisschen kompetent fühle. Glücklicherweise scheint immerhin das Baby froh und munter zu sein.
Der Vater des Kindes erweist sich bis auf das Zurückstreichen der Haare leider als absolut nicht hilfreich. Nicht nur, dass er kein einziges bestärkendes Wort an seine Partnerin richtet, ist doch tatsächlich sein einziger Satz in dieser Nacht: „Bin ich froh, dass ich das nicht machen muss“. Danke für… nichts!
„Also gut, Maren, dann bist du jetzt gefragt!“, in Gedanken gehe ich kurz meine Optionen durch: Hebamme 1 und Oberärztin sind beim IUFT, die kann ich auf gar keinen Fall um Hilfe fragen. In den OP zur Not-Sectio kann ich auch nicht einfach rennen. Bis aus dem Nebenzimmer kein Babygeschrei zu hören ist, kann ich Hebamme 2 eigentlich auch nicht von der laufenden Geburt herbeirufen … im schlimmsten Notfall sollte das aber gehen. Ok! Diese Sicherheit reicht mir.
Ich entledige mich meines Kittels (bis zu diesem Zeitpunkt der Nacht, war mir kalt gewesen) und sehe mich offiziell als dazu auserkoren, dieser Frau heute Nacht beim Gebären beizustehen.
Natürlich verliere ich weder ein Wort darüber, dass dies meine erste Spontangeburt ist, der ich beiwohne, noch, dass ich meine bisherige Expertise in Sachen Geburtshilfe einzig aus Filmen habe. Die Panik in den Augen der Frau, die jünger ist als ich, lasse ich also gar nicht erst in mir selbst aufkommen. Ich schaffe das! Oder eher sie… Sie schafft das! Das Baby schafft das! Generationen von Frauen haben das auch ohne Hebammen und Mediziner*innen geschafft, wieso also nicht heute sie und ich hier zu zweit? Let’s get it done!“
„Einatmen und laaaaaaang aus… Super machen Sie das!“
„Mamiii“, weint sie mir nur entgegen.
„Ich weiß, gleich kommt wieder eine Wehe, aber sie machen das hervorragend, superstark! Wir atmen gleich wieder gemeinsam ok? Ein…. Und auuuuuuus! Durchhalten! Bald halten Sie ihre Kleine auf den Armen!“ Während ich mit einem Auge immer das CTG überwache, verstreicht so die Zeit. Als würde ich den Trainingspartner beim Workout an seine Grenzen und drüber hinaus pushen, versuche ich sie immer weiter zu motivieren und habe das Gefühl, sie folgt mir. „Ja, genau so! Prima! Und noch mal ein… und auuuuuuuus“.
‚Was mache ich hier eigentlich?‘, denke ich nicht das einzige und letzte Mal in diesen frühen Morgenstunden.
06:00 Uhr: Mit einem vorgewärmten Handtuch bin ich die Erste, die das glitschige, winzige Wesen, mit dessen Mutter ich die letzten zweieinhalb Stunden geatmet habe, im Arm hält. „Zeitpunkt der Geburt: 6 Uhr“, sage ich über meine Schulter zu der Hebamme, die vor fünf Minuten endlich aus dem Nebenzimmer zu mir gestoßen ist und mir als zweite menschliche Beinstütze (Gott sei Dank!!!) im entscheidenden Moment zur Hilfe eilte.
Da kommt er auch schon, der erste Schrei des kleinen Mädchens und mit ihm ein erleichterndes Seufzen der Mutter. Ich hole ein kleines Mützchen und tausche das blutige gegen ein neues warmes Handtuch aus, bevor ich das Baby der frisch gebackenen Mama auf die Brust lege.
Anschließend bittet mich die Hebamme, die Plazenta mit ihr auf Vollständigkeit der Eihäute zu überprüfen. Plötzlich ist auch die Assistenzärztin wieder da und nimmt von der Hebamme ein Stück Nabelschnur entgegen, um deren pH-Wert zu messen.
Ich ergreife die Gelegenheit – nicht ohne mich mit einem verständigen Blick bei der Hebamme abzusichern – und verlasse gemeinsam mit der Ärztin das Zimmer.
Jetzt erst mal Durchatmen. Ein- und aus.
08:35 Uhr. Nach der Frühbesprechung mit dem Chefarzt und Übergabe an die (Ober-)Ärztinnen und (Ober-)Ärzte des Tagdienstes laufe ich durch den kühlen Morgen über den Spitalcampus zu meinem Wohnheim. Ich blinzele der Sonne entgegen und fühle mich viel zu aufgewühlt, um auch nur an Schlaf zu denken. Meine Gedanken überschlagen sich, vor allem darüber, wie nahe unendliche Trauer und unendliches Glück beieinanderliegen können. Ich staune, bin hin und weg und absolut begeistert von den Erfahrungen der vergangenen 13 Stunden. Erschöpft und zufrieden falle ich ins Bett, plötzlich übermannt mich doch die Müdigkeit und vorfreudig auf die kommende Nacht schlafe ich ein.